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TIERHALTUNG/594: Kalb ist nicht gleich Kälbchen - Pech gehabt... (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Kalb ist nicht gleich Kälbchen - Pech gehabt...

Von Irene Wiegand



Gibt man bei der meistverwendeten Internet-Suchmaschine den Begriff "Kalb" ein, so vervollständigt das Programm automatisch: Kalbsbraten, Kalbsbries, Kalbsleber, Kalbsschnitzel. Gibt man aber "Kälbchen" ein, schlägt das Programm einem vor: Kälbchengeburt, Kälbchen kaufen, Kälbchenstall. Nur in der Verniedlichungsform wird ein junges Rind also für uns zu einem lebendigen Wesen. Das Netz bietet uns dann "süße" Bilder von Kälbchengeburten an, und damit avanciert das neugeborene Rind nicht nur zum lebenden, sondern sogar zum "fühlenden Wesen", wie die Amtssprache es nennt. Wenn wir indes gerade Appetit haben, sind wir nicht so in Stimmung, das Kälbchen "niedlich" zu finden. Dann wird es zum Kalb, zum Rohstoff. Pech gehabt.

Mit diesem "Pech gehabt" wollten sich schon unsere Vereinsgründerinnen, die Schwestern Bartling, nicht abfinden. Sie fassten den Entschluss zur Gründung des "Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung" (später in PROVIEH umbenannt) nachdem sie vor nunmehr 40 Jahren einen Kälberhaltungsbetrieb besichtigt hatten. Der Betrieb war für Kälber - und eben nicht für Kälbchen! - eingerichtet, die Kälber standen eng und angekettet, und dementsprechend entsetzt waren die Bartling-Schwestern.

Bedauerlicherweise hat sich an der Einrichtung von Ställen nur einiges im Detail, aber nichts Grundsätzliches geändert: Auch die heutige "moderne" Kälberhaltung gibt jenen Menschen Anlass, sich zu entsetzen, die das fühlende Wesen im Kalb sehen können. Glücklich die Kälber, die zum Beispiel robusten Fleischrindrassen angehören und bei ihrer Mutter auf der Weide aufwachsen dürfen (in Mutterkuhhaltung) - und nicht zum Bullenmäster in den Stall kommen.


Dehnbare Begriffe

Seit 1991 gibt es allerdings eine EU-Richtlinie, die die Kälberhaltung regelt. Zehn Jahre später wurde sie mit der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung in deutsches Recht umgesetzt. Umgesetzt? Nicht ganz! Ein wichtiges Detail lässt die deutsche Verordnung - auch in ihrer veränderten und heute gültigen Form von 2006 - gegenüber der aktuellen Richtlinie aus. So verlangt die Richtlinie, dass die Kälber nicht nur eine saubere und trockene, sondern auch eine "bequeme" Fläche zum Liegen haben. Die Eigenschaft der Bequemlichkeit fehlt in der deutschen Verordnung, und ganz folgerichtig ist eine bequeme Liegefläche - etwa in Form eines mit Stroh eingestreuten Bereichs oder durch Gummimatten gepolstert - in der Regel nicht vorhanden. Selbst wenn die bequeme Liegefläche vorhanden ist, werden aber die Erfordernisse der Sauberkeit und Trockenheit oft nicht ernstgenommen. Die Liegeflächen werden zu selten oder zu schlecht gereinigt, so dass sich die Kälber beim Liegen mit ihrem Kot beschmutzen.

Können die schmutzigen Kälber denn wenigstens toben, wie es jedem Jungtier ein Bedürfnis ist und wie es die Richtlinie und die Verordnung (freilich in einem sehr eng begrenzten Rahmen) vorsehen? Beide verlangen nämlich einen rutschfesten Boden, damit die Kälber sich nicht verletzen können. Nein, toben können die Tierkinder leider auch nicht. Denn die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung wird auch in dieser Hinsicht in der Praxis häufig nicht eingehalten. Die Kälber werden üblicherweise auf Spaltenböden aus Bongossiholz oder aus Beton gehalten. Beide Materialien sind rutschig, selbst wenn sie - gelegentlich - nicht mit Kot verschmutzt sind. Die Jungtiere merken das schnell und werden vorsichtig, um nicht zu stürzen. Spielen und Toben? Fehlanzeige.


Der Tanz ums Goldene Kalb

Wie kommt es, dass nicht alle Kälber auf der Weide bei ihrer Herde stehen dürfen, sondern dass viel zu viele von ihnen heutzutage auf Spaltenböden im Stall stehen müssen - wider wissenschaftliche Erkenntnisse und wider besseres Wissen auch der Menschen, die an den Schreibtischen der Behörden für sie verantwortlich sind? Das hat natürlich mit dem Geld zu tun. Zum Beispiel gehören viele dieser Kälber Milchkuhrassen an. Da Milchkühe jedes Jahr ein Kalb bekommen müssen, um Milch geben zu können, und die männlichen Kälber nicht zur Milchproduktion taugen, gibt es viele Kälber, die irgendwie "verwendet" werden müssen, die aber niemand lange mästen will. Denn Kälber aus Hochleistungs-Milchviehrassen taugen nicht zum Mastrind; sie setzen nur langsam und wenig Muskelfleisch an. Die Erbanlagen für Bemuskelung und hohe Milchleistung sind einander genetisch entgegengesetzt. In diese "Minderleister" will niemand viel investieren, sie haben also keinen hohen wirtschaftlichen Wert und deshalb - Pech gehabt.

Man sollte hier übrigens nicht in erster Linie auf die Mäster schimpfen, die die Kälber unter diesen Bedingungen halten. Sie befinden sich oft im Verbotsirrtum, denn wenn sie sehen, dass ihre Kollegen die Kälber genauso halten wie sie selbst und dass keine Kontrolle der aufsichtführenden Behörden dies beanstandet, müssen sie davon ausgehen, dass sie die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung korrekt einhalten. Die Kritik muss weiter oben ansetzen - wie man ja weiß, stinkt der Fisch immer vom Kopf her.


Herodes

Die EU hatte sich schon einmal einen anderen Ausweg für die Beseitigung von wirtschaftlich betrachtet "nutzlosen" Kälbern ausgedacht: die sogenannte Herodes-Prämie, benannt nach König Herodes, dem die Erzählung nachsagt, er habe alle unter zweijährigen Jungen in Bethlehem töten lassen in der Hoffnung, damit auch Jesus umzubringen, der ihm als zukünftiger Konkurrent geweissagt worden war. Die Herodes-Prämie wurde in den 90-er Jahren für unter drei Wochen alte Kälber gezahlt, die geschlachtet und nicht dem Fleischmarkt zugeführt wurden, was der Stabilisierung des Rindfleischmarktes dienen sollte.

Es gab in Deutschland einen parteiübergreifenden Aufschrei der Empörung ob dieses unmoralischen Marktsäuberungsinstruments. Die Prämie wurde in Deutschland nicht ausgezahlt. Es wurden aber durchaus Kälber in Nachbarländer zur Schlachtung transportiert; auch darüber waren damals viele Menschen empört, unter ihnen wiederum Politiker aller Parteien. Die Herodes-Prämie widerspricht dem Tierschutzgesetz, das das Töten von Tieren nur aus einem vernünftigen Grund erlaubt. Juristisch betrachtet ist das Essen von Tieren ein vernünftiger Grund, rein wirtschaftliche Zwecke wie eine Marktbereinigung sind in diesem Sinne aber nach Auffassung vieler Juristen nicht als "vernünftig" anzusehen.

Ohnehin wird dieser Aspekt des Tierschutzgesetzes bisher meist nur zur Anwendung gebracht, wenn er die Industrie nicht allzu sehr behindert. Den Kükentötungen zum Beispiel soll das Gesetz nicht im Wege stehen. Die männlichen Küken der Legehennenrassen sind in gewisser Weise den männlichen Kälbern der Milchrassen vergleichbar: Die einen legen keine Eier, die anderen geben keine Milch, und Muskeln setzen sie beide nicht ausreichend an, so dass sich die Mast nicht lohnt. Dementsprechend werden Millionen Küken jedes Jahr direkt nach dem Schlüpfen vergast oder im Schredder "gemust".

Warum aber hat es bei der Herodes-Prämie einen lauten Aufschrei der Empörung gegeben, der bei den Kükentötungen seit Jahrzehnten ausbleibt? Wenn Kälber nach einem kurzen Leben im eigenen Dreck und ohne altersangemessene Bewegung geschlachtet werden - warum ist das für den Normalverbraucher völlig in Ordnung (wir erinnern an die Suchmaschineneinträge) und wird plötzlich und unvermutet zum Skandal, nur weil das Kalb noch einige Wochen früher (also kurz nach der Geburt) zur Schlachtung gefahren wird?

Logisch begründbar ist das nicht. Der Mensch handelt meist nicht logisch, sondern intuitiv, und gerade dadurch wird er wider Erwarten nicht mitfühlender, sondern herzloser. Eine gut erzählte Geschichte lässt ihn weinen, während ihn tausende vernachlässigter Kälber nicht berühren. Es ist die mitreißende Geschichte, die berührt, nicht das fühlende Wesen: Mit dem Hirschkalb Bambi haben Millionen Menschen mitgeweint, dabei existiert es nicht einmal. Vielleicht also war für das erfreulich überraschende Entsetzen über die Herodes-Prämie die kreative Namensgebung ausschlaggebend?

Das wäre möglich, aber dann ein Armutszeugnis für Regierung, Behörden und Bürger. Tierschutz und Tierwohl dürfen nicht von ihrer bildhaften Vermittelbarkeit oder politischem Opportunismus abhängen. Es geht in der landwirtschaftlichen Tierhaltung darum, moralisch vertretbare Verhältnisse herbeizuführen. Es besteht für die zuständigen Behörden, insbesondere für die Amtstierärzte und Vollzugsbehörden auf EU- und Länderebene, ein kategorischer Imperativ zu handeln und mindestens die bestehenden Gesetze vollumfänglich durchzusetzen.

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013, Seite 18-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2013