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GEFAHR/068: Das Bindegarn ist des Falken Tod (KRITISCHE Ökologie)


KRITISCHE Ökologie - Zeitschrift für Umwelt und Entwicklung
Nr. 75 Ausgabe 25 [2] - Herbst 2010

Das Bindegarn ist des Falken Tod

Von Axel Goldau


Baumfalken sind elegante Flugjäger auf Schwalben, Mauersegler, Fledermäuse und auf fliegende Insekten. Ende April kehren sie aus ihren afrikanischen Winterquartieren in ihre Brutreviere zurück: Dann heißt es, die Brutreviere zu kontrollieren, wann die ortstreuen Tiere die Reviere wieder besetzen und welchen Horst sie für diese Brutsaison beziehen.

Zeigt das Falkenpaar den Brutbeginn an, lässt man die Vögel tunlichst in Ruhe, bis davon auszugehen ist, dass die Jungvögel ein Alter von etwa 20 Tagen erreicht haben. Dann haben sie i.a.R. das beringungsfähige Alter erreicht und wiegen etwa 220 bis 260 g bei einer Flügellänge zwischen 140 und 160 mm.

Abb. 1: Am 27. Juli macht sich ein kleiner Tross auf den Weg zu einem uns bisher unbekannten Horst im Süden Berlins. (Gruppe von vier Menschen mit Blick nach oben in lichtem Wald mit Gras und Unterholz, dahinter dichterer Wald) - Foto: Kritische Ökologie

Abb. 1: Am 27. Juli macht sich ein kleiner Tross auf den Weg zu
einem uns bisher unbekannten Horst im Süden Berlins.
Foto: Kritische Ökologie

Am 27. Juli macht sich ein kleiner Tross auf den Weg zu einem uns bisher unbekannten Horst südlich von Berlin (Abb. 1). Wir müssen einen Wildzaun überwinden, um zu dem Horstbaum zu gelangen. Zufällig stoßen wir dabei auf einen toten Vogel, der flach am Boden mit ausgebreiteten Flügeln liegt - etwa 50 Meter vom Horstbaum entfernt. Es ist ein Baumfalke (Abb. 2).

Abb. 2: Zufällig stoßen wir dabei auf einen toten Vogel, der flach am Boden mit ausgebreiteten Flügeln liegt - etwa 50 Meter vom Horstbaum entfernt. Es ist ein Baumfalke. (toter Vogel im Gras) - Foto: Kritische Ökologie

Abb. 2: Zufällig stoßen wir dabei auf einen toten Vogel, der flach
am Boden mit ausgebreiteten Flügeln liegt - etwa 50 Meter vom
Horstbaum entfernt. Es ist ein Baumfalke.
Foto: Kritische Ökologie

Dreht man den Vogel um, finden wir darunter ein graues Etwas, das wir zunächst für den ausgefaulten Brustkorb des Vogels halten - die Verwesung ist schon fortgeschritten. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich aber ein grausiges Szenario:

Abb. 3: Am rechten Fuß des Baumfalken hängt der abgerissene Fuß eines ca. 10 bis 12 Tage alten Falken-Kindes. (Fuß des Altvogels mit Mengen verknäuelten Garns und dem kleineren Jungvogelfuß) - Foto: Kritische Ökologie

Abb. 3: Am rechten Fuß des Baumfalken hängt der abgerissene Fuß eines ca. 10 bis 12 Tage alten Falken-Kindes.
Foto: Kritische Ökologie

Am rechten Fuß des Baumfalken hängt der abgerissene Fuß eines ca. 10 bis 12 Tage alten Falken-Kindes (Abb. 3); das graue Etwas unter dem Altvogel ist der restliche Kadaver des Kükens (Abb. 4). Die Füße sind von einem Wust an Kunststoffwolle umwickelt: Davon hätten sich die Vögel sicher noch befreien können, nicht aber von den feinen, reißfesten Fäden des Bindegarns!

Abb. 4: Das graue Etwas unter dem Altvogel ist der restliche Kadaver des Kükens. (Altvogel mit dem Bindegarnknäuel und Jungvogelfuß auf neutralem Boden, daneben kleiner Vogelkadaver) - Foto: Kritische Ökologie

Abb. 4: Das graue Etwas unter dem Altvogel ist der restliche
Kadaver des Kükens. Hier links im Bild - fürs Foto in diese
Position verbracht.
Foto: Kritische Ökologie

Im Horst finden wir einen wohlgenährten, etwa 22-24 Tage alten weiblichen Jungvogel. Der Horst wird während der Kletterpartie einige Male von einem Altvogel überflogen.[1] Die Vermessung des toten Altvogels erlaubt keine eindeutige Geschlechtszuordnung: Die Flügellänge von 273 mm liegt innerhalb der Variationsbreite beider Geschlechter; der starke Verwesungszustand erlaubt keine Aussage über das Körpergewicht mehr. Leider ist der Vogel auch nicht beringt und somit nicht individuell identifizierbar. Dennoch ist es höchst wahrscheinlich, dass es sich hier um die Mutter des Kükens handelt; denn nur das Weibchen hat den direkten Kontakt zu den Kindern, wenn sie noch so klein sind. Zwischen den Geschlechtern besteht eine klare Arbeitsteilung: Das Weibchen hält sich im Horst bzw. in seiner Nähe auf und bewacht die Brut, während das Männchen jagt und die Familie versorgt. Das Männchen übergibt die Beute oft in der Luft an das Weibchen, welches davon selber frisst und den Rest zerteilt an die Jungen verfüttert.

Da die Küken i.a.R. in wenigen Tagen hintereinander schlüpfen, dürfte der Baumfalke an sein Kind gefesselt vor etwa 10-14 Tagen 50 Meter von seinem Horst entfernt abgestürzt sein. Beim Fund schien es, als habe die Mutter ihre Flügel noch schützend über ihr Kind ausgebreitet.

Wie konnte so etwas geschehen? Baumfalken bauen selber keine Nester, sondern profitieren vom sozialen Wohnungsbau der Rabenvögel - bei uns in der Nähe von Berlin vor allem Nebelkrähen- oder Rabenhorste. Unser Falkenhorst wurde vom Kolkraben erbaut. Aber solche Nistplätze können ihre tödlichen Tücken haben.

Rabenvögel sind nicht wählerisch bei der Beschaffung von Nistmaterialien. So konnten schon Kabelbinder, Bruchstücke von Plastikbügeln und anderer Abfall in Nestern eingebaut gefunden werden. Beliebt ist aber auch Bindegarn aus der Land- und mittlerweile auch aus der Forstwirtschaft, das überall in der Kulturlandschaft zu finden ist, weil es einfach nicht klein zu kriegen ist.

Bis vor etwa 40 Jahren wurden zum Binden gepresster Heu- und Strohballen Garne aus Bast, gedrehtem Papier, Sisal oder Viskoseseide verwendet. Weil diese Materialien jedoch kaum verwitterungsfest und empfindlich gegenüber Nagetierfraß waren, wurden sie u.a. mit chlornaphtalinhaltigen Lösungen imprägniert, die wiederum sowohl veterinär- als auch human-medizinische Probleme mit sich brachten. Insofern erschien die Bereitstellung eines neuen Garnes aus dem Kunststoff Polypropylen (PP: s. Abb.5) aus toxikologischer Sicht vielversprechend. Hinzu kam die hohe Reißfestigkeit. Das neue Material ließ sich technisch viel besser in großen Längen herstellen, hatte eine hohe UV-Licht-Beständigkeit und eine schier unbegrenzte Haltbarkeitsdauer.

Abb. 5: Halbstrukturformel von Polypropylen (PP)

Abb. 5: Halbstrukturformel von Polypropylen (PP)

Diese geradezu unbegrenzte Haltbarkeit führt allerdings zu einer Reihe von schwerwiegenden Problemen: Einmal in die Umwelt verbracht, verrottet es praktisch nicht. Schon nach kurzer Zeit machten sich zunehmend Funktionsstörungen an Landmaschinen bemerkbar, weil das Garn sich um die rotierenden Teile festwickelte. Wiederkäuer - vor allem Rinder - schienen geradezu eine Vorliebe für dieses Kunststoffgarn zu entwickeln, mit der Folge, dass z.T. riesige Kunststoffbezoare die Pansen ausfüllten, bis die Tiere keine Nahrung mehr zu sich nehmen konnten.

Schon frühzeitig hatte das Landwirtschaftsministerium zumindest in der ehemaligen DDR auf diese Probleme aufmerksam gemacht und die Hersteller angewiesen,
• einen Warnhinweis zu erstellen und zu verteilen, das Bindegarn vor Verfütterung und Einstreu des Heus und Strohs zu entfernen,
• die Garnrollen mit entsprechenden Warnhinweisen zu versehen
• und das Garn anzufärben, um es einfacher und sicherer aus den Erntegutballen entfernen zu können.

Kaum wahrgenommen aber wurden weitere schlimme Folgen, die sich für Wildtiere - vor allem für Vögel - in unserer Kulturlandschaft ergaben: Weder in Ost noch West wurde das Material aus der Umwelt ferngehalten; außer in der Landwirtschaft kam das Garn auch zunehmend in der Forstwirtschaft zum Einsatz. Garnreste, ganze Knäule gelangten immer wieder in die Umwelt - meist, weil sie nach Gebrauch dort achtlos liegen gelassen wurden. Hier verrottete es praktisch nicht, sondern trieb wie ein Frankenstein-Monster sein Unheil, indem es sich um die Beine von Damhirschen, aber auch einigen der ohnehin schon äußerst wenigen Großtrappen Brandenburgs wickelte. "Eigenbauer" wie Weißstörche tragen dieses teuflische Material selber in ihre Horste; andere wie z.B. unsere Baumfalken übernehmen "Fertigbauten" mit tödlichen Fallen.

Im April 1999 wurde dieses Problem während einer gemeinsamen Tagung der Vogelschutzwarten der Bundesländer auf Initiative des Landes Brandenburg angesprochen. Dabei zeigte es sich, dass in den anderen Ländern hierzu allenfalls geringes bis keinerlei Problembewusstsein vorhanden war. Seither werden Bindegarn-Unfälle sowohl im Nest als auch außerhalb von Dr. Torsten Langgemach, Leiter der Staatlichen Vogelschutzwarte Brandenburg, dokumentiert (s. KASTEN).

Und seine Liste wird immer länger! Umfasste die Liste von Dr. Langgemach am 13. April 2010 noch 500 Fälle, war sie am 06. August schon um acht Todesfälle länger geworden: Sechs davon in Brandenburg; darunter vier Baumfalken - "unsere" Mutter mit Küken sowie zwei weitere Nestlinge aus dem Havelland.

Vielleicht müssen Land-, Forstwirte, Land- und Forstwirtschaftsfunktionäre, Hersteller etc. erst so drastisch wie wir auf dieses Problem aufmerksam gemacht werden? Bereits 1993 hatten Katrin Koch und Paul Sömmer bei einem Hersteller in Rathenow nach gemeinsamen Problemlösungen gesucht - ohne Ergebnis. Im Oktober 2002 (!) teilte Dr. Scherer, Geschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, in einem Schreiben an Dr. Langgemach mit, dass "alle Hersteller ... bereit (seien), Ihren Gedanken zur ordentlichen Entsorgung mitzutragen," und daher "folgendes beschlossen (wurde):

Es wird ein Hinweis auf den Verpackungen angebracht. Dieser sollte mindestens in fünf europäischen Sprachen sein. Mittelfristig soll dieser Hinweis abgelöst bzw. ergänzt werden durch ein Bildzeichen und einen entsprechenden Hinweis in der Bedienungsanleitung der Maschine". - Das war im Oktober 2002! Im Juli 2006 (!) wendete sich Dr. Langgemach enttäuscht an Dr. Scherer: ... "Da das durch uns bezogene Bindegarn ebenso wie das der Landwirte, die unsere Partner bei den hiesigen Agrar-Umwelt-Maßnahmen sind, bis heute keine entsprechende Hinweise enthält, würde ich mich gerne bei Ihnen nach dem Stand der Umsetzung Ihres Beschlusses erkundigen". - Das war im Juli 2006![2]

Zu Beginn meiner Recherchen teilte mir Dr. Langgemach mit, dass er noch immer keinerlei Kenntnisse über derartige Warnhinweise hätte. - Das war Anfang August 2010! Im Gespräch mit Milchbauern, die ich während meiner Recherchen führte, ergab sich, dass sie keinerlei Kenntnisse über das Gefährdungspotential synthetischen Bindegarns hatten.

Wie soll es weitergehen? Das Jahr der biologischen Vielfalt könnte/sollte allen wichtigen Akteuren im Zusammenhang mit dem "Vogeltod durch Bindegarn", den ja niemand will, den Anstoß geben, dieses Problem zu lösen: Aber noch immer ist die Information, die Sorgfalt und - das wäre wohl die sicherste Problemlösung - ein anderes Material, das leichter verrottet und nicht wie ein Frankenstein-Monster noch über Jahre und Jahrzehnte Lebewesen in Wald und Flur und auch im Stall einen qualvollen Tod bereitet, offensichtlich nicht vorhanden.


Danksagung: Mein Dank gilt den vielen FreundInnen und KollegInnen unseres "kleinen Tross", insbesondere Dr. Klaus-Dietrich Fiuczynski (AQUILA - ARBEITSGEMEINSCHAFT ZUM SCHUTZE WILDLEBENDER GREIFVÖGEL UND EULEN WOBLITZ e.V.), Volker Hastädt (Beringer), Dr. Karsten Siems (ABBO - Arbeitsgemeinschaft Berlin-Brandenburgischer Ornithologen e.V.) und allen Gesprächspartnern sowie Dr. Torsten Langgemach (STAATLICHE VOGELSCHUTZWARTE BRANDENBURG).

Angaben nach: FIUCZYNSKI, Klaus - Dietrich; HOWEY, Paul W.; MEYBURG, Christiane und Bernd - Ulrich MEYBURG (2010): Die Wanderungen des Baumfalken; Kritische Ökologie Nr. 74 - Bd. 25[1]: 6-7.; Berlin/Göttingen
LANGGEMACH, Torsten (2001): Ein neues Problem: Vogeltod durch Bindegarn in der Landwirtschaft; der Falke Bd. 48: 148-151; Wiebelsheim
LANGGEMACH, Torsten (2001): Weißstorchverluste durch Erntebindegarn; 8./9. Sachsen-Anhaltinischer Storchentag: Tagungsband pp. 194-196; Loburg
LANGGEMACH, Torsten (1999): Vogelverluste durch Erntebindegarn - ein kaum bekanntes Problem; OTIS Bd. 7: 56-69; HVL

Anmerkungen:
[1] Die Horstkontrolle am nächsten Morgen erbrachte folgendes ebenso erfreuliches wie bemerkenswertes Ergebnis: Es ist ein (neues) Weibchen anwesend, das Männchen bringt weiterhin Beute und das Junge entwickelt sich bis zum Ausfliegen gut (FIUCZYNSKI pers. Mittlg.).
[2] In einem aktuellen Schreiben weist Dr. Scherer auf die beschränkte Reichweite seines Verbandes hin und bietet weitere Unterstützung an.

KASTEN (mit Logo der Vogelschutzwarte): Bindegarnunfälle bei Wildtieren - vor allem bei Vögeln - bitte melden bei: Dr. Torsten Langgemach, Staatliche Vogelschutzwarte Brandenburg, Dorfstraße 34, 14715 Buckow bei Nennhausen, Tel.: 03 38 78 - 60 257; Fax: - 60 600, torsten.langgemach@lua.brandenburg.de

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Quelle:
Kritische Ökologie, Nr. 75 Ausgabe 25 [2] Herbst 2010, S. 4-6
Herausgegeben vom Institut für angewandte Kulturforschung (ifak) e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2011