Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → FAKTEN

DEBATTE/016: Widersprüche und Mehrdeutigkeiten der Nachhaltigkeitsdebatte (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 155 - April/Mai 2010
Die Berliner Umweltzeitung

Entweder gerecht oder gar nicht

Kopenhagen hat endgültig gezeigt: Nachhaltigkeit lässt sich nicht verordnen

Von Davide Brocchi


Selten haben die Ergebnisse einer internationalen Konferenz für eine so tiefe und breite Enttäuschung gesorgt: Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft sprach von der "Katastrophe von Kopenhagen"; die Nichtregierungsorganisation Attac von einer "reinen Farce"; der Kieler Klimaexperte Mojib Latif von "Sterbehilfe für das Weltklima". Das Scheitern des Kopenhagener Weltklimagipfels im Dezember 2009 war aber keine echte Überraschung, sondern nur das letzte gebrochene Versprechen der internationalen Entwicklungspolitik - das letzte einer langen Reihe.

Die Schere zwischen den deklarierten Zielen der Nachhaltigkeit und den realen Ergebnissen geht immer weiter auseinander. Diese Tatsache steht im erstaunlichen Widerspruch zu der breiten Zustimmung, die das Leitbild "Nachhaltigkeit" seit Jahren genießt: "Von der Weltbank bis zur Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, von der UNO bis zur EU, von den Entwicklungsagenturen bis zu den führenden Unternehmen, von Parteien und Verbänden bis zur 'Ökogruppe' vor Ort, von den Nichtregierungsorganisationen und den Grünen bis zur Internationalismus- und Umweltbewegung ist Sustainable Development der 'größte Renner'."(1) Wird zu viel über Nachhaltigkeit geredet und zu wenig nachhaltig gehandelt?

Der Widerspruch liegt leider nicht nur zwischen Reden und Handeln. Die Nachhaltigkeitsdebatte selbst ist bisher widersprüchlich und mehrdeutig gewesen.


Was "nachhaltig" heißt, ist oft das Gegenteil

Für die Kritiker war der zusammengesetzte Begriff "nachhaltige Entwicklung" (sustainable development) ein letzter Rettungsversuch der internationalen Entwicklungspolitik, die seit Ende der 1960er Jahre durch die Vertreter der sogenannten Dependencia-Theorien in Lateinamerika und auch durch die Umweltbewegung immer mehr kritisiert worden war.

Mit dem 1987 veröffentlichten "Brundtland-Bericht" der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung gelang es einerseits, den Entwicklungsbegriff durch die Verbindung mit dem Begriff der Nachhaltigkeit aufzuwerten. Andererseits belastete der Bericht den Nachhaltigkeitsdiskurs dauerhaft, indem er Kernelemente und Widersprüchlichkeiten der vorherigen Entwicklungspolitik fortschrieb. Vor allem der auf wirtschaftliches Wachstum reduzierte Entwicklungsbegriff wurde nicht in Frage gestellt. Unter dem Markenzeichen "nachhaltige Entwicklung" sollten Auswege aus der sozialen und ökologischen Krise gesucht werden, hauptsächlich durch die Behebung der bisherigen "Fehler" von Entwicklung. Das sollte aber keineswegs einen Abschied vom bisherigen nicht-nachhaltigen Produktions- und Gesellschaftsmodell bedeuten. Dieses sollte vielmehr korrigiert werden, damit es fortgesetzt werden konnte.

Bis heute ist dies die Haltung der "Mainstream-Interpretation" von Nachhaltigkeit. So wie die Entwicklungspolitik der Nachkriegszeit gesellschaftliche Entwicklung mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt und Wirtschaftswachstum gleichsetzte, bekennen sich heute die meisten Vertreter von Politik und Wirtschaft zu Nachhaltigkeit in Form von "nachhaltigem Wachstum". Bei der schwarz-gelben Bundesregierung hieß es im Dezember 2009: "Es geht nicht um Wachstum um des Wachstums willen, sondern um nachhaltiges Wachstum (...) Ein Wachstum, mit dem man an das Morgen und die nächste Generation denkt sowie unsere Lebensumwelt im Blick hat (...) Deshalb hat die neue Bundesregierung als eine ihrer ersten Maßnahmen das Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschlossen."

Der Begriff "nachhaltiges Wachstum" stellt keine verzerrte Interpretation der ursprünglichen Idee von Nachhaltigkeit dar, sondern steht mit dieser in vollem Einklang. Der Brundtland-Bericht betrachtet Wirtschaftswachstum ausdrücklich als eine notwendige Strategie der nachhaltigen Entwicklung. Dafür war die Brundtland-Kommission sogar bereit, die biophysischen "Grenzen des Wachstums" zu relativieren: "Es sind vielmehr lediglich technologische und gesellschaftliche Grenzen, die uns durch die Endlichkeit der Ressourcen und die begrenzte Fähigkeit der Biosphäre zum Verkraften menschlicher Einflussnahme gezogen sind. Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen aber sind beherrschbar und können auf einen Stand gebracht werden, der eine neue Ära wirtschaftlichen Wachstums ermöglicht."(2)

Die Agenda 21, das 1992 in Rio de Janeiro beschlossene Aktionsprogramm für nachhaltige Entwicklung, sieht Umweltschutz als Voraussetzung für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum, denn "eine intakte Umwelt liefert die erforderlichen ökologischen und sonstigen Ressourcen zur Aufrechterhaltung des Wachstumsprozesses und zur kontinuierlichen Expansion des Handels."(3) Für die Agenda 21 ist eine Liberalisierung des Welthandels eine wichtige Strategie, "um die gesetzten Umwelt- und Entwicklungsziele auch tatsächlich verwirklichen zu können."(2)

Die These der Unverzichtbarkeit von Wirtschaftswachstum, die sowohl im Brundtland-Bericht als auch in der Agenda 21 vertreten wird, hat viel zur breiten Akzeptanz der Nachhaltigkeit in Wirtschaftskreisen beigetragen.(1) Schon 1994 hatten 1.840 Unternehmen die "Charta für eine langfristig tragfähige Entwicklung" der Internationalen Handelskammer ICC unterschrieben, darunter BASF, Bayer, BMW, Daimler-Benz, RWE, Siemens, Nestlé, Sandoz und Shell. In der Charta stand: "Wirtschaftliches Wachstum schafft die Voraussetzungen für die bestmöglichste Verwirklichung von Umweltschutz."

Das soziologische Äquivalent zur ökonomischen Wachstumstheorie sind die Modernisierungstheorien, die sich durch einen festen Glauben an den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt auszeichnen. Dieser Fortschrittsmythos lebt in der Nachhaltigkeitsdebatte fort. Der Brundtland-Bericht macht nicht einmal vor der Atomenergie halt. "Wenn es keine neuen Versorgungsalternativen gibt, besteht kein Grund, warum Kernenergie nicht in den 1990er Jahren groß herauskommen sollte", heißt es dort. Zu den umweltschutzrelevanten Technologien zählt der Bericht auch die Informations- und Kommunikationstechnologien, Gen- und Biotechnologien sowie die Raumfahrttechnologie.(2)

Die Positionen, die die bisherige Nachhaltigkeitsdebatte bestimmt haben, zeigen eine merkwürdige Kontinuität zu den nicht-nachhaltigen Merkmalen des vorherrschenden Entwicklungsmodells. An dieser Stelle sollte man fragen: Wie sollen die Probleme dieser Welt mit der gleichen Denkweise gelöst werden, die sie erzeugt hat?


Was Nachhaltigkeit fördert, heißt nicht immer so

Obwohl stets betont wird, dass die "drei Säulen" der Nachhaltigkeit - die ökologische, die soziale und die ökonomische Dimension - gleichberechtigt seien, wurde bisher die Bedeutung der sozialen Dimension meistens den anderen "Säulen" unterordnet. Die Strukturen der sozialen Ungleichheit gehören zu den wichtigsten Lücken im Brundtland-Bericht, obwohl (oder vielleicht weil) sie eine zentrale Rolle bei der Un-Möglichkeit des sozial-ökologischen Wandels der Gesellschaft spielen.

Unter "Strukturen der sozialen Ungleichheit" werden hier jene politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Faktoren verstanden, die eine ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildung, Macht, Prestige, Eigentum oder Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft legitimieren, reproduzieren und verstärken. Der Begriff "Strukturen" will bewusst machen, dass die Macht der einen oft die Ohnmacht der anderen ist; dass die individuelle Selbstbestimmung der Europäer oft die Fremdbestimmung anderer Völker bedeutete; dass es keinen Reichtum ohne Armut und kein Expertentum ohne Laientum gibt - und umgekehrt.

Im Brundtland-Bericht konzentriert sich die Definition von nachhaltiger Entwicklung auf die Generationengerechtigkeit. Die Tatsache, dass diese Definition noch heute überwiegend akzeptiert wird, könnte als Beweis gelten, dass die soziale Dimension in der Nachhaltigkeitsdebatte nicht zu kurz kommt. Doch in Wirklichkeit wird das Thema "soziale Ungleichheit" oft auf die Armut in Afrika reduziert, während Machtverhältnisse oder Zusammenhänge zwischen Reichtum und Armut verschwiegen werden. Gleichzeitig werden in der Nachhaltigkeitsdebatte immer wieder die Verbraucher und die Armen als die Hauptverursacher der Umweltprobleme genannt. Sie sind nämlich diejenigen, die im Discounter kaufen und nur auf den Preis achten. Die Armen sind für das Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern verantwortlich. Armut, so der Brundtland-Bericht, "verschmutzt die Umwelt und schafft auf eine andere Weise Umweltbelastung. Jene, die arm und hungrig sind, werden oft ihre unmittelbare Umwelt zerstören, um zu überleben: Sie werden Wälder roden; ihr Vieh wird das Grasland überweiden; sie werden Grenzländer übermäßig nutzen; und in wachsender Zahl werden sie in die verstopften Städte strömen. Der kumulative Effekt dieser Veränderungen ist so weitreichend, dass Armut selber zu einem wahren Geißel der Menschheit geworden ist."(2)

Eine Kritik an konkreten Institutionen der westlichen Länder wird selten geäußert. Gerade der Brundtland-Bericht geht aber noch weiter. Er geht nämlich von der Annahme aus, dass ein noch stärkeres Wirtschaftswachstum in den Industrieländern die Voraussetzung für die Entwicklung der ärmeren Länder sei. Damit steht er in einer Linie mit den konservativsten Denkern, die ihr Entwicklungsmodell der Modernisierung Trickle-down-Effekt nannten: Eine höhere Reichtumsproduktion "oben" führt demnach zu einem Überschuss, der nach "unten", bis zu den Ärmsten, durchsickert ("trickle down") - und zwar sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen. Anders gesagt: Je mehr die Reichen aufhäufen, desto mehr Krümel fallen von ihrem Tisch.

Die Lösungskompetenz für ökologische Probleme wird hingegen den modernen industrialisierten Ländern und den Experten zugeschrieben.(1) Die in der Nachhaltigkeitsdebatte vorherrschenden Top-Down-Ansätze, die die Probleme "von oben nach unten" lösen wollen, rechtfertigen die Strukturen der sozialen Ungleichheit statt sie zu überwinden. Als "realistisch" betrachten Politiker und Experten oft nur solche Lösungen, die einen offenen Konflikt mit den vorherrschenden Interessen oder mit den Sponsoren der Wissenschaft vermeiden. Dadurch werden sogenannte End-of-pipe-Strategien wie der Ausbau von Dämmen gegen die zunehmende Gefahr von Überflutungen gegenüber "radikalen", also an den Wurzeln der Probleme ansetzenden Strategien bevorzugt.


Nachhaltigkeit kommt nicht von oben

Anfang 2009 projizierten viele Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf die "Macht": Barack Obama genoss den Ruf eines Propheten und Angela Merkel war "die Klimakanzlerin". Das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen hat dieses warme Image der Macht enttarnt. Nicht nur das Klima zwischen reichen und armen Ländern wurde dort rauer. Der harte Umgang mit der Zivilgesellschaft und zum Teil sogar mit der Presse erinnerte eher an die Selbstabschottung von G8-Gipfeln und WTO-Konferenzen als an internationale Umweltkonferenzen.

Diese neue Entwicklung könnte die Erfüllung der zehn Jahre alten Prognosen von einer "Brasilianisierung der Welt"(4) und einer "20:80-Gesellschaft"(5) sein: Den "Eliten" geht es heute nicht mehr darum, globale Lösungen für globale Probleme zu suchen, sie wollen nur noch die Privilegien eines Fünftels der Weltbevölkerung gegen den Rest schützen. Vor diesem Hintergrund könnten der Ausbau der Dämme in den Niederlanden, die Zurückweisung der afrikanischen Migranten während und nach der Überquerung des Mittelmeers und das Herausdrängen von Kritikern bei der Klimakonferenz in Kopenhagen als Analogie betrachtet werden.

Diese Logik birgt aber ein hohes Gefahrenpotenzial für die Zukunft der Weltgesellschaft. "Es droht ein Kampf aller gegen alle," warnte die US-Umweltökonomin Elinor Ostrom im Dezember 2009 in einem Interview. Sie war gerade mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt worden, weil sie in ihrer Forschung gezeigt hatte, "wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann".

Nach den so gut wie gescheiterten Top-Down-Strategien der Nachhaltigkeit weisen die Thesen von Elinor Ostrom in die entgegengesetzte Richtung. Sie plädiert für Dezentralisierung, Regionalisierung und Empowerment (Ermutigung, Selbstbefähigung, Ermächtigung). In ihrer Nobelpreis-Rede sprach Ostrom von globalen politischen Entwicklungen, in denen das Empfinden vorgeherrscht habe, Vielfalt sei Chaos und man müsse dem Chaos durch Vereinheitlichung und Zentralgewalt entgegentreten. Man habe geglaubt, nur staatliche, überregionale Instanzen könnten regionale Konflikte um begrenzte Ressourcen lösen. Ihre eigene Forschungsarbeit habe jedoch gezeigt, dass die regionalen Nutzer einer Ressource sehr wohl selbstorganisiert und verantwortlich mit dieser umgehen, auch ohne Einflussnahme einer übergeordneten Instanz - unter einer Bedingung: direkte Kommunikation muss möglich sein. "Komplexität ist nicht dasselbe wie Chaos", sagte Ostrom und beharrte mit Vehemenz darauf, dass man vertrauen müsse, statt ständig die Unfähigkeit des Menschen zur eigenständigen Problemlösung zu proklamieren: "Es gibt ein Wort, das kann ich nur wiederholen und nochmals wiederholen: Vertrauen!" Die Quintessenz ihrer Rede war: "Polyzentrische Systeme können mit Komplexität umgehen." Patentrezepte gebe es nicht. Regelwerke werden nach Ostroms Erkenntnissen am besten lokal durch die Nutzer der Ressourcen selbst ausgehandelt, denn es könnten nur solche Regelwerke und Sanktionssysteme funktionieren, denen die Betroffenen selbst zugestimmt haben.(4)

Für Jürgen Habermas kann nur eine lernfähige Gesellschaft "evolutionäre Sackgassen" - eine Finanzkrise, einen Krieg oder den ökologischen Kollaps - in ihrer Entwicklung vermeiden.(5) Da gerade die starren Strukturen der sozialen Ungleichheit diese Lernfähigkeit hemmen, ist ihre Überwindung die Voraussetzung jeder ernstzunehmenden Nachhaltigkeit.

Der Autor wurde 1969 in Rimini (Italien) geboren und lebt in Köln. Er ist Publizist und freier Dozent, unter anderem am Institut für Umweltkommunikation der Universität Lüneburg. Seine Schwerpunkte sind die kulturelle Dimension der nachhaltigen Entwicklung und die interkulturelle Kommunikation.


(1) Helga Eblinghaus, Armin Stickler: Nachhaltigkeit und Macht. Zur Kritik von Sustainable Development. IKO, Frankfurt/M. 1996
(2) Volker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht. Eggenkamp, Greven 1987
(3) Bundesumweltministerium (Hrsg.): Agenda 21. BMU, Bonn 1997
(4) Commonsblog.de zu Elinor Ostrom: www.de.wordpress.com/tag/elinor-ostrom
(5) Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2006


*


Quelle:
DER RABE RALF - 21. Jahrgang, Nr. 155, April/Mai 2010, Seite 22-23
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de

Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: 10 Euro/halbes Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2010