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FORSCHUNG/1119: Taxonomie - Wiederentdeckte Entdecker (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2014

Wiederentdeckte Entdecker

von Tim Schröder



Lange fristete die Taxonomie - die Systematik der Arten - ein Schattendasein in der Biologie. Moderne Techniken ermöglichen wichtige neue Erkenntnisse für den Schutz der Vielfalt des Lebens.

Bradysia floribunda ist ein zartes Wesen, schwarz und nur drei Millimeter lang. Und doch spielt die kleine Trauermücke aus Costa Rica eine große Rolle: Von ihr hängt die Existenz der Orchidee Lepanthes glicensteinii ab, die wiederum Nahrung und Lebensraum vieler anderer Tiere ist. Ein Teil der Lepanthes-Blüte gleicht dem Geschlechtsorgan der Bradysia-Weibchen. Es lockt Mückenmännchen an, die sich beim Kopulieren mit der Blüte mit Pollen bepudern. So tragen sie den Pollen von Blüte zu Blüte und bestäuben die Pflanzen.

Die Beziehung der Mücke und der Orchidee ist eines von vielen Beispielen für eine extreme Spezialisierung in der Natur. Und vor allem dafür, wie stark ein Lebewesen auf ein anderes angewiesen sein kann, selbst wenn es nur eine kleine Mücke ist. Solche Zusammenhänge können Forscher nur dann erkennen, wenn sie über große Artenkenntnis verfügen und Pflanzen- und Tierarten, Mücken oder Orchideen zweifelsfrei bestimmen können. Taxonomen werden diese Spezialisten genannt, die Lebewesen anhand charakteristischer Merkmale bestimmen, benennen und in den Stammbaum des Lebens einordnen - Kleinkrebse anhand von Borsten oder Laufkäfer anhand ihrer Geschlechtsorgane.


Taxonomie - vom Aussterben bedroht

Doch die Taxonomie wurde in den vergangenen Jahren stiefmütterlich behandelt. In Deutschland oder auch den USA schrumpft die Zahl der Taxonomie-Lehrstühle an den Universitäten. Oft findet die klassische taxonomische Forschung nur noch in den wissenschaftlichen Sammlungen der Forschungsmuseen statt. Die Folge: Immer weniger Biologie-Studenten erhalten eine profunde Ausbildung in der Bestimmung von Pflanzen, Tieren, Pilzen oder Mikroorganismen: Der Taxonomie geht der Nachwuchs aus.

"Das ist fatal, denn heute ist Artenkenntnis gefragter denn je", sagt Jonas Astrin, Kurator der Biobank am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig, dem Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere, in Bonn. "Durch die Zerstörung der Natur und den Klimawandel sterben Arten schneller aus, als wir sie beschreiben können." Weltweit wurden bis heute rund 1,8 Millionen Arten bestimmt. Bis zu 20 Millionen unentdeckter Arten gibt es noch, schätzen Experten; Millionen von Arten, deren Bedeutung sich heute nicht im Geringsten abschätzen lässt. "Außerdem verändern sich mit dem Klima Lebensräume", fügt Astrin hinzu. "Wie gravierend diese Veränderungen sind, können wir nur dann feststellen, wenn wir wissen, welche Arten verloren gehen oder neu einwandern."

"Durch die Zerstörung der Natur und den Klimawandel sterben Arten schneller aus, als wir sie beschreiben können."
Jonas Astrin - Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig - Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere

In der UN-Biodiversitätskonvention und anderen internationalen Abkommen wird die Bedeutung der Artenvielfalt betont. Doch es braucht Menschen, die sie erfassen, beobachten und bewerten können. Die wenigen Taxonomen, die es heute noch gibt, stehen vor einer gigantischen Inventur.


Gigantische Inventur

Früher haben Taxonomen Lebewesen ausschließlich anhand ihrer äußeren Merkmale - der Morphologie - oder ihres Verhaltens bestimmt. Seit Beginn dieses Jahrhunderts nutzen sie zunehmend genanalytische Methoden, mit denen sich anhand des Erbguts bestimmen lässt, ob Lebewesen einer bestimmten Art angehören oder nur entfernt miteinander verwandt sind. Vor zehn Jahren fürchtete mancher klassische Taxonom, die genanalytischen Verfahren könnten ihn arbeitslos machen. Heute weiß man, dass sich die klassische morphologische Taxonomie und neue molekulare Verfahren sehr gut ergänzen. Von integrativer Taxonomie ist die Rede.

Ein Beispiel ist das German Barcode of Life-Projekt (GBOL). Darin bauen seit 2012 rund 50 Experten aus 18 Forschungsinstituten zusammen mit 200 externen Artenkennern eine genetische Referenzbibliothek der deutschen Tier- und Pflanzenarten auf. Dabei werden Exemplare einer Art nicht nur in klassischen naturkundlichen Sammlungen archiviert, sondern zusätzlich Teile des Erbguts analysiert. Die Abfolge der Basenpaare in der DNA wird gleich dem Barcode auf Lebensmittel-Verpackungen als Kennzeichen einer Art gespeichert.

"Durch Genanalysen ergeben sich mitunter ganz neue Erkenntnisse."
Björn Rulik - Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig

20.000 Arten erfassen

"Durch die genetische Analyse ergeben sich mitunter vollkommen neue Erkenntnisse", sagt Astrins Kollege Björn Rulik, der ebenfalls am Museum Koenig arbeitet und im GBOL die taxonomische Arbeit koordiniert. "So zeigt die genetische Information oftmals eindeutig, dass ähnliche Tiere, die lange derselben Art zugeordnet wurden, verschiedenen Arten angehören." Nicht einmal in Deutschland seien alle Arten bekannt. "Schmetterlinge oder Säugetiere kennen wir natürlich gut, aber es gibt mehrere Tausend Mückenarten und viele andere Tiergruppen, bei denen wir nicht wirklich wissen, was draußen in der Natur eigentlich los ist." Bis 2015 wollen Rulik und seine Kollegen in Kleinstarbeit zunächst 20.000 dieser Arten erfassen.

"Es geht ja nicht nur um die Bestimmung von Käfern oder Primaten, sondern auch um neue Bakterien- oder Pilzarten."
Christian Roos - Deutsches Primatenzentrum - Leibniz-Institut für Primatenforschung

Hinweise für Artenschutz

Noch weitaus aufwendiger ist die Arbeit in den artenreicheren Tropen. Das erlebt Christian Roos vom Deutschen Primatenzentrum - Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ) in Göttingen auf seinen Reisen nach Südostasien immer wieder. Roos ist einer jener Taxonomen, die nicht nur die Morphologie der Tiere kennen, sondern auch die molekulargenetischen Methoden. Er ist Spezialist für Primaten. Umgangssprachlich gesagt: Er erforscht Affen.

Mit Peter Kappeler, dem Leiter der Abteilung Verhaltensökologie und Soziobiologie am DPZ, hat er schon einige evolutionäre Verwandtschaftsbeziehungen klären können, etwa beim Riesenmausmaki auf Madagaskar. Kappeler stellte bei Beobachtungen auf Madagaskar fest, dass sich die Tiere im Norden und Süden der Insel ganz unterschiedlich verhalten und auch unterschiedlich aussehen. Roos analysierte ihr Erbgut und stellte fest, dass es sich beim nördlichen und südlichen Typ um zwei verschiedene Arten handelt. "Dank der Molekulargenetik können wir wichtige Hinweise für den Artenschutz geben", sagt Roos. Denn Schutzgebiete lassen sich nur dann sinnvoll einrichten, wenn bekannt ist, wo welche Art vorkommt - oder ob es sich, wie beim Riesenmausmaki, um verschiedene Arten handelt. Roos nennt ein anderes Beispiel: "Früher dachten Taxonomen, dass es auf Madagaskar nur eine Wieselmaki-Art mit sieben Unterarten gibt - dank Genanalyse wissen wir inzwischen, dass es 26 Arten sind."


Mehr Zeit durch Technik

Doch Genetik ist nicht alles. Der genetische Barcode allein wäre so nichtssagend wie eine Nummer im Telefonbuch. Es braucht Taxonomen mit biologischem Hintergrund, die wissen, wie und wo eine Art lebt. Und die die Abhängigkeiten zwischen Arten wie der Mücke Bradysia und der Orchidee Lepanthes kennen. Gleichwohl kann die Genetik die Arbeit der Taxonomen erheblich erleichtern. Denn die Spezialisten verbringen viel Zeit mit Routinebestimmungen von Arten - in der Hoffnung, dabei eine Perle, eine neue Art, zu finden. Ein Beispiel sind Artenerfassungen in Nationalparks oder Biosphärenreservaten, bei denen die Experten Insekten in Fallen sammeln und der Reihe nach bestimmen. Das Problem: Die meisten Exemplare sind Allerweltsarten. "Es ist zeitraubend, wenn man zum hundertsten Mal einen Siebenpunkt-Marienkäfer bestimmen muss", sagt Björn Rulik vom Museum Koenig.

Deshalb versuchen Experten für molekulare Taxonomie, neue Technologien zu nutzen, um Zeit zu gewinnen. Das künftige Ziel ist es, den Falleninhalt weitgehend automatisch bestimmen zu lassen. Die Experten sollen sich anschließend auf die schwierigen Fälle konzentrieren, die nicht automatisch einer Art zugeordnet werden konnten. So ließen sich neue Arten schneller entdecken.

Christian Roos vom DPZ hält das für besonders wichtig: "Es geht ja nicht nur um die Bestimmung von Käfern oder Primaten, sondern auch um neue Bakterien- oder Pilzarten, die man eventuell sogar für die Produktion von Lebensmitteln oder Medikamenten nutzen könnte." Die moderne Taxonomie, betont Roos, sei damit keineswegs eine rein akademische Angelegenheit, sondern habe für den Menschen eine bislang völlig unterschätzte Bedeutung und nicht zuletzt ökonomisches Potenzial.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

• Systematik der Arten: Taxonomen ordnen Arten wie den Grauschenkel Kleideraffen anhand charakteristischer Merkmale in den Stammbaum des Lebens ein.

• Trauermücke der Gattung Bradysia - kleines Tier, große Wirkung

• Fliegenfänger: Björn Rulik sichert die Ausbeute einer
nächtlichen Sammelaktion.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft
Nr. 3/2014, Oktober 2014, Seite 16-19
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2015


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