Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → FAKTEN


FORSCHUNG/1294: Lust am Forschen - Die Geschichte der Bürgerwissenschaften (naturmagazin)


naturmagazin
Berlin - Brandenburg
Ausgabe 2/2016

Lust am Forschen
Die Geschichte der Bürgerwissenschaften

von Jürgen Herrmann


"Jeder hat das Zeug zum Forscher", sagt Prof. Dr. Johannes Vogel, Generaldirektor am Museum für Naturkunde Berlin und bringt damit eine jahrhundertelange Tradition europäischer Wissenschaft mit wenigen Worten auf den Punkt. Viele erstaunliche Highlights, glanzvolle Erfolge, bewunderte Erfindungen und Entdeckungen stehen für diese Tradition.


Bis ins 18. Jahrhundert waren Bürgerwissenschaft, Amateurforschung oder Citizen Science der Alltag für den kleinen Kreis wissenschaftlich interessierter Laien, der Gelehrten und auch für kenntnisreiche Bastler und Tüftler. Das war der Beginn eines modernen Wissenschaftsbetriebes. Im Zuge der fortschreitenden Spezialisierung der Wissenschaften, der Entstehung weiterer Disziplinen und der Gründung erster technischer Universitäten entstanden im 19. Jahrhundert neue wissenschaftliche Vereine, die Bürger gegründet hatten, sowie erste Initiativen für eine breite allgemeine Volksbildung. Eigenständige Forschungsgemeinschaften traten mit selbstgewählten Programmen und Fragestellungen an die Öffentlichkeit und standen auch Amateur-Wissenschaftlern offen. Über ihre Motivation, den Einsatz oft beträchtlicher Eigenmittel und ihre ehrenamtliche Tätigkeit, z. B. bei der Entstehung der Sammlungen, steht Interessantes im Buch "Klasse, Ordnung, Art - 200 Jahre Museum für Naturkunde Berlin" von 2010.

Forschungsprojekte, die unter Mithilfe interessierter Laien gestartet und durchgeführt wurden, oft seit vielen Jahrzehnten betrieben, umgeben uns noch heute. Hans Christian Mortensen (1856-1921), Gymnasiallehrer in Viborg, Dänemark, experimentierte mit der Markierung von Vögeln. Im Herbst 1899 beringte er erstmals 165 Stare und zwei Haussperlinge mit leichten Aluminiumringen. Seine Ringe trugen neben einer fortlaufenden Nummer auch die Jahreszahl und Retouradresse. Mortensen informierte durch Inserate, u. a. in deutschen und englischen ornithologischen und Jagdzeitschriften, über die beringten Vögel und bat um Beobachtungsmeldungen und um Rücksendung der Ringe, sofern solche Stare gesehen, gefunden oder gefangen wurden. 1900 wurden weitere 410 Stare und vier Sperlinge beringt freigelassen. Im selben Jahr erfolgten die ersten Wiederfunde: Je ein Star wurde in den Niederlanden und in Norwegen geschossen. Dieses Datum gilt als die Geburtsstunde einer neuen Forschungsmethode - der individuellen Vogelmarkierung. In Deutschland sind bis heute etwa 18 Millionen Vögel von Tausenden ehrenamtlichen Beringern markiert worden, etwa 1,5 Millionen Ringablesungen wurden zurückgemeldet. Die eindrucksvolle Auswertung der vielen gesammelten Daten über Alter, Herkunftsort, Zugstrecken und -geschwindigkeiten sowie Todesursachen ist 2014 im "Atlas des Vogelzuges. Ringfunde deutscher Brut- und Gastvögel" publiziert worden.

Weitere bekannte wissenschaftliche Projekte, die erst durch eine umfangreiche Beteiligung von interessierten Bürgern und Amateurforschern zum Erfolg führten, sind etwa das 2005 gestartete "Tagfalter-Monitoring Deutschland", der "Atlas Deutscher Brutvogelarten" und die seit vielen Jahrzehnten deutschlandweit gesammelten phänologischen Daten, die beispielsweise den Frühlingsanfang anhand der Apfelblüte von der südlichen Bergstraße bis Flensburg im Norden für das einzelne Jahr angeben.

Das alles sind beeindruckende Ergebnisse der bisherigen Bürgerwissenschaft oder Amateurforschung. Citizen Science ist mehr als ein neues Modewort für Wissenschaftsprojekte dieser Art. Es bezeichnet das neue Umfeld für die traditionelle Bürgerwissenschaft, u. a. die neuen Herausforderungen und Chancen, die der Einsatz digitaler Medien bietet. Dadurch ist es möglich, neue Zielgruppen direkt und ohne Zeitverzug zu erreichen. Andererseits sind auch der moderne Wissenschaftsbetrieb und die Freiheit der Forschung nicht unbeeinflusst und isoliert vom Diskurs der Gesellschaft. Hier werden Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Formulierung von Forschungsfragen gewünscht und Transparenzerwartungen bei der Ausstattung einzelner Forschungsprojekte geäußert. Die Zusammenführung dieser Positionen kann Citizen Science leisten.

*

Quelle:
naturmagazin, 30. Jahrgang - Nr. 2, Mai bis Juli 2016, S. 10 - 11
Herausgeber: Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin
Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V., Landesverband Brandenburg
Naturschutzfonds Brandenburg/Naturwacht
Natur & Text GmbH
Redaktion: Natur & Text GmbH
Friedensallee 21, 13834 Rangsdorf
Tel.: 033708/20431, Fax: 033708/20433
E-Mail: verlag@naturundtext.de
Internet: www.naturundtext.de
Internet: www.naturmagazin.info
 
Das naturmagazin erscheint vierteljährlich und kostet 4,30 Euro
oder 16,50 Euro im Abonnement (4 Ausgaben). Schüler, Studenten und
Mitglieder eines Naturschutzverbandes zahlen jährlich 12,50 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang