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ETHIK/017: Zerstörung der Ethik in Zeiten des Überflusses (PROVIEH)


PROVIEH Heft 2 - Juli 2008
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Betrachtungen zum Tierschutz
Zerstörung der Ethik in Zeiten des Überflusses

Von Prof. Dr. Sievert Lorenzen


Der Zinseszins führt uns ins Verderben, wenn wir ethische Normen missachten

Ein Leben wie im Paradies - wäre das nicht herrlich? Wir kennten keinen Unterschied zwischen gut und böse, wären unsterblich, immer gesund und jung, würden keine Nachkommen zeugen, wären frei von Sorgen und Verpflichtungen und könnten immer aus dem Vollen schöpfen. Immaterielle Wesen in einer immateriellen Welt könnten so leben - wir nicht.

Gesetzt den Fall, wir Menschen lebten trotz unserer Sterblichkeit paradiesisch auf Erden und würden Nachkommen zeugen. Wo in aller Welt sollten sie einen Platz zum paradiesischen Leben finden? Bei den Eltern kaum, das würde zu Konkurrenz um Ressourcen führen. Doch auch woanders wäre die Welt irgendwann voll mit Glückseligen, die keine Konkurrenz dulden. Spätestens dann wäre Schluss mit dem paradiesischen Leben. Das erfuhren Adam und Eva, als sie erwachsen wurden und außer dem Glück auch Konflikte, Schmerz, den Unterschied zwischen gut und böse und den tödlichen Bruderkrieg ihrer Söhne kennenlernten.

Für ein möglichst konfliktarmes Zusammenleben brauchen wir Menschen als soziale Wesen eine Ethik, die uns mit den Ursachen für gute und für schwere Zeiten in unserem Leben vertraut macht und hieraus verbindliche Normen für unser Wollen und Handeln ableitet. Zu ihnen gehört der kategorische Imperativ von Immanuel Kant, der im Volksmund heißt: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Andere Normen sind in den zehn Geboten des Alten Testaments angeführt. Grundsätzlich wichtig ist schließlich die Norm, für kurzfristige Ziele nicht die langfristige Lebensgrundlage unserer Gemeinschaft zu zerstören.

Die ethischen Normen einzuhalten, kostet Liebe, Kraft, Verzicht und Bescheidenheit. Doch verlockend ist immer wieder die Versuchung, den Normen auszuweichen, auch wenn die langfristigen Folgen verheerend sein können.


Das Zinseszins-Wachstum als Bedrohung der Ethik

Nehmen wir an, im Jahre null sei ein Euro zum jährlichen Zinssatz von 3,5 Prozent angelegt worden. Wie groß wäre das Kapital nach 2008 Jahren? Raten nützt nichts. Nach der Zinseszinsformel wäre es auf 1,0352008 = 1030 Euro angewachsen. Eine Milliarde Menschen könnten hiervon eine Milliarde Jahre lang täglich über eine Milliarde Euro pro Person ausgeben.

Man könnte das Rechenbeispiel als absurd bezeichnen, wenn es nicht aus prinzipiellen Gründen stets aktuell wäre. Nehmen wir an, die Menschheit wäre seit dem Jahre null jährlich um 1,5 Prozent exponentiell gewachsen, dann hätte sie bis jetzt das 1013-fache von damals erreicht. Das konnte nicht geschehen, weil in einer endlichen Welt jedes exponentielle Wachstum Drucke erzeugt, die zur Bildung von Gegendrucken führt. Diese können sehr heftig werden und Blut und Tränen kosten.

Diese Weisheit wird in Phasen des langen ununterbrochenen Wachstums leicht vergessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine solche Phase. Die Wirtschaft wuchs stürmisch um weit mehr als um magere 3,5 Prozent pro Jahr. Viele Arbeitskräfte wurden gesucht; riesige Energiequellen wurden erschlossen, riesige Urwälder wurden in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt; selbst entlegenste Fischgründe wurden ausgebeutet; durch Zucht wurden Nutzpflanzenrassen geschaffen, die auf viel Dünger mit schnellem Wachstum reagieren; Sommergetreide wurde durch ertragreicheres Wintergetreide ersetzt; durch Zucht wurden Nutztierrassen geschaffen, die Kraftfutter möglichst schnell in Fleisch, Eier oder Milch umwandeln; Nutztiere wurden auf engstem Raum zusammengepfercht, um Investitionskosten zu sparen. Kurz, die Grenzen des Wachstums wurden durch vielerlei Errungenschaften immer wieder in die Ferne gerückt. Die Weltbevölkerung konnte wachsen wie nie zuvor. Man gewöhnte sich an den Grundsatz: Gut ist, was Wachstum und Rendite schafft.

Doch mit den Erfolgen wuchsen auch die Probleme, die kaum noch zu bewältigen sind und unsere Nachkommen belasten werden. Zu den Problemen gehören gigantische Schuldenberge, die sich praktisch nicht mehr abtragen lassen, Umweltverschmutzung ungekannten Ausmaßes, Vernichtung riesiger Urwälder, die selbst in Jahrtausenden nicht wiedererstehen können, und Anfälligkeit gegenüber natürlichen und menschgemachten Katastrophen.


Die Heuschrecken und der Heuschrecken-Kapitalismus

Die Heuschrecken, auf die sich Franz Münteferings Wortschöpfung vom Heuschrecken-Kapitalismus bezieht, sind Wanderheuschrecken. Sie treten gelegentlich in riesigen Schwärmen auf, vernichten dann die Ernten ganzer Landstriche und werden im Alten Testament (2. Buch Mose 10) als die achte der zehn biblischen Plagen aufgeführt. Das Schicksal von Wanderheuschrecken und von Kapital weist bemerkenswerte Gleichwertigkeiten auf.

Die Wanderheuschrecken leben in warmen, trockenen Gebieten und fristen dort als Einzelwesen ein karges Dasein. Jedes Weibchen legt rund 300 Eier in den Boden ab, doch in der Regel kommen die meisten Nachkommen frühzeitig um. Aber wenn die Regenfälle zur rechten Zeit kommen und der Pflanzenwuchs gut ist, überleben viele Nachkommen und pflanzen sich fort. Geschieht dies in den nächsten ein oder zwei Jahren auch, gibt es Massen von Heuschrecken. Unter Dichtestress schalten sie vom Einzel- auf das Gruppenleben um und ziehen, solange sie noch jung und flugunfähig sind, zu Fuß in Scharen durch die Landschaft und fressen die Pflanzen, auf die sie treffen. Werden sie erwachsen und flugfähig, fliegen sie in gigantischen Schwärmen weiträumig durch die Gegend, fressen Felder und Bäume kahl, ziehen weiter, wiederholen ihren Kahlfraß und so weiter. Doch ihr Ende ist schrecklich. Die allermeisten gehen zugrunde, nur die wenigsten können sich fortpflanzen, und so bricht die Plage auf ganz natürliche Weise zusammen.

Ein gleichwertiges Schicksal droht dem Heuschrecken-Kapitalismus. Er konnte sich unter günstigen Umständen aus einem eher kargen Vorläufer-Kapitalismus entwickeln, der noch mit bewährten ethischen Grundsätzen vereinbar war und den Menschen nützte. Doch die wachsenden wirtschaftlichen Erfolge über Jahrzehnte hinweg begünstigten die Entwicklung eines Heuschrecken-Kapitalismus, der sich unter Missachtung der ethischen Normen ganz der Suche nach maximalen Renditen verschrieben hat, mittlerweile global über Renditeobjekte herfällt und sie nach Art eines Kahlfraßes ausbeutet. Die Achtung vor dem Geld hat Vorrang vor der Achtung vor Mensch und Kreatur gewonnen.

Was das für die Menschen bedeutet, erfahren wir fast täglich aus den Medien. Konzerne fusionieren, um mit Synergie-Effekten die Rendite zu erhöhen. Dazu gehören Stellenabbau und Belastung der übrig gebliebenen Mitarbeiter mit mehr Arbeit. Immer mehr Menschen dürfen nicht mehr zu angemessenen Löhnen arbeiten, sondern müssen zum Teil wie die Sklaven zu Hungerlöhnen schuften. Die Regierungen müssen einen immer höheren Anteil ihres Budgets für Zinsen ausgeben, die für wachsende Schulden fällig sind. Also werden Steuern erhöht und Gelder für Gemeinschaftsausgaben eingespart, während den Kapitaleignern mittlerweile gigantische Geldmengen zufließen. Durch Zinseszins wachsen diese weiter und beschleunigen so den Teufelskreis, der das Gemeinwohl schädigt und immer mehr Menschen in Verzweiflung und Verbitterung stürzt. Gefährliche soziale Spannungen wachsen. Kein Wunder, dass die hemmungslose Gier des Heuschrecken-Kapitalismus zunehmend an den Pranger gerät.

Die Zeit ist überreif zur Umkehr. Dazu bedarf es einer Wiederbelebung der ethischen Normen.


Die Chance von PROVIEH und verwandten Organisationen

Zwar entwickelt die industrielle Nutztierhaltung noch immer Wachstumsdrucke, aber sie ist verwundbar geworden. Sie ist anfällig gegenüber Tierseuchen und Wirtschaftskrisen, und wenn ihre Praktiken dem Licht der Öffentlichkeit ausgesetzt werden, erzeugen sie Abscheu in der Bevölkerung. Immer mehr Menschen suchen deshalb nach Produkten aus akzeptabler Tierhaltung. PROVIEH und ähnlich gesinnte Vereine unterstützen sie hierbei.

PROVIEH mit seinen Zielen für schonende und achtungsvolle Nutztierhaltung hat zu diesem Bewusstseinswandel beigetragen und wird dies weiterhin tun. Das ist auf wenigstens vier weitere Weisen möglich.

Erstens wird der Verein zur Bildung eines Netzwerkes ähnlich gesinnter Vereine beitragen, um mit vereinten Kräften gegen die Praktiken der industriellen Nutztierhaltung und deren Duldung oder gar Förderung durch die Politik vorgehen zu können. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, dass für die Vogelgrippe in Geflügelfabriken die Wildvögel und das Nutzgeflügel der Freilandhaltung verantwortlich gemacht werden, obwohl die Verantwortung nach allen Indizien bei der Geflügelindustrie selbst liegt. Es geht auch nicht an, dass im Fall von Tierseuchen kerngesunde Nutztierbestände aus rein marktpolitischen Gründen gekeult (d.h. unblutig getötet) werden, nur um Exportsperren so früh wie möglich aufheben zu lassen.

Zweitens wird die Bevölkerung über das Leid aufgeklärt werden, das die Tiere in der industriellen Haltung während ihres oft qualvollen Lebens und auf dem Transport zur Schlachtstätte erfahren.

Drittens kann der Verein die Erhaltung der Rassenvielfalt unter Nutztieren unterstützen. Rassen, die mittlerweile selten sind, werden vor allem in Kleinbetrieben gehalten und können eines Tages wichtig für uns alle werden, wenn die Nutztierrassen der industriellen Tierhaltung überzüchtet sind und Keimzellen für neue Anfänge gesucht werden.

Viertens kann der Verein zum öffentlichen Bewusstsein beitragen, dass eine langatmige Ethik in der Nutztierhaltung nicht nur für die Nutztiere, sondern auch uns Menschen gut ist. Eine möglichst artgerechte Nutztierhaltung in vielen kleineren Betrieben kann uns Menschen in Zeiten schwerer Krisen mit lokal erzeugten Nahrungsmitteln ausreichend versorgen. Die Nutztierindustrie könnte dies nicht.

Es ist so oft die Rede davon, wie klug der Mensch ist und dass er nicht wie Tiere und Pflanzen den unerbittlichen Naturprinzipien ausgesetzt sei. Gerade mithilfe unserer Klugheit sollten wir erkennen, dass dieser Aberglaube wirklichkeitsfremd ist, weil wir in einer begrenzten Welt leben. Um mit dieser Begrenzung bestmöglich klarzukommen, brauchen wir wieder unsere vertrauten ethischen Normen des Wollens und des Handelns.


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Quelle:
PROVIEH Heft 2, Juli 2008, Seite 22-26
Herausgeber:
PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2008