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TIERVERSUCH/746: Weltkongress "Multi-Organchips statt Tierversuche" (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 4/2017
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Weltkongress
"Multi-Organchips statt Tierversuche"

von Dr. Christiane Hohensee und Carolin Spicher


Im August fand der 10. internationale Kongress über Alternativen zu Tierversuchen und Tiereinsatz in der biomedizinischen Forschung in Seattle (USA) statt. Dr. Christiane Hohensee und Carolin Spicher informierten sich dort für den Bundesverband über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der tierversuchsfreien Forschung.


Der Weltkongress findet alle drei Jahre statt und ist zusammen mit dem EUSAAT-Kongress(1) in Linz das bedeutendste wissenschaftliche Treffen zur Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren. Der diesjährige Kongress stand unter dem Motto "die 3R in Aktion", um auf die bedeutendsten Innovationen im Bereich des Ersatzes, der Reduktion und der Verfeinerung von Tierversuchen aufmerksam zu machen. Neben den Fortschritten bei den in-vitro-Methoden zur Inhalations- und Reproduktions-Toxizität waren besonders die Validierungsstudien mit Multi-Organchips von Interesse.


Hautreizung und Allergiepotenzial

In-vitro-Modelle zur Untersuchung von hautreizenden Substanzen und allergischen Reaktionen sind inzwischen nicht nur in Europa Teil behördlich zugelassener abgestufter Testsysteme. Unter den vielen vorgestellten Neuentwicklungen in diesem Bereich stach ein neuer Zellmigrationstest von EpiSkin mit humanen Augenhornhautzellen besonders heraus. Er beinhaltet Immunzellen, deren Wanderung auf Entzündungsprozesse schließen lässt. Auch die Industrie arbeitet an neuen Verfahren. BASF stellte beispielsweise eine verbesserte Methode zur Vorhersage der Stärke allergischer Stoffe vor.


Vielversprechend: Organ-on-a-Chip Technologie

Ein sehr vielversprechender Forschungsbereich ist die Multi Organ-on-a-Chip-Technologie. Sie kann dazu beitragen, in Zukunft unzählige Tierversuche in der Giftigkeits- und Medikamentenprüfung abzuschaffen. Sie kann außerdem für die Entwicklung von menschlichen Krankheitsmodellen genutzt werden. Damit könnten Krankheitsmechanismen an einem organismusähnlichen menschlichen System irgendwann einmal gänzlich ohne Tierleid erforscht werden. Hierzu wurden Ergebnisse aus einer Vielzahl an Studienkooperationen zwischen Universitäten und der kosmetischen Industrie präsentiert. Ergebnisse aus einer Studie mit einem 2-Organ-Chip, bestehend beispielsweise aus Haut und Leber, zeigten die Leistungsfähigkeit der neuen Technologie vergleichbar mit Tests an Tieren. Beeindruckend waren zudem systemische Untersuchungen mit einem 4-Organ-Chip (Herzmuskel, Skelettmuskel, Nerven und Leber).


Viel zu tun: Inhalationstoxizität

Für den Bereich der Lungenmodelle stellte das Schweizer Unternehmen Epithelix ein neues System vor, das den gesamten menschlichen Atmungsapparat von der Nase bis in die tiefen Lungenschichten in-vitro abbildet. Ein deutsch-luxemburgisches Forscherteam präsentierte zudem ein sehr interessantes humanes Lungenzellmodell mit integrierten Immunzellen. Dieses könnte bald dazu beitragen, akute Inhalationsstudien am Tier zu ersetzen. Mit dem Modell lassen sich lungenreizende von allergisch wirkenden Stoffen unterscheiden. Doch diese Innovationen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch viel passieren muss, bevor der Tierversuch im Bereich der Inhalationstoxizität beendet wird. Denn hier sind sowohl lokale als auch systemische Untersuchungen erforderlich. Um systematischer anzusetzen, soll nun u.a. eine Datenbank mit bereits vorhandenen akuten systemischen Toxizitätsdaten aufgebaut werden.


Risiken für zukünftige Generationen

Um die Auswirkungen von Umweltchemikalien auf die Nachkommen zu untersuchen, nutzen Wissenschaftler der amerikanischen Umweltbehörde EPA bereits verschiedene in-vitro-Assays und Computervorhersageprogramme. Hier wurden Fortschritte mit Modellen erzielt, die in der Lage sind, die Gefäßentwicklung, frühe Nierenentwicklung und beispielsweise die Gaumenbildung zu simulieren. Das Ziel dieser Forschung ist die Entwicklung eines virtuellen Embryos.


Globale Standardisierung

Kritisch ist derzeit noch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse von neuen Methoden aus weltweit verteilten Labors und Forschungseinrichtungen untereinander. Zur Lösung dieser Schwierigkeiten wurde auf dem Kongress auch das Netzwerk von Validierungs-Laboratorien EU-NETVAL vorgestellt, das den Auftrag hat, neue Methoden unabhängig und standardisiert zu überprüfen und zu bewerten. Das EU-NETVAL umfasst momentan 37 zertifizierte Labore und unterstützt ECVAM (European Centre for the Validation of Alternative Methods) bei seinen Validierungsstudien zu tierversuchsfreien Verfahren.


Versuchsanträge konsequenter ablehnen

Ein heiß diskutiertes Thema auf dem Kongress war die Notwendigkeit einer strengen Kosten-Nutzen-Analyse bei der Planung und Genehmigung von Tierversuchsvorhaben, die derzeit zwar weitgehend vorgesehen ist (EU Richtlinie 2010/63), aber praktisch nicht umgesetzt wird. Allgemeiner Konsens ist nach wie vor, dass die ethische Abwägung in der Planung von Forschungsvorhaben einen viel höheren Stellenwert einnehmen sollte und Versuchsanträge weitaus kritischer bewertet werden müssen. Deutlich wurde dabei, dass es schwierig ist, den möglichen Nutzen von Tierversuchen - vor allem in der Grundlagenforschung - den klar zu erwartenden Schäden gegenüber zu stellen. Viele Stimmen forderten deshalb, häufiger im Sinne der Tiere zu entscheiden und Versuchsanträge konsequenter abzulehnen. In diesem Sinne wurde auch gefordert, schwer belastende Versuche ohne Ausnahmen zu verbieten.


Qualität der Forschung verbessern

Als Messlatte der Qualität heutiger Forschung erfreuen sich sogenannte Systematic Reviews immer größerer Beliebtheit. In solchen Analysen werden vergangene Studien zu bestimmten Themen systematisch bewertet und verglichen. Einige solcher Analysen wurden auf dem Kongress vorgestellt und die Ergebnisse zu Tierversuchen waren eigentlich immer die gleichen: Schlechtes Studiendesign und mangelnde Angaben der Methodik, vor allem zu Schmerz- und Betäubungsmitteln. Dies sind die Hauptfaktoren, die die Aussagekraft der Ergebnisse in Frage stellen. Zudem sind Forscher schlichtweg schlecht informiert, was Alternativen angeht oder wissen nicht, wie sie sich darüber informieren können.


Fazit: Wille für Systemwechsel spürbar

Insgesamt war der Weltkongress eine wissenschaftlich hoch interessante Veranstaltung, auf der viele Kontakte geknüpft werden konnten und der globale Wille, gemeinsam ein Ende von Tierversuchen einzuleiten, spürbar war. Die technischen Innovationen für einen Ersatz der üblichen Methodik werden immer mehr und besser. Um einen Systemwandel voran zu treiben, muss jedoch die Ethik in der Wissenschaft weiter an Bedeutung gewinnen. Dadurch gewinnen die Tiere und der Mensch, denn dies steigert auch die Qualität der Forschung.


(1) EUSAAT (European Society for Alternatives to Animal Testing)

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 4/2017, S. 18-19
Menschen für Tierrechte
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Mühlenstr. 7a, 40699 Erkrath
Telefon: 0211 / 22 08 56 48, Fax. 0211 / 22 08 56 49
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2018

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