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FORSCHUNG/1394: Freiluftlabor zwischen Ebbe und Flut (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 61 - Ausgabe 2016
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Freiluftlabor zwischen Ebbe und Flut

von Katja Lüers


Etwas Vergleichbares gibt es nicht: Die künstlichen Inseln vor Spiekeroog gehören zu einem einzigartigen Großprojekt. Marine und terrestrische Ökologen und Biologen sammeln neue Erkenntnisse für die Biodiversitätsforschung


Haematopus ostralegus ist kein seltener Vogel im Watt - im Gegenteil, der Austernfischer mit seinem roten Schnabel und dem schwarzweißen Gefieder ist an der Nordsee allgegenwärtig. Doch im vergangenen Sommer sorgte er bei Prof. Dr. Michael Kleyer und seinem Team vom Institut für Biologie und Umweltwissenschaften (IBU) für außergewöhnlich große Begeisterung: Ein Austernfischer-Pärchen hatte ein Nest gebaut - und zwar erstmals auf einer der zwölf künstlichen Inseln vor Spiekeroog, die der Landschaftsökologe im Sommer 2014 mit Studierenden, Doktoranden und Postdoktoranden installiert hat. Schon von der Fähre aus sind die Metallcontainer gut zu sehen; in der Sonne blitzen sie auf, bei Regen und Sturm erinnern sie an kleine Trutzburgen. Dass es sich um ein weltweit einmaliges Großprojekt handelt, lässt sich vom Schiff aus nicht erahnen.

In dem Verbundprojekt "BEFmate" (Biodiversity effects on ecosystem functioning across marine and terrestrial ecosystems) arbeiten erstmals marine und terrestrische Wissenschaftler der Universitäten Oldenburg und Göttingen Seite an Seite, um gemeinsame, disziplinübergreifende Erkenntnisse für die Biodiversitätsforschung zu gewinnen. Auf einer Gesamtfläche von 120 Quadratmetern ist ein riesiges Freiluftlabor entstanden - ein wissenschaftlicher Garten Eden für Biologen, Geologen, Ökologen und Umweltwissenschaftler. Acht Doktoranden und mehrere Postdoktoranden aus Oldenburg und Göttingen dokumentieren, wie aus Wattgemeinschaften Salzwiesengemeinschaften entstehen, wie aus einem zunächst marinen ein vorwiegend terrestrisches Ökosystem entsteht. Sie untersuchen in einem der dynamischsten Lebensräume Europas die funktionelle Bedeutung der Artenvielfalt und wie sie sich mit ansteigendem Meeresspiegel verändert - ein Thema, das vor dem Hintergrund des globalen Klimawandels immer mehr an Bedeutung gewinnt.


Unterwegs mit Schaufeln und Schubkarren im UNESCO-Weltnaturerbe

"Die künstlichen Inseln helfen uns, zu verstehen, wie sich Pflanzen- und Tiergemeinschaften, aber auch ganze Ökosysteme neu zusammensetzen, wenn neue Inseln im Wattenmeer entstehen würden. Es ist also ein Experiment, das diesen Prozess nachstellt und wissenschaftlich analysierbar machen soll", erklärt Kleyer. Er hat den Bau der künstlichen Welten koordiniert und organisiert - ein Knochenjob, denn außer Schaufeln und Schubkarren durften die Forscher in dem hoch geschützten UNESCO-Weltnaturerbe keine anderen Hilfsmittel einsetzen. Doch das Projekt begann zunächst mit einem herben Rückschlag: Die ersten Inselkonstruktionen aus dem Sommer 2013 zerfetzte der Orkan "Xaver" im Dezember schonungslos. "Wir waren ziemlich enttäuscht", erinnert sich Kleyer, aber das Team ließ sich nicht entmutigen und wagte einen zweiten Anlauf - mit Erfolg. Die neuen Metallkörbe aus schwerem Schiffsstahl trotzen nun seit gut zwei Jahren Wind, Wetter und den Sturmfluten. In einem Abstand von etwa 300 bis 500 Metern zur Salzwiese nahe Wittbülten warten sie darauf, erobert zu werden - von Pflanzensamen, die das Meer anspült oder der Wind herüberträgt, aber auch von Insekten, Würmern oder Vögeln - wie dem Austernfischer.

Die Forscher wollen jedoch nicht nur wissen, welche Pflanzen und Tiere als erste die Barriere zwischen neuer und alter Heimat überwinden, sondern auch, wie sie sich gegenseitig beeinflussen: Wer verdrängt wen? Welche Bedeutung haben die Gemeinschaften für das neue Ökosystem? Wie viel neue Biomasse entsteht durch den Besiedlungsprozess und wie viel Kohlendioxid wird gespeichert?

Um all diese Fragen zu beantworten, wandern die Wissenschaftler ganzjährig bei Ebbe zu den Inseln. Sechs Stunden bleiben ihnen jedes Mal, um wichtige Faktoren wie Salzgehalt, Temperatur oder Bodenfeuchte zu messen und die Pflanzen und Tiere zu protokollieren, die sich dort niedergelassen haben. Während die einen also unter freiem Himmel arbeiten, sitzen die anderen in Oldenburg und Göttingen an Computern und entwickeln mithilfe der gewonnenen Daten Modelle für langfristige Prognosen oder stehen im Labor und entwerfen vereinfachte Ökosysteme. All diese Puzzleteile tragen die Forscher am Ende zusammen, um Evolution in ihren Grundzügen zu verstehen.

Die Besiedelung der Miniatur-Inseln ist ein dynamischer Prozess, der sich über Jahre hinzieht - zu langsam für das zunächst nur auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt, das 2017 endet. "Es ist ein Dauerversuch: Hier geht es um den Aufbau von Generationen von Pflanzen, die uns fundierte Antworten auf drängende Fragen liefern könnten. Wir hoffen auf eine Verlängerung von zwölf Jahren, aber noch ist die Finanzierung nicht gesichert", sagt Kleyer. Ökologische Prozesse brauchen einfach Zeit - vor allem in einem derart dynamischen Lebensraum wie der Küste: Gleichgewichtsbedingungen wie im Ökosystem Wald bilden sich in diesem Lebensraum nicht aus. Die Konstante im Wattenmeer ist das Wechselspiel von Ebbe und Flut.


Drei Überflutungszonen für unterschiedlich lange Salzwasserduschen

Jedes Inselchen hat eine Grundfläche von zwölf Quadratmetern und besteht aus drei Höhenstufen. Die simulieren die drei Überflutungszonen der Salzwiesen und sorgen dafür, dass die Pflanzen unterschiedlich häufig den "Salzwasserduschen" ausgesetzt sind. So müssen die Pflanzen in der sogenannten Pionierzone besonders robust sein: Queller und Schlickgras halten zweimal täglich stundenlang den Überflutungen stand. Dieser ewigen Kampfzone zwischen Meer und Land schließt sich die untere Salzwiese an. Auch sie wird täglich überflutet, aber nur wenige Zentimeter und mit bis zu 30 Minuten deutlich kürzer als die Pionierzone. Typische Vertreter sind Arten wie Andelgras und Strandflieder. Die obere Salzwiese wird nur bei Sturmfluten oder Springtiden überschwemmt. Hier sind Quecke, Salz-Rotschwingel und Strandgrasnelke zu Hause.

"Unsere Hypothese zu dieser starken Zonierung ist, dass zum stressigen Ende eines Gradienten die Pflanzen durch ihre physiologische Fähigkeit limitiert werden, mit dem Salzfaktor und den Überschwemmungen umzugehen, während die Pflanzen auf der lebensfreundlichen Seite durch Konkurrenz anderer Arten limitiert werden", so Kleyer. Um die These zu verifizieren, legten die Forscher sechs Flächen in Spiekeroogs Salzwiesen an, die sie komplett von Pflanzen und Wurzeln befreiten, um jeglichen Konkurrenzfaktor zu beseitigen. "Dann sollten auch jene Pflanzen, die wir am stressigsten Ende des Gradienten finden, also Queller und Schlickgras, dort wachsen, wo es am lebensfreundlichsten ist, nämlich in der oberen Salzwiese", sagt Kleyer. Langfristig aber würden sie wieder von den Arten der oberen Salzwiese in unmittelbarer Nachbarschaft verdrängt werden, da diese konkurrenzfähiger sind. Die bisherigen Beobachtungen und gewonnenen Daten scheinen die Hypothese zu bestätigen.


Stresstest für die Pflanzen: Wie stark ist ihre Widerstandskraft?

Ähnlich "nackt" wie die Flächen in der Salzwiese haben die Forscher sechs der zwölf Inseln angelegt und nur mit Sand befüllt. Hier kommt neben dem Konkurrenzfaktor ein weiterer Faktor ins Spiel: die Ausbreitung. Welche Pflanzensamen machen - fernab von Spiekeroog - zuerst das Rennen und wer setzt sich langfristig in der Gemeinschaft durch? Erste Trends zeichnen sich ab: Die Hypothese, dass auf den Inseln vor allem Pflanzenarten wachsen, die sich am besten ausbreiten, können Kleyer und sein Team bestätigen: "Manche Samen schwimmen, andere bringt der Wind. Exemplare solcher Arten haben wir auf den künstlichen Inseln auch in den Zonen gefunden, auf denen sie in der Salzwiese sonst nicht vorkommen, weil sie dort von konkurrenzstärkeren Arten verdrängt werden." Damit wird deutlich: Wird die Ausbreitung erschwert, dauert es viel länger, bis sich ein Gleichgewicht einstellt, das Forscher aus der natürlichen Salzwiese kennen.

Die anderen sechs Inseln haben die Forscher bepflanzt: "Wir haben Vertreter der unteren Salzwiese sowohl in die Zone der oberen Salzwiese verpflanzt als auch in die Pionierzone", erklärt Kleyer. Damit setzen die Wissenschaftler die Pflanzen gezielt Stress aus und schauen, wie sie den erhöhten Meeresspiegel und veränderte Umweltbedingungen verkraften. Wie lange dauert es, bis sie absterben oder durch konkurrenzfähigere Pflanzen ersetzt werden? Wie stark ist ihre Widerstandskraft? Fragen, auf die - mit Blick auf einen steigenden Meeresspiegel, häufiger auftretende Wetterextreme, eine veränderte Artenvielfalt und Bioinvasionen - dringend Antworten gefunden werden müssen. Kleyer und sein Team gehen davon aus, dass Andelgras und Co. in der Pionierzone schnell absterben, da sie zu oft überschwemmt werden und mit dem hohen Salzgehalt nicht zurechtkommen. Sie machen den Vertretern der Pionierzone Platz. "Das können wir mit Daten belegen", erläutert Kleyer.

Anders sieht es aus, wenn Andelgras und Salzmelde in die obere Salzwiesenzone der künstlichen Insel verpflanzt werden - zunächst völlig konkurrenzlos. "Unsere Annahme war, dass die Pflanzen dort prima wachsen, bis die konkurrenzstärkeren Arten der oberen Salzwiese sich eines Tages ansiedeln und Andelgras und Salzmelde verdrängen. Doch diesen Prozess sehen wir noch nicht, weil er viel länger dauert als auf den Vergleichsflächen auf den Spiekerooger Salzwiesen", erklärt Kleyer. Dort können sich die Pflanzensamen der oberen Salzwiese viel schneller ausbreiten, weil sie nicht die Watten als räumliche Barriere zwischen Spiekerooger "Festland" und künstlichem Eiland überwinden müssen.

Zweifelsohne gehört das Großprojekt zu den wichtigsten Forschungsvorhaben der vergangenen Jahre im Nationalpark Wattenmeer. Indem die Wissenschaftler verstehen, wie sich Gleichgewichte in Pflanzen- und Tiergemeinschaften einstellen, wie Ökosysteme entstehen und welche Faktoren dazu beitragen, dass bestimmte Arten überleben oder aussterben, lassen sich künftig Vorhersagen zur Biodiversität und zu den Ökosystemfunktionen konkretisieren. Spiekeroog ist also nicht nur ein touristisches Juwel, sondern entwickelt sich zunehmend zu einem Biodiversitäts-Forschungsstandort mit internationaler Strahlkraft.

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Quelle:
Einblicke Nr. 61, 31. Jahrgang, Seite 24-26
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2017

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