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PFLANZEN/123: Die Vogel-Kirsche - Baum des Jahres 2010 (ROBIN WOOD-Magazin)


ROBIN WOOD-Magazin Nr. 104/1.2010
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie

wald
Süß oder Sauer
Die Vogel-Kirsche - Baum des Jahres 2010

Von Rudolf Fenner


Die Süßen und die Sauren - zwei Kirschenarten gibt es hier bei uns. Und natürlich ist es die Süß-Kirsche, deren Früchte derart bei den Vögeln begehrt sind, dass der Baum den offiziellen Namen Vogel-Kirsche trägt. Drosseln, Spechte, Spatz, Pirol und Eichelhäher - sie alle schwelgen in den reifen Früchten. Stare verfallen gleich schwarmweise in eine Art Fressrausch, ja fast schon Blutrausch, jedenfalls sehen sie so aus - nach der Kirschenschlacht, bespritzt und besudelt vom roten Saft der Früchte. Nur der Kirschkernbeißer, dieser große Finkenvogel, zieht die andere hier vorkommende Kirschenart, die Sauer-Kirsche, vor.

Die Früchte der ursprünglichen, der wilden Vogel-Kirsche sind klein, selten mehr als ein Zentimeter im Durchmesser. Alle größeren stammen von Kulturformen, von denen es Hunderte gibt, grob unterteilt in weichfleischige Herzkirschen und knackige Knorpelkirschen. Häufig sind diese Kultursorten auch wieder verwildert. Dann ist es nicht so ganz leicht zu erkennen, ob man am Waldrand nun vor einer wilden oder nur vor einer verwilderten Vogel-Kirsche steht. Die Wahrscheinlichkeit allerdings, dass es sich um eine verwilderte handelt, ist deutlich größer.

Die letzte Eiszeit hat die Vogel-Kirsche im wärmeren Südosteuropa, im Schwarzmeergebiet und Vorderasien verbracht. Danach hat sie sich auch wieder ins westliche und zentrale Europa ausgebreitet - beschleunigt wahrscheinlich durch den Menschen, der ja ebenfalls die süßen Früchte liebt. Gefunden wurden prähistorische Kirschkerne in einer mittelsteinzeitlichen Siedlung am Niederrhein, bei den bronzezeitlichen Pfahlbauern am Nordrand der Alpen und bei Ausgrabungen von eisenzeitlichen Siedlungen in der Nähe von Aachen.

Die Kultivierung der Vogel-Kirsche zur Süß-Kirsche begann schon recht frühzeitig, und zwar - wie bei vielen unserer Kulturpflanzen - in Kleinasien. Die heutige türkische Stadt Giresun am Schwarzen Meer, die übrigens in ihrem Wappen eine Kirsche trägt, hieß vor über zweitausend Jahren, als sie noch von Griechen bewohnt wurde, Kerasous. Dieser Name bedeutet nichts anderes als Stadt der Kirschen. Und das Wort für Kirsche - kerasos - haben die Griechen vermutlich von den kleinasiatischen BewohnerInnen übernommen, in deren Land sie sich nach und nach breit gemacht haben. Die Römer haben dann später diesen Namen auch in ihre Sprache übernommen (cerasus). Berühmt ist die von Plinius erzählte Geschichte des römischen Feldherrn Lucullus, der - wenn er nicht gerade Krieg gegen Mithridates VI. in Kleinasien führte - gern zu opulenten Gastmahlen einlud. Er ließ, als er 72 v.Chr. Mithridates aus dem Gebiet von Kerasous vertrieben hatte, Kirschbäume nach Rom bringen. Und deren Früchte kamen dort derart gut an, dass die Römer fortan diesen Baum weiter kultivierten und auch in ihrem übrigen Reich verbreiteten. Schon sehr bald wuchsen diese Obstbäume in den Gärten der römischen Villen in Germanien, Gallien und Hispanien. 50 n.Chr. war dieser Obstbaum dann auch in England angekommen.

Zurück zur wilden Vogel-Kirsche. Sie ist ein wärmeliebender Baum, der besonders in Laubmischwäldern vorkommt. Allerdings wird sie nicht sehr groß - zwanzig, selten auch mal dreißig Meter. Das heißt, früher oder später wird die VogelKirsche, wenn der Förster ihr nicht immer wieder Freiraum schafft, von den anderen Waldbäumen überwachsen, bekommt zu wenig Licht und siecht dann ihrem vorzeitigen Ende entgegen. Sie gehört allerdings eh nicht zu den Bäumen, die sehr alt werden. Mehr als 100 Jahre schafft sie auch unter guten Lichtverhältnissen nur selten. Waldränder und sonnenexponierte Berghänge der Mittelgebirge sind daher wegen ihres zusätzlichen seitlichen Lichteinfalls besser geeignete Standorte. Und natürlich gefällt es ihr auch in Feldgehölzen und Knicks.

Die Vogel-Kirsche ist kein häufiger Baum in unseren Wäldern. Doch wer in der zweiten Aprilhälfte durch die Mittelgebirge fährt bekommt beim Blick über die bewaldeten Berghänge ein eindrucksvolles Schauspiel geboten. Die weißen, millionenfachen Blüten der wenigen Kirschbäume überstrahlen alle anderen Waldbäume, die ja zu diesem Zeitpunkt noch kahl sind oder gerade die ersten zarten Austriebe zeigen. Man kann durchaus in dieser einen Woche - länger blüht sie leider nicht - gelegentlich den Eindruck bekommen, dass die Vogel-Kirsche die vorherrschende Baumart dieser Wälder sei.

Das Holz der Vogel-Kirsche gehört zu den schönsten und edelsten einheimischen Hölzern. Die rotgoldbraune Färbung - im Kern dunkler, im Splint heller - ließ es seit dem Barock zu einem der gefragtesten Möbel- und Fußbodenhölzer werden. Ausgewachsene, gerade Kirschbaumstämme erzielen als Furnierkirschen Höchstpreise. Doch das gilt alles nur für die im Wald hoch aufgewachsenen Kirschbäume. Die Stämme der in den Gärten und Plantagen stehenden Süßkirschen sind in der Regel zu kurz und zu krumm für all diese Zwecke. Sie kommen eher für kleinteiligere Tischlerei- und Drechselarbeiten bis hin zu Knöpfen für Schubladen und Kleider in Betracht.

Wärme: inner- und äußerlich

Die rotgolden strahlende Färbung des Holzes bringt Sonne in jeden Wohnraum. Selbst wenn die Kirschbaummöbel im Laufe der Zeit etwas nachdunkeln - sie gewinnen dadurch sogar noch an behaglich-warmer Ausstrahlung. Zumindest die Seele kann bei dieser Holzart Kalorien tanken, ohne dass das Holz dafür verheizt werden muss.

Wärme für das seelische wie körperliche Innenleben lässt sich allerdings auch aus den Früchten der Vogel-Kirsche gewinnen - durch Destillation des mit Hefe vergorenen Kirschsaftes. Die berühmtesten Kirschwässer liefern die sogenannten Brennkirschen. Das sind extra für diesen Zweck vor allem in den Schwarzwaldtälern und in der Schweiz kultivierte, hochstämmige, aber kleinfruchtige, meist recht schwarze und sehr zuckerreiche Kirschsorten.

Auch die Kirschkerne können zum menschlichen Wärmehaushalt beitragen: eingenäht in prallgefüllte Leinensäckchen und am Kamin oder auf dem Ofen erhitzt, waren sie schon seit dem Mittelalter und bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts so eine Art Festkörper-Wärmflasche. Seit ein paar Jahren haben diese nun auch per Mikrowelle aufheizbaren Kirschkernsäckchen ein rasantes Comeback als spannungslösendes Nackenkissen oder als wärmende Auflage für schmerzende Körperteile.

Und was hilft uns nun im harten Konkurrenzkampf um die süßen Früchte? Was tun gegen die vandalisierenden Starenschwärme im Kirschenrausch? Vorschläge gibt´s zuhauf: Beispielsweise stinkige Salzheringe im Baum aufhängen oder glitzernde Metall- bzw. Folienstreifen überall im Baum flattern lassen. Empfohlen wird auch, blinkende Konservendeckel bzw. - etwas mehr im hier und jetzt - CD-Scheiben überall von den Ästen baumeln lassen. Auch über den Bäumen aufgehängte Raubvogel-Imitate sollen Wirkung zeigen.

Doch all das hilft - wenn überhaupt - nur für kurze Zeit. Dann haben sich die Vögel daran gewöhnt. Schreckschuss anlagen dagegen, insbesondere wenn sie unregelmäßig losballern, helfen recht gut, dafür steigen einem aber die genervten Nachbarn oder gar die Polizei aufs Dach. Ganz sicher helfen über den gesamten Baum gespannte Abwehrnetze, allerdings verheddern sich darin doch immer einige Vögel und krepieren elendig. Die rundum angenehmste Methode ist simpel: Man hänge einen Starenkasten in den Kirschbaum.

Wenn ein Starenpärchen einzieht, dann betrachtet es den Kirschbaum als sein Revier, das mit aller Kraft verteidigt wird - auch gegen Artgenossen. Natürlich schlägt sich die Starenfamilie selbst den Bauch mit Kirschen voll, aber das lässt sich ja durchaus verkraften. Und verkraften lässt sich sicherlich auch, dass man selbst natürlich auch nur unter dem wütenden Geschimpfe der Starenfamilie an die Kirschenernte gehen kann.

Ich habe allerdings - das muss ich hier gestehen - diese romantische Starenkasten-Methode in keinem Buch, sondern nur im Internet gefunden. Aber diese Geschichte ist so nett, dass ich hoffe, dass mir hier kein Bär aufgebunden wurde. Ich schlage daher vor, dieses Jahr der Vogel-Kirsche auch zum Jahr der Starenkästen in den Kirschbäumen zu machen. Alle Erfahrungsberichte bitte an mich!

Rudolf Fenner ist Waldreferent
und für ROBIN WOOD im
Kuratorium Baum des Jahres,
Tel.: 040/38089211
wald@robinwood.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ob am Waldrand eine wilde oder nur eine verwilderte Vogel-Kirsche steht, ist nicht leicht zu erkennen. Die Früchte der ursprünglichen wilden Vogel-Kirsche sind sehr klein, viel kleiner als die unserer Kultursorten

Zweimal im Jahr ist Farbenpracht angesagt: Schneeweißes Blütenmeer im Frühling ...

... und feurige Blattfarben im Herbst


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Steinlikör - eine weitere Art sich mit Kischkernen aufzuwärmen

Eine Flasche mit gut abgelutschten Kirschsteinen drei Viertel voll machen, mit Korn oder Wodka auffüllen, verschließen und vier Wochen an einem warmen Ort stehen lassen. Dann den alkoholischen Extrakt abgießen. Eine wässrige Zuckerlösung (300 Gramm Zucker auf einen halben Liter Wasser pro Liter Extrakt) dazugeben und zehn Minuten kochen. In Flaschen abfüllen und noch mal einige Wochen ruhen lassen.


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Kirschkernweitspucken ...

... ist ein ernstzunehmender Sport - oder zumindest scheint es auf dem besten Wege dahin zu sein. Denn auch in dieser Disziplin wird inzwischen eifrig manipuliert. Der Weltrekord liegt bei 21,71 Metern, aufgestellt im Jahr 2003 beim alljährlichen Weltmeisterschaftsspucken während der Kirmes im rheinland-pfälzischen Düren. Doch 2009 bei den Landesmeisterschaften, die alljährlich im Juli während des Kirschenfestes im hessischen Witzenhausen ausgetragen werden, überflogen die Kerne gleich reihenweise diese Weltrekordmarke. Glatt geschliffen und lackiert - so stellte sich nach gründlichen Untersuchungen heraus - waren sie, diese vermeintlichen Rekordflieger. Zusätzlich noch mit Lötzinn gefüllt, konnten die Kerne sogar die "Schallmauer" von 25 Metern deutlich durchbrechen.


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Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 104/1.2010, s. 36-41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2010