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SCHLACHTEN/065: Ruhe - das Rezept gegen Ebergeruch (PROVIEH)


PROVIEH Heft 3 - Oktober 2010
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Ruhe: Das Rezept gegen Ebergeruch

Von Stefan Johnigk


Es ist früh am Morgen bei der Erzeugergemeinschaft Böseler Goldschmaus. Von einem Tiertransporter werden Schweine in den Wartestall des Schlachthofs verladen. Keine Besonderheit in Deutschland? Doch. Denn diese Schweine hier sind unkastriert.

Jeweils 10-12 junge Eber teilen sich eine Wartebucht. Sie sind gemeinsam aufgewachsen und bleiben bis zur Schlachtung in der vertrauten Gruppe zusammen. So müssen sie keine neue Rangordnung auskämpfen. Dadurch bleiben dem Schlachthof Verluste durch sogenannten "Ebergeruch" im Fleisch erspart. Geraten nämlich junge Eber unter Anspannung und Stress, müssen sie sich als echte Kerle beweisen. Sexualhormone werden ausgeschüttet und treiben die Tiere zu Machogehabe an. In Speichel und Urin reichern sich Duftstoffe an, die Manneskraft signalisieren. Auf menschliche Nasen wirkt dieses Parfüm eher abstoßend, wenn es als Duftwolke aus der Pfanne entweicht. Nur deshalb wurden 2009 über 29 Millionen männlicher Ferkel in Deutschland ohne Betäubung kastriert.

Doch es gibt ein tierfreundlicheres Rezept gegen Ebergeruch: Ruhe. Je weniger Leid und Stress die Tiere in den letzten Stunden ihres Lebens haben, umso weniger Geruchsauffälligkeiten treten auf. In der Wartebucht werden die Jungeber mit Wasser berieselt. Bereits nach einer halben Stunde liegen die meisten von ihnen auf dem Boden und schlafen. Zwei Stunden Ruhezeit bleiben ihnen vor ihrem letzten Gang in die Betäubungskammer. Dann werden sie getötet und geschlachtet - nicht anders als andere Schweine. Das Ebermastprogramm bei Böseler Goldschmaus wurde angeregt durch PROVIEHs Kampagne gegen die Ferkelkastration. Vor Ort informiert sich der Fachverband nun über die Fortschritte.

Das Wort "Eber" klingt in der Fleischbranche anrüchig. Dr. Otto, Leiter des Pilotprojekts, spricht lieber von "unkastrierten männlichen Schweinen", um damit den Unterschied zu alten, oft geruchsintensiven Zuchtebern zu betonen. "Diese Schweine hier wurden höchstens 180 Tage alt, wie in der konventionellen Mast üblich. Das sind keine alten Eber!" Neben Stress spielen auch die Ernährung, die Haltung und die genetische Veranlagung eine Die Kastrationswunde ist auch ein Infektionsrisiko Rolle bei der Ausprägung des Ebergeruchs.

Die Großschlachterei Tönnies berichtet sogar, dass nur ein Drittel der bei ihnen geschlachteten Alteber überhaupt geruchsauffällig sind.

Doch wie testet man eigentlich, ob ein Jungeber - also ein unkastriertes männliches Schlachtschwein - nun auffällig riecht oder nicht? Nach der Fleischbeschau werden die Schweinehälften in der Kühlhalle langsam auf 4 °C herunter gekühlt. Die Schweinehälften dürfen erst nach einer befundfreien Geruchsprobe weiter verarbeitet werden. Jede Hälfte trägt eine Nummer, die dem Tier und dem Erzeugerbetrieb eindeutig zugeordnet werden kann. Aus der Speckschicht im Schweinenacken entnimmt Dr. Otto mit einem scharfen Messer eine Probe. Sie kommt in eine nummerierte Tüte und wird in einer Liste verzeichnet. Im Fleischbereich darf nicht mit Glasbehältern gearbeitet werden - möglicher Scherben wegen. Später, in der Laborküche, werden die Proben in nummerierte Einmachgläser überführt. Mehrere luftdicht verschlossene Gläser werden zusammen in einem Ofen einige Minuten lang bei 100 °C erhitzt. Die Geruchsstoffe verdampfen dabei und sammeln sich im Glas. Zwei besonders geruchsempfindliche Mitarbeiter des Betriebs treten anschließend zum Geruchstest an. Sie öffnen Glas für Glas und erschnüffeln die austretende Duftwolke. Das Ergebnis wird vermerkt. Wie gut das Verfahren sei, wollen wir wissen. Dr. Otto lacht. Er schmuggelt regelmäßig als geruchsauffällig bekannte Testproben dazwischen oder lässt Proben ohne Wissen der "Supernasen" doppelt bewerten. "Eher bewerten wir eine Probe unnötigerweise als anrüchig, als dass uns ein geruchsauffälliges Stück entgeht." 250 Jungeber wurden heute geschlachtet. Um noch mehr Tiere am Tag zu testen, wäre ein automatisiertes Verfahren sinnvoll.

Zuletzt wollen wir wissen, wie denn die Fleischkunden die Ebermast und die damit verbundenen Fortschritte im Nutztierschutz aufnehmen. Dr. Otto und seine Kollegen werden sehr ernst. Einige Abnehmer aus dem Lebensmitteleinzelhandel stehen dem Fleisch unkastrierter männlicher Schweine noch desinteressiert oder gar ablehnend gegenüber. Es wird endlich Zeit, dass sich das ändert, findet PROVIEH, und hat in seiner Kampagne eine neue Postkartenaktion gestartet, die alle Freunde und Mitglieder mit Nachdruck unterstützen können.


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Quelle:
PROVIEH Heft 3, Oktober, 2010, Seite 28-29
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
Telefon: 0431/248 28-0
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2011