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ATOM/337: EURATOM-Manifest - Für die Kündigung des EURATOM-Vertrages (Strahlentelex)


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Nr. 674-675 / 29. Jahrgang, 5. Februar 2015

Atompolitik
EURATOM-Manifest
Für die Kündigung des EURATOM-Vertrages

Von Thomas Dersee


Auch wenn in den "atomfreien" und ausstiegsorientierten Staaten es anders scheinen mag: nicht die Erneuerbare Energie, sondern immer noch die Atomenergie wird von den "Eliten" der Atomstaaten der Europäischen Union (EU) mehrheitlich als die Ablöseenergie der fossilen Energiewirtschaft im 21. Jahrhundert gesehen. Die Atomindustrie und diese "Eliten" in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft versuchen um jeden Preis, die nukleare Stromerzeugung am Leben zu erhalten, bis mit den "Generation-IV"-Reaktoren, insbesondere einer Neuauflage Schneller Brüter, sowie mit Fusionsreaktoren (ITER) vielleicht tatsächlich noch eine "Atomrenaissance" herbeigeführt werden kann. EURATOM ist dafür der institutionelle Rahmen. Es erscheint zwar als nicht sehr wahrscheinlich, daß dies vollständig gelingt, doch der fortgesetzte immense Aufwand dafür konterkariert und bremst die positive europäische Energiewende.

Die Entscheidung der vorigen EU-Kommission am 8. Oktober 2014, noch kurz vor Ablauf ihrer Amtsperiode, Großbritannien die milliardenschwere Subventionierung des AKW Hinkley Point C (HPC) zu gestatten, ist ausdrücklich auch auf den EURATOM-Vertrag gestützt. Die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" erachtete den Hinkley Point C-Deal zwischen Großbritannien und dem Konsortium rund um den französischen Atomkonzern EDF (inklusive chinesischer Partner) als legitim und als nicht wettbewerbsverzerrend. Darunter fallen unter anderem ein auf 35 Jahre währender, garantierter Stromabnahmepreis in doppelter und dreifacher Höhe des aktuellen Marktpreises sowie weitreichende Kreditgarantien für das EDF-Konsortium. Diese Subventionsbewilligung ist nur mit dem EURATOM-Rechtsdokument aus dem Jahre 1957 möglich gewesen. Die EU-Kommission tat das, obwohl sie eine staatliche Finanzierung noch ein Jahr zuvor selbst ausgeschlossen hatte, denn die Beihilferichtlinien lassen eine solche Förderung eigentlich nicht zu. Diese Entscheidung ist ein fatales Signal, denn neben Großbritannien wollen nun auch Polen, Tschechien, Lettland, Rumänien und die Slowakei in die Atomenergie investieren. Sie werden sich gegenüber Kritik und Beschwerde- und Klageandrohungen (zum Beispiel wegen Wettbewerbsverzerrungen) wiederum auf den EURATOM-Vertrag berufen, der Unterstützung für Investitionen in Atomprojekte als einen seiner Zwecke festgelegt hat.

Deshalb mag jetzt ein geeigneter Zeitpunkt sein, um der Einsicht breiteren Raum zu verschaffen, welch enormes Gewicht der EURATOM-Vertrag als Grundlagenvertrag der EU weiterhin hat. Dafür ist das nebenstehend dokumentierte MANIFEST gedacht. Ausgearbeitet wurde es unter Mitwirkung von Privatdozent Dr. Lutz MEZ, Sozial- und Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, und dem ehemaligen grünen Bundestagsabgeordneten Hans Josef FELL, von Heinz STOCKINGER, Vorsitzender der österreichischen Plattform gegen Atomgefahren (PLAGE) in Salzburg.

In Österreich ist man in Sachen EURATOM-Bewußtseinsbildung in der Bevölkerung bereits ziemlich weit vorangekommen. Alle Oppositionsparteien sind für einen EURATOM-Austritt - zumindest als Verhandlungsmasse, um bald eine EURATOM-Revisionskonferenz zu erreichen. Bei den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP steht das allerdings bis zu einer eventuellen anderen Regierungskonstellation derzeit noch aus.

In Deutschland ist die aktuelle Regierungskoalition ebensowenig für eine Kündigung oder Revision des EURATOM-Vertrages zu haben. Dennoch ist Deutschland das "Hoffnungsgebiet". Es gab bereits mehrere EURATOM-kritische Initiativen "von oben". Schon 1989, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, hatte es auf Initiative des Saarlandes mit dem damaligen Umweltminister Jo Leinen einen Bundesratsbeschluß für eine EURATOM-Reform gegeben. Und die von der Bundeskanzlerin Angela Merkel berufene "Ethik-Kommission" für den Atomausstieg bezeichnete 2011 in ihrem Schlußdokument die Kündigung des EURATOM-Vertrages als logische Folge des Atomausstiegs in Deutschland.

Neben den bisherigen Erstunterzeichnern sollen nun, bevor es an die große Öffentlichkeit geht, zunächst noch weitere Persönlichkeiten, Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen aus dem Anti-Atom-Bereich als Unterzeichner gewonnen werden.

Strahlentelex unterstützt diese Initiative ebenfalls und wird über den weiteren Verlauf berichten.

Die österreichische Plattform gegen Atomgefahren (PLAGE) in Salzburg mit Heinz Stockinger (heinz.stockinger(at)plage.cc) und Julia Bohnert (julia.bohnert(at)plage.cc) steht fürs erste als Koordinationsstelle für die Verbreitung des Manifests auch in Deutschland zur Verfügung. Interessierte und Unterstützungswillige wenden sich bitte dorthin.

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MANIFEST für die Kündigung des EURATOM-Vertrages

Der EURATOM-Vertrag (EAG-V) begründete 1957 die Europäische Atomgemeinschaft (EAG). Er ist seitdem inhaltlich völlig unverändert. Somit ist er doppelt anachronistisch: in seiner Substanz und im Verhältnis zur heutigen öffentlichen Meinung zur Atomkraft. Bis heute zeitigt er dabei laufend EU-Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien, Kooperationsverträge usw.) und ist zugunsten der Atomindustrie hoch wirksam. Eine ganze Reihe von Institutionen beziehen ihre Legitimation aus dem EAG-V, wie etwa die Europäische Versorgungsagentur für Kernbrennstoffe.

Das oberste EURATOM-Ziel, der "Aufbau einer mächtigen Kernindustrie in Europa" (Vertrags-Präambel), ist für einen Teil der europäischen "Eliten" keineswegs so überholt, wie es in atomfreien und ausstiegsorientierten EU-Staaten scheint: die Atomenergie - nicht die Erneuerbaren - soll die große Ablösung der Fossilwirtschaft bringen. Neue Kernspaltreaktoren, insbesondere "Schnelle Brüter" (Generation-4-Reaktoren, "Astrid" in Frankreich beschlossen), und die Kernfusion (Versuchsreaktor ITER in Cadarache/Frankreich) sollen das Atomzeitalter zementieren, weit in die Zukunft hinein. Beide Reaktorprogramme werden durch das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschung und Ausbildung mit Milliarden Euro gestützt.

Diese beiden Entwicklungslinien können überdies von atommilitärischem Interesse bestimmt sein - ein plausibler Hintergrund für das eiserne Festhalten an EURATOM trotz Tschernobyl und Fukushima und trotz der veränderten öffentlichen Meinung. Explizit ausgesprochen hat dieses zivil-militärische strategische Doppelziel u.a. der französische Admiral Pierre Lacoste. Ähnliche Äußerungen existieren vom ehemaligen deutschen Generaltruppeninspekteur Klaus-Dieter Naumann und hohen europäischen Politikern wie François Mitterrand und Jaçques Delors.(1)

Das starre Festhalten an der Bastion EURATOM geht Hand in Hand mit dem undemokratischen Charakter der Atomgemeinschaft: das Europäische Parlament hat in EURATOM-Angelegenheiten nach wie vor kein Entscheidungsrecht, etwa hinsichtlich der Höhe des EURATOM-Budgets. Somit kann es das in Demokratien übliche Budgetrecht von Parlamenten nicht ausüben. Finanzierung von Atomkraftwerken durch günstige EURATOM-Milliardenkredite oder das große Forschungsbudget sind damit demokratisch nicht legitimiert.

All dies führt zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der Erneuerbaren Energiequellen (EE). Die Klage deutscher Stadtwerke gegen die steuerfreien Milliardenrückstellungen der deutschen AKW-Betreiber für die "Entsorgung" wurde vom Europäischen Gerichtshof 2006 unter Berufung auf den EAG-V abgewiesen. In ihrer Genehmigung der nie dagewesenen staatlichen Beihilfen für das britische AKW Hinkley Point C im Oktober 2014 berief sich die EU-Kommission insbesondere auch auf die Förderbestimmungen des EAG-V.

Aus Deutschland fließen jährlich dreistellige Millionenbeträge(2) in das EURATOM Forschungs-Programm. Trotz Atomausstieg und zu Lasten der eigenen und einer europäischen Energiewende! Nach dem Atomausstiegsbeschluss sind die Mitgliedschaft bei EURATOM und Zahlungen für dessen atomfördernde Zwecke vollends widersinnig geworden.

Drei Handlungsoptionen: Abschaffung, Revision (Reform), Kündigung

Die "Ethik-Kommission" für den Atomausstieg hat daher 2011 im Entwurf ihres Schlussdokuments der Bundesregierung u.a. die Kündigung des EURATOM-Vertrags als "die bessere Lösung" empfohlen.(3) Eine Kündigung liegt in der Macht jedes Mitgliedstaates. Drei Gutachten(4) aus Deutschland und Österreich bestätigen ihre rechtliche Machbarkeit, bei Aufrechterhaltung der EU-Mitgliedschaft. Im Lissabon-Vertrag ist die Austrittsmöglichkeit ebenfalls eindeutig niedergelegt. Sinnvolle Bestandteile des EAG-V lassen sich in das übrige EU-Vertragswerk überführen.

Die beiden anderen Optionen, Abschaffung oder Revision des EAG-V, benötigen die Zustimmung aller übrigen Mitgliedstaaten. Sie sind daher derzeit unrealistisch. Eine konkrete EURATOM-Reform/Revision auf Initiative des Saarlandes wurde bereits nach Tschernobyl 1989 vom Deutschen Bundesrat befürwortet. Im Zuge des EU-Verfassungsprozesses 2005 verlangten fünf EU-Regierungen (5) eine Reform des EURATOM-Vertrags. Eine entsprechende Revisionskonferenz hat jedoch bisher nicht stattgefunden. Dazu könnten die Atomstaaten allerdings eher bewogen werden, wenn ein Mitgliedstaat, zumal Deutschland, Ernst macht und zur bislang beispiellosen - und dann beispielgebenden - Tat schreitet: zur Ankündigung, aus EURATOM auszutreten! Eben dies hat der Deutsche Bundestag bereits 2003 von der Bundesregierung verlangt.

Deshalb fordern wir von der Bundesregierung und den Parteien im Deutschen Bundestag:

• Keine deutsche Förderung mehr für die atomare Option in Europa!

• Kündigung des EURATOM-Vertrags, wenn nicht binnen angemessener Zeit(6) eine Revisionskonferenz einberufen und eine echte EURATOM-Reformagenda erstellt wird!

Erstunterzeichner:
Claus BIEGERT, Journalist & Mitbegründer des Nuclear-Free Future Award (NFFA); Dipl.-Ing. Thomas DERSEE, Hrsg. des "Strahlentelex", Berlin; Hans-Josef FELL, ex-MdB (GRÜNE), Mit-Urheber des EEG; RA Dr. Dörte FOUQUET, Expertin für europäisches Energierecht; Dipl.-Ing. Wolfgang HEIN, Ministerialrat im österr. Wirtschafts- und Energieministerium, Vizepräsident von EUROSOLAR; PD Dr. Lutz MEZ, FU Berlin, REFORM Group (Restructuring Energy Systems For Optimal Resource Management); Prof. Dr. Andreas NIDECKER, Präs. IPPNW-Schweiz; Dipl.-Phys. Dr. Sebastian PFLUGBEIL, Präs. Gesellschaft für Strahlenschutz (GSS) e.V.; Prof.em. Dr. Inge SCHMITZ-FEUERHAKE, Lehrstuhl für Experimentelle Physik an der Universität Bremen, Präs. European Committee on Radiation Risk (ECRR), Vize-Präs. Gesellschaft für Strahlenschutz (GSS) e.V.; Hans SCHUIERER, Landrat i.R., Galionsfigur des Widerstandes gegen die WAA Wackersdorf; Dirk SEIFERT, Blog umweltFAIRaendern.de; Heinz STOCKINGER, Hochschullehrer i.R., Vors. Salzburger Plattform gegen Atomgefahren (PLAGE); Dipl.-Ing. Martin WINTER, Vors. Rosenheimer Solarverein (RoSolar); Günter WIPPEL, Uranexperte, Uranium Network.

Organisationen:
Arbeitsgemeinschaft bayerischer Solarinitiativen (ABSI); BI Schwandorf (Widerstand gegen die WAA); BUND Naturschutz in Bayern e.V. - Kreisgruppe Schwandorf; Cattenom Non Merci e.V., Saarland; Gesellschaft für Strahlenschutz (GSS) e.V., Germany; Franz Moll Stiftung, München; Mütter gegen Atomkraft e.V., Bayern; Nuclear-Free Future Award (NFFA), München; Rosenheimer Solarverein (RoSolar); Uranium Network, Freiburg;


Anmerkungen

1. "Wird Europa seine Ängste und Aberglauben überwinden können und fähig sein, auf dem Weg der Einheit hin zu einer völligen Beherrschung der Kernenergie fortzuschreiten? In ihrer militärischen Form ist sie zweifellos berufen, noch auf Jahre hinaus eine unersetzliche Rolle zu spielen (...). In ihrer industriellen Form vermag sie uns den Zugang zu unerschöpflicher Energie zu garantieren - die oberste Voraussetzung für Entwicklung und Wohlstand und damit für den Frieden."

P. LACOSTE, damals Präsident der Fondation pour les Etudes de Défense Nationale und einer der ranghöchsten französischen Militärs. Aus seinem Vorwort zu Olivier PIROTTE et al.: Trente ans d'expérience Euratom. - La naissance d'une Europe nucléaire, Bruylant, Bruxelles 1988. - Belege zu Mitterrand, Delors und weiteren in H. STOCKINGER: Atomstaat, zweiter Anlauf? Die zivile und militärische Integration Österreichs in die Europäische Atomgemeinschaft. Hrsg. Dachverband AntiAtomInternational, Wien 1993.

2. Die Mütter gegen Atomkraft e.V. haben zur EU-Wahl im Frühjahr 2014 die SpitzenkandidatInnen u.a. gefragt: "Wie viel Geld zahlt Deutschland jährlich für die Kernenergieförderung aufgrund des EuratomVertrags?" Darauf antworteten CDU, CSU und SPD unisono: "Der aktuelle Finanzrahmen für das EURATOM-Forschungsprogramm von 2014 bis 2018 beträgt insgesamt ca. 1,6 Mrd. Euro." Die GRÜNE Rebecca HARMS, langjährige Kennerin der Materie, hingegen: "5,077 Mrd. Euro" - Dabei ist festzuhalten, daß es mit dem EURATOM-FRP beileibe nicht getan ist: die Europäische Kernbrennstoff-Versorgungsagentur, die Abwicklung der Kredite unter EURATOM und derer der Europäischen Investitionsbank (EIB), das Instrument für die Zusammenarbeit im Bereich der nuklearen Sicherheit (früher: Unterstützungsprogramme für Osteuropa PHARE und TACIS) u.a.m. sind formal nicht allesamt unter EURATOM angesiedelte Posten, jedoch zur Finanzierung der EU-Nuklearstrukturen und -aktivitäten zu rechnen.

3. Ethik-Kommission living document Kap 1-all, 201 10504.

4. Manfred ROTTER, Universität Linz (2003); Michael GEISTLINGER, Universität Salzburg (2005); Bernhard WEGENER, Universität Erlangen-Nürnberg (2007).

5. Deutschland, Irland, Luxemburg, Österreich, Schweden, Ungarn.

6. Der Proponentenkreis kann/soll sich hier auf eine gewisse Konkretisierung einigen, z.B. eine halbe Legislaturperiode.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_15_674-675_S01-03.pdf


weitere Informationen
http://umweltfairaendern.de/2015/02/unterstuetzung-gesucht-manifest-fuer-die-kuendigung-des-euratom-vertrages/

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Februar 2015, Seite 1-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2015

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