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GEFAHR/032: Brandsatz Fukushima - menschengefährdende Verschleierungsmanöver ... (SB)




Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Die Menschen, die im Erdölfördergebiet des Nigerdeltas leben, haben ein schwerwiegendes Problem: Die Ölverseuchung ihrer Umwelt ist umfassend. Hängen sie ihre Wäsche zum Trocknen raus, setzen sich ölige Rußpartikel darauf ab; ziehen sie Salate und Gemüse im eigenen Garten auf, schmecken die daraus zubereiteten Speisen ölig; der Fisch, den sie aus einem der vielen Seitenarme des weitverzweigten Flußsystems des Niger fangen, riecht und schmeckt ebenfalls nach Erdöl. Eine treffende Kenngröße, die das Leiden der Menschen in Nigeria auf abstrakte Weise ausdrückt: Die Lebenserwartung der Bewohnerinnen und Bewohner des Nigerdeltas liegt mit 41 Jahren ganze zehn Jahre unter dem Durchschnitt des übrigen Landes.

Es soll kein Trost sein, nicht einmal ein schwacher, doch in einer Hinsicht können sich die Menschen aus dem Nigerdelta glücklich schätzen: Sie sehen, schmecken, riechen und fühlen die verseuchte Umwelt. Das gilt für die Menschen, die in die Sperrzone rund um das am 11. März 2011 havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zurückkehren sollen und einer ganz anderen, akuten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein werden, nicht. Die Strahlengefahr ist allgegenwärtig.

Menschen haben offenbar kein Sinnesorgan für Radioaktivität, sie wird von ihnen nicht wahrgenommen. Sofern sie nicht so extrem hoch ist, daß sie augenblicklich zu schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt, kann ionisierende Strahlung nur mit technischen Hilfsmitteln erfahrbar gemacht werden. Wir haben nichts anderes, und doch sind die Instrumente in vielerlei Hinsicht unzureichend, wenn es darum geht, das Ausmaß einer Strahlengefahr zu detektieren, geschweige denn, ihre tatsächliche biologische Wirkung zu erfassen.

Zu den technisch-physikalischen Schwierigkeiten der Strahlenanalyse gesellt sich das Problem der politischen Bewertung der Gefährlichkeit von Strahlung und somit der Festlegung von Grenzwerten. Vorweg geschickt: Diese wären ohne eine Nutzung der Kernenergie gar nicht erforderlich. Am weitreichendsten wären Menschen vor ionisierender Strahlung geschützt, wenn es überhaupt keine künstlichen radioaktiven Quellen gäbe.

Die behördliche Festlegung von Grenzwerten bedeutet nicht, daß einer Person, die stets unterhalb des Grenzwerts bleibt, deshalb kein Schaden zugefügt würde. Auch sehr schwache ionisierende Strahlung unterhalb der gültigen Grenzwerte kann zu Zellveränderungen und daraufhin Immunschwäche, Krebs und anderen Krankheiten führen. Darum sind Grenzwerte politische Größen. Mit ihnen wird festgelegt, wie viele Menschen die gesellschaftlichen Entscheidungsträger willens sind, unter Beibehaltung der vorherrschenden Produktionsverhältnisse zu opfern.

Aus gesundheitlichen Gründen wäre, wie gesagt, eine Nullösung am besten. Legt man die potentielle Strahlenbelastung - fachsprachlich Äquivalentdosis - einer Person auf 1 Millisievert pro Jahr (mSv/y) fest, wie es in Deutschland und vielen anderen Ländern üblich ist, läßt sich abschätzen, wie viele Menschen aufgrund dieses Grenzwerts erkranken oder frühzeitig sterben werden. Was sie bei einer Nullösung eben nicht würden.

Legte man jedoch den Grenzwert von 1 mSv/y pauschal für sämtliche Berufsgruppen fest, gäbe es wahrscheinlich weder Atomkraftwerke noch Langzeitflüge, vielleicht nicht einmal Strahlenmedizin, denn niemand dürfte langfristig die Meiler, Flugzeuge und strahlenmedizinischen Geräte bedienen, da er noch innerhalb eines Jahres die zulässige Höchstmenge an Radioaktivität erreicht hätte. Darum hat die Politik für Berufsgruppen in diesen Bereichen die Grenzwerte um das 20fache auf 20 mSv/y hochgesetzt. Die zu erwartende höhere Erkrankungsrate in den genannten Berufsgruppen wird von der Regierung einkalkuliert. Das heißt, zum vermeintlichen Wohl der Gesellschaft erkranken oder sterben Menschen vorzeitig.

Diese grundsätzlichen Ausführungen zur Grenzwertdiskussion vorweggeschickt lassen sich die Meßergebnisse besser einordnen, die die Umweltorganisation Greenpeace Japan in ihrem aktuellen Report "Reflections in Fukushima: The Fukushima Daiichi Accident - Seven Years On", Untertitel "Radiation investigations in the exclusion zone of Namie and open areas of Namie and Iitate", präsentiert. [1]

Der Bericht hätte durchaus die Brisanz, in Japan eine gesellschaftliche Debatte über den menschenverachtenden Umgang der Administration Premierminister Shinzo Abes mit den Evakuierten anzuregen. Eben deshalb, so steht zu befürchten, wird der Konter der Regierung, der für das Akw Fukushima Daiichi verantwortlichen Betreibergesellschaft TEPCO und weiterer Lobbyisten der Atomenergie darin bestehen, die Studie zu ignorieren und totzuschweigen.

Wie der Schattenblick im ersten Teil seines Brennpunkts "Brandsatz Fukushima" aus Anlaß der Veröffentlichung der Greenpeace-Studie berichtete [2] und hier nicht noch einmal im Detail wiederholt werden soll, wurden in den Städten Iitate und Namie sowie deren Umgebung teils extrem hohe Strahlenwerte gemessen, daß sie, träten sie im Innern eines Kernkaftwerks auf, den Alarm und eine Evakuierungsanordnung auslösen würden.

Bei Iitate und Namie dagegen verhält es sich genau umgekehrt. Die japanische Regierung hat im März 2017 die Evakuierungsanordnung für einige Flächen, die nach dem dreifachen GAU im AKW Fukushima Daiichi gesperrt worden waren, aufgehoben und arbeitet an dem Ziel, bis zum Jahr 2023 weitere Inseln innerhalb der hochgradig strahlenbelasteten Gebiete - euphemistisch "Schwierig-zurückzukehren-Zone", bzw. englisch "difficult to return zone" genannt - freizugeben. Die Menschen sollen zurückkehren, so daß der Eindruck von Normalität entsteht. Einen Rotalarm wie in einem Akw wird es genau nicht geben, obschon er aufgrund der potentiellen Strahlenbelastung gerechtfertigt wäre.

In dem Greenpeace-Bericht wird darauf hingewiesen, daß die Regierung den angestrebten Grenzwert der zu dekontaminierenden Gebiete von 0,23 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h), der aufgerechnet einer Jahresdosis von 1 mSv entspricht, auf jene 20 mSv anheben will, die, wie weiter oben beschrieben, normalerweise nur für besonders strahlenexponierte Berufsgruppen gelten. Einen entsprechenden Vorschlag habe der Vorsitzende der Atomaufsichtsbehörde (Nuclear Regulation Authority - NRA) im Januar dieses Jahres mit der Begründung unterbreitet, daß die gegenwärtige Zielvorgabe "ein Hindernis für die Rückkehr der Evakuierten" darstellt.

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen wird klar, was das bedeutet: Der NRA-Vorsitzende hat vorgeschlagen, ein paar Menschen mehr aufgrund der höheren Belastung mit ionisierender Strahlung über die Klinge springen zu lassen - um es unverblümt zu sagen. Mit seinem Vorstoß lotet er anscheinend schon mal die Stimmung in Regierung und Gesellschaft aus, wie diese das in letzter Konsequenz unabweisliche Todesurteil gegen einige Menschen, deren Namen und Gesichter man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht kennen kann, aufnehmen werden.

Sowohl die Messung ionisierender Strahlung als auch die Beurteilung, was die ermittelten Werte bedeuten, ist kompliziert. Es kann einen entscheidenden Unterschied machen, wo, wie und was gemessen wird. Beispielsweise hat Alphastrahlung nur eine Reichweite von ein bis zehn Zentimetern, würde also unter Umständen gar nicht registriert, wenn nicht das Meßgerät in die unmittelbare Nähe gebracht wird. Alphastrahlung ist aber sehr gefährlich, falls so ein Strahlenpartikel mit der Atmung oder Speise inkorporiert wird und in unmittelbaren Kontakt zu menschlichen Zellen gelangt.

Schwer vorstellbar, daß die angeblich dekontaminierten Flächen von Iitate und Namie so gründlich abgescannt wurden, daß dabei jeder einzelne Alphastrahler entdeckt und beseitigt wurde. Und selbst wenn man behaupten wollte, das Vorhaben sei gelungen, könnte eine Fläche im unmittelbaren Anschluß an die Messung erneut kontaminiert worden sein. Denn 70 bis 80 Prozent der Region sind bewaldet. Die Waldflächen wurden jedoch nicht dekontaminiert, sie sind ein ständiger Quell für radioaktiven Staub aus dem ursprünglichen Fallout, aber auch aus organischem Material, das zerfällt und mit Wind und Wetter weite Strecken zurücklegen kann.

Sollten die Dekontaminationsarbeiter ein Dosimeter beispielsweise am Band um den Hals oder am Gürtel tragen, würden womöglich weder Alpha- noch Betastrahler erfaßt. Letztere haben, je nach Energiegehalt, eine Reichweite von wenigen Zentimetern bis einigen Metern. Wenn nun Menschen in die von der Regierung freigegebenen Gebiete zurückkehren, werden sie sich permanent in einem Flickenteppich von harmlosen, leicht gefährlichen und sehr gefährlichen Gebieten bewegen müssen. Mehr noch, dieser Flickenteppich erwiese sich als dynamisch. Was heute als okay gemessen wurde, kann schon morgen wieder verstrahlt sein.

Bis jetzt sind nur wenige Prozent der ursprünglichen Bevölkerung von Iitate und Namie zurückgekehrt. Besonders gefährlich ist das für Kinder, denn der heranwachsende Organismus reagiert empfindlich auf ionisierende Strahlung. Es werden daher, wenn überhaupt, vor allem ältere Menschen die schwere Entscheidung treffen - vielleicht aufgrund eines ökonomischen Drucks, da die Regierung ihnen die finanzielle Unterstützung entzogen hat oder noch entziehen wird -, und nach Iitate oder Namie zurückkehren. Das kommt der Regierung entgegen, denn wenn ein Mensch älter ist und dann beispielsweise an Krebs erkrankt oder einen Herzinfarkt erleidet, könnte das immer auf "natürliche" Alterserscheinung abgeschoben werden.

Die Greenpeace-Studie zeigt am Beispiel zahlreicher Meßpunkte, aber auch anhand von Messungen, die laufend mit einem durch die Region fahrenden Auto vorgenommen wurden, die Verantwortungslosigkeit der Regierung gegenüber der Bevölkerung. Weder können die bereits freigegebenen Gebiete in Iitate und Namie als "sicher" (im Sinne des Grenzwerts von 1 mSv/y) angesehen werden, noch besteht die Aussicht, daß die bis 2023 zur Dekontamination vorgesehenen Flächen in den folgenden Jahrzehnten auch nur in die Nähe einer als unbedenklich zu bezeichnenden Radioaktivität gelangen werden.


Fußnoten:

[1] http://www.greenpeace.org/japan/Global/japan/pdf/RefFksm_EN.pdf

[2] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/brenn/ubge0031.html

10. März 2018


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