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GEFAHR/001: Brandsatz Fukushima - Nicht gestellte Fragen (SB)


Radioaktive Emissionen nach dem dreifachen Fukushima-GAU kaum ausgelotet

Verkommt der Pazifische Ozean zu einem ungeschützten Endlager für radioaktive Stoffe?

Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Unaufhaltsam weitet sich die Atomkatastrophe von Fukushima aus, innerhalb weniger Jahre wird der gesamte Pazifik radioaktiv kontaminiert sein. Während der Akw-Betreiber Tepco und die japanische Regierung die Strahlengefahr herunterzuspielen versuchen, drängt und strömt seit über zwei Jahren eine radioaktive Brühe aus dem Nuklearkomplex Fukushima Daiichi in die Umwelt. Die Radionuklide sickern durch das zerrüttete Fundament in den Boden, von wo sie mitsamt dem Grundwasser ins Meer gespült werden, fließen über Gräben und Rohrleitungen vom Gelände herunter oder verbreiten sich über die Luft.

Um eine Explosion in den Meilern 1 - 3, in denen nach dem Erdbeben und Tsunami vom 11. März 2011 eine Kernschmelze einsetzte, oder in dem mit mehr als 1500 Brennstäben bestückten Abklingbecken des Meilers 4 zu verhindern, müssen Tag für Tag mehrere hunderttausend Liter Kühlwasser in die Anlagen gepumpt werden. Würde die Kühlung unterbrochen, bestünde die Gefahr einer Explosionsserie, in deren Folgen zunächst die Nordhalbkugel, anschließend die südliche Hälfte der Erde in eine lebensfeindliche nukleare Hölle verwandelt werden könnte, wie sie ansonsten wohl nur in Science-fiction-Romanen als Folge eines atomaren Schlagabtauschs miteinander verfeindeter Mächte entworfen wird.

Lediglich ein Teil des täglich eingebrachten Kühlwassers sowie des Grundwassers, das von den nahen Bergen kommend von unten her in den Nuklearkomplex eindringt und sich mit dem verstrahlten Wasser mischt, wird abgepumpt. Man vermutet, daß Tag für Tag 300 bis 400 Tonnen verstrahltes Wasser in den Pazifischen Ozean fließen. Hinzu kommen die vielen kleinen und großen oberirdischen Leckagen in mehr als eintausend Stahltanks zum Auffangen des kontaminierten Kühlwassers, die Tepco behelfsweise auf dem Gelände errichtet hat und noch laufend weiter aufstellen muß, um all das verstrahlte Wasser aufzunehmen.

Die auf eine Haltbarkeit von fünf Jahren veranschlagten, aber anscheinend nicht auf eine Belastung in einer radioaktiven Umgebung geprüften Gummi- und Kunstharzabdichtungen von etwa 350 zusammengeschraubten, unverschweißten Behelfstanks verlieren offenbar schon nach einigen Monaten ihre Festigkeit. So entdeckten Arbeiter am 19. August, daß in einem dieser Tanks etwa 300 Tonnen kontaminiertes Wasser fehlten. Das war nicht einfach nur durch eine undichte Stelle des Tanks selbst ausgelaufen, sondern konnte darüber hinaus durch ein versehentlich offen stehendes Ventil in der flachen Betonwanne unter dem Tank entweichen.

Drei Tage nach der Entdeckung dieses Lecks maßen Tepco-Arbeiter in einer Wasserpfütze bei diesem Tank eine Strahlung von 100 Millisievert pro Stunde. 100 Millisievert entspricht dem oberen Grenzwert der Jahresdosis für japanische Nukleararbeiter in dem Akw Fukushima Daiichi. Daraufhin hat die japanische Atomregulierungsbehörde NRA die Alarmstufe von eins (Störung) auf drei (ernster Störfall) nach der siebenstufigen INES-Skala (International Nuclear Event Scale, zu deutsch: Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse) heraufgesetzt. Zu dem Zeitpunkt hatte Tepco noch verschwiegen, daß die Arbeiter mit Meßgeräten ausgestattet waren, die keinen höheren Wert als 100 Millisievert pro Stunde anzeigen konnten, da damit schon das obere Ende der Skala erreicht war.

Erst einige Tage darauf teilte Tepco mit, was wohl nicht mehr verschwiegen werden konnte. Bei einer erneuten Überprüfung der Pfütze mit einem Meßgerät, das jetzt bis zu 10.000 Millisievert pro Stunde anzeigen kann, wurde eine Kontamination von 1800 Millisievert pro Stunde festgestellt. Ein Mensch, der einer solchen Dosis mehrere Stunden lang ungeschützt ausgesetzt ist, ist dem Tode geweiht. Man könnte sagen, er verendet an einer bloßen Pfütze. Aktuellere Meßergebnisse verzeichnen sogar einen Spitzenwert von 2200 Millisievert pro Stunde. [1]

Satellitenaufnahme der zerstörten Meiler 1 - 4 - Foto: Digital Globe, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Atomkraftwerke galten einmal als fortschrittliche Technologie - doch wohin führt diese Art des Fortschritts? Akw Fukushima Daiichi, 16. März 2011
Foto: Digital Globe, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Aus dem Nuklearkomplex Fukushima sind bereits zig Millionen jener "Pfützen", in denen die extrem hohen Strahlenwerte registriert wurden, ins Meer geflossen. Da erweckt Tepcos Bemühen, eine etwa zehn Fußballfelder kleine Fläche Meeresboden vor der Küste des Akws zuzubetonieren, den Eindruck einer Übersprungshandlung. Deutlicher kann man wohl kaum seine Hilflosigkeit gegenüber einer derart riesigen Verseuchung ausdrücken.

Laut Tepco ist nach wie vor unklar, warum die Strahlung aktuell überhaupt so hoch ist. Solches Erstaunen vermag die Radioaktivität nicht aus der Welt zu schaffen, wie überhaupt fortgesetzte Ahnungslosigkeit eine der schlechtesten Voraussetzungen zur Bewältigung solch einer globalen Bedrohung darstellt. Das Unternehmen erweckt den Eindruck, mehr Wert auf Beschwichtigung als auf sachdienliche Aufklärung der Probleme zu legen.

Keineswegs beruhigend wirken Meldungen, wonach laufend weitere Lecks entdeckt werden. So tritt aus einer Verbindungsleitung zwischen zwei Tanks alle anderthalb Minuten ein Tropfen Wasser aus. An der Stelle wurde eine Kontamination von 230 Millisievert pro Stunde registriert. Hätten sich die Arbeiter einer solchen Belastung 26 Minuten lang ungeschützt ausgesetzt, hätten sie ihre zulässige Jahresdosis erreicht. An zwei weiteren Lecks wurden 70 bzw. 220 Millisievert pro Stunde festgestellt. [2]

Sollte Fukushima von einem weiteren starken Erdbeben getroffen werden, sind die zusammengeschraubten Tanks vermutlich die ersten, die auseinanderbrechen. Dann werden auf einen Schlag viele tausend Tonnen strahlende Flüssigkeit das gesamte Gelände kontaminieren und in den Pazifik fließen. Vor wenigen Tagen erst, am 3. September, bebte die Erde 600 Kilometer südlich von Tokio. Doch selbst in der Hauptstadt haben die Häuser gewackelt, und zu spüren war das Beben sogar in der nochmals 200 Kilometer weiter nördlich gelegenen Präfektur Fukushima. [3]

Erdbeben stellen nicht die einzige natürliche Gefahr für den havarierten Nuklearkomplex dar. Am Montag, den 2. September, fegte ein Tornado durch die Stadt Koshigaya, rund 30 Kilometer nördlich von Tokio und richtete eine Schneise der Verwüstung an. Mindestens 27 Menschen wurden verletzt. Wenn so ein Tornado über den Nuklearkomplex hinweggezogen wäre, hätte er die Tanks auf seinem Weg demoliert. [4] Tornados träten in Japan nur selten auf, heißt es. Doch schon zwei Tage darauf fegte ein Wirbelsturm durch die Präfektur Tochigi, warf Bäume um, deckte Häuser ab und riß alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war - die besagten Tanks haben bereits gezeigt, daß sie eben das auch ohne Tornadoeinwirkung nicht sind. Die Einschläge rücken näher ... Tochigi grenzt im Süden an die Präfektur Fukushima an.

Viel zu spät hat sich die japanische Regierung entschlossen, Tepco bei dem verzweifelten Versuch, zu bändigen, was offensichtlich nicht zu bändigen ist, zu unterstützen. Zugesagt wurden jetzt umgerechnet rund 360 Millionen Euro, die dafür gedacht sind, das wachsende Problem in den Griff zu bekommen, das die Mengen an radioaktivem Kühl- und Grundwasser darstellen. Das muß laufend abgepumpt werden und umfaßt inzwischen rund 335.000 Tonnen. Irgendwann will das Unternehmen Ionenaustauscher einsetzen, um die Flüssigkeit zu dekontaminieren, um sie anschließend ins Meer zu leiten, doch es ist noch offen, ob das überhaupt und in diesem großen Umfang gelingen wird.

Japan habe noch Glück im Unglück gehabt, hieß es in den Tagen und Wochen nach der dreifachen Kernschmelze und einer Serie von Wasserstoffexplosionen in den Reaktoren. Denn dank der vorherrschenden Windrichtung war die radioaktive Wolke hauptsächlich vom Land übers Meer geweht worden. Der Flugzeugträger U.S.S. Ronald Reagan, der sich auf dem Weg nach Japan befand, war wegen der hohen Strahlenwerte unverrichteter Dinge abgedreht. Wegen der Verstrahlung mußten die Matrosen antreten und das Deck schrubben. Den örtlichen japanischen Fischern wurde von den Behörden verboten, ihre Netze in den Küstengewässern vor Fukushima auszuwerfen, da die Fische hochgradig kontaminiert waren.

Mit Besen 'bewaffnete' Matrosen bilden Keilform und schrubben unter starker Schaumbildung das Flugdeck - Foto: Mass Communication Specialist Seaman Nicholas A. Groesch/U.S. Navy, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

Antreten zum Deck Schrubben, Flugzeugträger U.S.S. Ronald Reagan, 22. März 2011
Foto: Mass Communication Specialist Seaman Nicholas A. Groesch/U.S. Navy, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

Zwischenzeitlich gingen einige der im Küstenbereich gemessenen Strahlenwerte wieder zurück, so daß sich schon die irrtümliche Vorstellung breitmachte, daß die Gefahr im wesentlichen gebannt ist und die Fischerei bald wieder freigegeben werden kann. In den Medien wurde die beschönigende Behauptung verbreitet, daß die in den Pazifik eingeleiteten Mengen an radioaktivem Wasser um eine Größenordnung geringer ausfallen als die in den Anfangstagen der Katastrophe. Bei einer Überprüfung dieser Mutmaßung kommen allerdings eklatante Lücken und Ungereimtheiten ans Licht. Die Verstrahlung des Pazifischen Ozeans nimmt nicht ab, sondern zu.

Vor über einem Jahr haben Wissenschaftler des GEOMAR - Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel berechnet, daß die radioaktive Strömungswolke (plume), die sich vom Akw Fukushima Daiichi im Meer ausbreitet, im Herbst 2013 die im Zentralpazifik gelegene Inselgruppe Hawaii und ein, zwei Jahre darauf die nordamerikanische Küste erreichen wird. Die radioaktiven Partikel würden sich über Verwirbelungen und Strömungen innerhalb von wenigen Jahren über den gesamten Pazifik verteilen, heißt es. Kaum eine Stelle in dem größten Ozean der Erde, die nicht binnen weniger Jahre mit Strahlenpartikeln aus der Fukushima-Katastrophe verseucht wird. [5]

Vollkontamination nach 10 Jahren - den Kieler Meeresforschern war keineswegs daran gelegen, Alarm zu schlagen. Sie wollten lediglich veranschaulichen, wie sich der Fukushima-Plume über den gesamten Pazifik verteilt und daß er sich dabei schon nach kurzer Zeit stark verdünnt. In einer Presseerklärung des GEOMAR verglich der Leiter des Forscherteams, Prof. Claus Böning, das Ereignis mit dem Tschernobyl-GAU (Größter Anzunehmender Unfall):

"Die im März und April 2011 in den Pazifik geflossene Menge an Radioaktivität war mindestens dreimal so groß wie die, die 1986 infolge der Tschernobyl-Katastrophe in die Ostsee eingetragen wurde. Trotzdem sind die von uns simulierten Strahlungswerte im Pazifik bereits jetzt niedriger als die Werte, die man noch heute, 26 Jahre nach Tschernobyl, in der Ostsee findet." [6]

Doch nur einmal angenommen, die Ausgangsbedingungen dieser Simulation wären viel zu niedrig angesetzt und ergäben nur deshalb das vermeintlich beruhigende Resultat, daß sich die radioaktive Strahlung über das große Volumen des Weltmeeres extrem verdünnt. Könnte es nicht dennoch sein, daß der größte Ozean der Erde allmählich zu einer einzigen riesigen Atomkloake verkommt und der Fukushima-Havarie nach einigen Jahren somit das Ausmaß einer Nuklearkriegskatastrophe zugesprochen werden muß, vor der dann letztlich kein Mensch auf dem Globus geschützt ist?

Der Vorfall ist dramatisch genug, als daß man sich dabei auch nur die kleinsten Nachlässigkeiten erlauben könnte. So fällt bei einer genaueren Betrachtung der GEOMAR-Studie auf, daß in ihr erstens sehr konservative Ausgangsbedingungen gewählt wurden und daß sie sich zweitens durch die Ausgrenzung zahlreicher entscheidender Strahlungswirkungen auszeichnet. Das ist vielleicht aus der Sicht von Meeresforschern, die in erster Linie das Strömungsverhalten präsentieren wollen, kein großes Problem, aber es zeigt sich, daß die Simulation bei weitem nicht das gesamte Ausmaß der radioaktiven Freisetzungen aus dem Akw Fukushima Daiichi zu erfassen vermag.

Beispielsweise wurde von den GEOMAR-Forschern als Ausgangswert ihrer Simulation eine Freisetzung von 10 PBq (10 Peta-Becquerel = 10 Billiarden Becquerel) des radioaktiven Isotops Cäsium-137 über den Zeitraum von Mitte März bis Ende April 2011 gewählt. (Mit der Einheit Becquerel wird die sogenannte Aktivität eines radioaktiven Stoffes beschrieben, was wiederum an dem durchschnittlichen radioaktiven Atomzerfall pro Sekunde bemessen wird.)

In einer ähnlichen Simulation, die neueren Datums ist, haben Forscher unter anderem des Climate Change Research Centre der australischen University of New South Wales für den einmonatigen Zeitraum nach Beginn der Nuklearkatastrophe die Freisetzung von 22 PBq Cäsium-137 angenommen. [7] Beide Simulationen ähneln sich in dem Ergebnis, daß die Strahlung nach einigen Jahren sämtliche Meeresgebiete des Pazifiks erreichen wird. Im zweiten Modell wird jedoch als Ausgangswert mit mehr als dem Doppelten der Radioaktivitätsmenge gerechnet, die die GEOMAR-Forscher für ihre Berechnung zugrunde gelegt haben. Der neueren Studie zufolge wäre somit auch die Kontamination des Meeres deutlich höher anzusetzen.

Eine so krasse Diskrepanz in den wissenschaftlichen Berechnungen könnte man vielleicht noch mit den zweifellos großen Unsicherheiten bei der Einschätzung, was am 11. März 2011 und den Folgetagen eigentlich ganz genau passiert ist und welche Radionuklide freigesetzt wurden, erklären. Eine eindeutige Begrenztheit beider Simulationen besteht jedoch darin, daß in ihnen nur der kurze Zeitraum von vier bis maximal sechs Wochen nach Eintritt der Katastrophe dargestellt wird. Wie bereits erwähnt, gelangen inzwischen täglich 300 bis 400 Tonnen Grundwasser, das wahrscheinlich eine ganze Reihe an verschiedenen Radionukliden aus dem Corium (der Masse an geschmolzenen Brennstäben und aller Materialien, die in den Kernbrand einbezogen wurden) enthält, ins Meer. Daraus folgt, daß wir es bei der Verseuchung des Pazifischen Ozeans mit keinem zeitlich abgeschlossenen Ereignis zu tun haben, sondern daß die Radionuklide ständig von Japan aus nachgeladen werden. Mit jedem Tag, an dem der Grundwasserstrom nicht aufgehalten wird, nimmt die radioaktive Konzentration ein kleines bißchen zu.

Blick auf das Akw am Küstenstreifen vom Meer aus - Foto: Asacyan, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Ein steter Quell für Radioaktivität:
Akw Fukushima Daiichi, 21. November 2011
Foto: Asacyan, freigegeben als CC-BY-SA-3.0
Unported via Wikimedia Commons
In den Simulationen zur Ausbreitung der radioaktiven Strahlung wurde ausschließlich das Verhalten des Isotops Cäsium-137 (Halbwertszeit 30,17 Jahre), das in solchen Berechnungen häufig als Leitnuklid verwendet wird, berücksichtigt. Es ist aber klar, daß von der Akw-Ruine auch andere Radionuklide emittiert wurden und werden, beispielsweise Jod-131 (Halbwertszeit 8 Tage), Cäsium-134 (2,06 Jahre), Strontium-90 (28,78 Jahre) und Plutonium-239 (24.110 Jahre), um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Beispielsweise stieg zwischen Dezember 2012 und Mai 2013 die Belastung des Grundwassers im Akw Fukushima Daiichi mit Strontium-90 um mehr als das Hundertfache an. [8] Wieviel dieses "Knochenbrecher" genannten Radionuklids ins Meer geflossen ist, weiß kein Mensch. Aber sicher ist zum einen, daß ein Teil davon im Pazifik endete, und zum anderen, daß all diese Kontaminationen in den Simulationen überhaupt nicht erfaßt werden.

Der Zeitraum, in dem auf diese Weise radioaktiv "nachgeladen" und der Ozean stärker kontaminiert wird, muß nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten gemessen werden. Zum Vergleich: 1957 kam es im britischen Atomkraftwerk Windscale zu einem schweren Nuklearunfall, bei dem Uran in Brand geraten war. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später hat man mit dem Rückbau der stark verstrahlten Anlage begonnen. In Fukushima haben wir es aber mit einer ungleich größeren Menge an Spaltmaterial zu tun, das zudem unter schwierigeren Bedingungen geborgen werden muß.

Tepco schlägt als Sperrmaßnahme gegen das Eindringen von Grundwasser in die verstrahlten Bereiche vor, den Erdboden rund um den Nuklearkomplex dauerhaft viele Meter tief einzufrieren. So eine Idee, die über eine räumlich und zeitlich derart große Strecke noch nirgendwo in der Welt umgesetzt wurde, dürfte wohl ebenso wie die Zubetonierung des Meeresbodens der Kategorie Scheinlösung zuzuweisen sein. Und die Ankündigung des Unternehmens, die havarierten Meiler 1 - 4 bis zum Jahr 2040 vollständig abbauen zu wollen, ist im wesentlichen der Beruhigung der Öffentlichkeit sowie der Aktionäre geschuldet.

Mit der Bekanntgabe von allzu häufig irrelevanten Informationen, die nur dem Anschein nach zur sach- und zweckdienlichen Aufklärung der Vorgänge beitragen, versucht das Unternehmen Tepco den Eindruck zu erwecken, als erlange es nach und nach Zugriff auf den am 11. März 2011 von einem Erdbeben und anschließenden Tsunami zerstörten Nuklearkomplex. Eine Täuschung zweifellos, die nur deshalb bis heute durchgetragen werden konnte, weil sie von der japanischen Regierung und der internationalen Staatengemeinschaft gedeckt wird. Die Entscheidung für Tokio als Austragungsort der Olympischen Spiele 2020 zeigt, wie weit verbreitet der Wunsch ist, eine permanente Gefahr für den pazifischen Raum und somit für den gesamten Globus herunterzuspielen.

Angesichts der Aussicht, daß der gesamte Pazifische Ozean binnen zehn Jahren in Folge der Fukushima-Katastrophe verstrahlt werden könnte, bleiben die Anrainerstaaten relativ ruhig. Offenbar will man in China, Südkorea und den USA, die ebenfalls Atomkraftwerke betreiben, den Ruf dieser Technologie nicht "unnötig" weiter strapazieren. Wobei es sich nicht vermeiden läßt, daß hin und wieder eine gewisse Unruhe in den Regierungen in Peking, Washington und Seoul nach außen dringt. So bezeichnete es der chinesische Außenminister kürzlich als "schockierend", daß zwei Jahre nach dem Fukushima-Unfall noch immer radioaktives Wasser in den Pazifischen Ozean fließt. [9]

Zwar haben China und Japan in letzter Zeit wegen einer ungeklärten Territorialfrage hinsichtlich der Senkaku-Inseln einige diplomatische Wortgefechte ausgetragen, aber daß China seinen Nachbarn ausschließlich aus dem Grund vors Schienbein tritt, um in solchen Gebietsfragen zu punkten, ist nicht plausibel. Zumal auch andere Staaten ihre Beunruhigung zum Ausdruck gebracht haben. Südkorea hat inzwischen ein Importverbot für Fisch aus den Meeresgebieten vor acht ostjapanischen Präfekturen verhängt. [10]

Unter dem Eindruck einer Bedrohung durch das radioaktive Äquivalent zu 14.000 Hiroshima-Bomben, welches allein im Abklingbecken des havarierten Meilers 4 lagert - ausgerechnet 30 Meter über dem Boden in einer stark beschädigten Konstruktion - wurde auch im US-Kongreß über die Gefahrenlage debattiert.

Laut dem Energieberater Mycle Schneider, Hauptautor des World Nuclear Industry Status Report, steht fest, daß die Öffentlichkeit über das Ausmaß der Probleme, denen sich Japan ausgesetzt sieht, "getäuscht" wird. Das Land benötige internationale Hilfe, und zwar schnell, forderte der gebürtige Kölner und Träger des alternativen Nobelpreises in seinem Essay für CNN. Das Tankleck sei nur das letzte einer langen Liste von Anzeichen, "daß die Dinge in der Anlage fundamental falsch" laufen. Die Lage könnte sich noch sehr viel schlimmer entwickeln. Ein kräftiges Feuer der Brennelemente würde das bisherige Ausmaß der Katastrophe zwergenhaft klein aussehen lassen und könnte die von Tschernobyl freigesetzte Radioaktivität dutzendfach übertreffen. [11]

Insgesamt lagern im Akw Fukushima Daiichi mehr als 2500 Tonnen Uran und Plutonium. Alle entscheidenden Sektoren der Akw-Ruine befinden sich nicht unter Kontrolle: In den Meilern 1 - 3 sind Kernschmelzen eingetreten, von denen man nicht weiß, inwieweit sie abgeklungen sind oder ob sich nicht die strahlende Glutfracht durch die Kesselräume tiefer in den Betonuntergrund und womöglich darüber hinaus gefressen hat; und im Abklingbecken des Reaktors 4 lagern heiße Brennstäbe, die nicht geborgen werden können. Alle havarierten Meiler verfügen nur über eine Notkühlung. Die dabei verwendeten 400 Tonnen Wasser täglich müssen wieder aus den Meilern abgepumpt und gelagert werden. Das geschieht zur Zeit in Hunderten von provisorischen Tanks, die nun ihrerseits riesige Probleme bereiten, da sie anfangen, undicht zu werden.

Entgegen der landläufigen Meinung ist das Schlimmste nicht überstanden. Experten vermuten, daß inzwischen die seit über zwei Jahren freigesetzte Menge an Radionukliden größer ist als die, die nach der Anfangsphase mit mehreren Explosionen in den havarierten Meilern ins Meer gelangt war. [12] Das bedeutet, daß die in den obigen Simulationen zugrunde gelegten Werte zur Strahlenausbreitung von vornherein nur einen Teilaspekt der Katastrophe zu beschreiben vermögen. Folglich wäre es unwissenschaftlich, unter Berufung auf solche Berechnungen und Präsentationen zu behaupten, daß die radioaktiven Partikel im Pazifik nach dem dreifachen Fukushima-GAU langfristig keine Gesundheitsgefahr darstellen.

Im übrigen gibt es keine untere Grenze (Dosis) einer gesundheitsgefährdenden Strahlenmenge. Durch die Dosis wird die statistische Wahrscheinlichkeit einer Gesundheitsgefährdung beschrieben. Bereits kleinste Strahlenmengen können Krebs auslösen. Im Falle einer solchen Erkrankung von Menschen, die auf einer der vielen Inseln im Pazifik oder einem der Anrainerstaaten des Pazifischen Ozeans leben, dürfte es jedoch nahezu unmöglich sein, jemals den Nachweis zu führen, daß die Radioaktivität aus Fukushima Verursacher ihres Leids war.

Auch wenn das börsennotierte Unternehmen Tepco sicherlich sehr viel kompetenter mit der Nuklearkatastrophe hätte umgehen können und sich die atomfreundliche Regierung Japans durch Vermeidung dringend gebotener Schritte hervorgetan hat, handelt es sich bei der laufenden radioaktiven Kontamination des Pazifischen Ozeans nicht um das Versagen eines einzelnen Unternehmens oder einer einzigen Regierung, sondern um das Ergebnis einer von Anfang an unkontrollierten technologischen Entwicklung der Energieproduktion.

Die ist bekanntlich ein Abfallprodukt des Strebens nach der bislang zerstörerischsten Waffe, die der in dieser Hinsicht stets erfindungsreiche Mensch je hervorgebracht hat, der Atombombe. Mit Behauptungen wie, daß die Atomtechnologie sicher ist und es nur einmal in einer Million Jahren, also praktisch niemals, zu einem GAU kommen würde, wurde einst dieser hochsubventionierten Energietechnologie der Weg bereitet. Mit verheerenden Folgen für Leib und Leben von Millionen Menschen. Der Statistik zufolge vergehen keine zwei Jahrzehnte, bis sich irgendwo in der Welt ein GAU oder Super-GAU ereignet. In rund zehn Jahren wird der Dreifach-Super-GAU vom 11. März 2011 im Nuklearkomplex Fukushima Daiichi den gesamten Pazifik radioaktiv kontaminiert haben. Dabei wird die Konzentration an Strahlenpartikeln, von denen schon ein einziges genügt, um Krebs auszulösen, permanent weiter erhöht. Bis die Radioaktivität aufgrund der Halbwertszeit von Isotopen wie Cäsium-137 oder Strontium-90 in nennenswerter Weise abgeklungen ist, dürfte sich erfahrungsgemäß irgendwo in der Welt der nächste GAU ereignet haben.

Haus schwimmt im Meer - Foto: Mass Communication Specialist 3rd Class Dylan McCord/U.S. Navy, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

Treibgut aus Japan findet sich bereits in vielen Gebieten des Pazifischen Ozeans. Nur weil man die radioaktive Strahlung nicht sehen kann, ist sie nicht weg. US-Navy sucht in den Küstengewässern nahe Sendai, Japan, nach Überlebenden, 13. März 2011
Foto: Mass Communication Specialist 3rd Class Dylan McCord/U.S. Navy, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2013-09/japan-fukushima-atomkraftwerk-erdbeben

[2] http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/radioaktivitaet-massiver-strahlungsanstieg-an-fukushima-wassertanks-a-919722.html

[3] http://www.tagesanzeiger.ch/panorama/vermischtes/In-Tokio-schwanken-die-Hochhaeuser/story/15507982

[4] http://www.rp-online.de/panorama/ausland/tornado-verletzt-dutzende-menschen-in-japan-1.3647333

[5] Behrens, E., F.U. Schwarzkopf, J.F. Lübbecke und C.W. Böning, 2012: Model simulations on the long-term dispersal of 137Cs released into the Pacific Ocean off Fukushima. Environmental Research Letters, 7, http://dx.doi.org/10.1088/1748-9326/7/3/034004

[6] http://www.geomar.de/news/article/fukushima-wo-bleibt-das-radioaktive-wasser/

[7] Vincent Rossi et al., 2013: Multi-decadal projections of surface and interior pathways of the Fukushima Cesium-137 radioactive plume, Deep Sea Research, pt. 1: Oceanographic Research Papers 80 (October 2013): 37-46 (DOI: 10.1016/j.dsr.2013.05.015)

[8] http://www.strahlentelex.de/Stx_13_636-637_S06-07.pdf

[9] http://www.reuters.com/article/2013/08/21/us-japan-fukushima-severity-idUSBRE97K02B20130821

[10] http://www.bloomberg.com/news/2013-09-06/south-korea-bans-imports-of-japanese-fish-over-radiation-concern.html

[11] http://globalpublicsquare.blogs.cnn.com/2013/08/30/why-fukushima-is-worse-than-you-think/

[12] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/umwelt/2232713/

8. September 2013