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FORSCHUNG/1395: Die Alleskönner der Meere (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 61 - Ausgabe 2016
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Alleskönner der Meere

von Birgit Bruns


Sie vermindern den Treibhauseffekt, versorgen Algen mit Vitaminen und unterstützen Fische beim Wachsen: marine Roseobacter-Bakterien. Meinhard Simon erkundet die wandelbaren Kleinstlebewesen in einem Sonderforschungsbereich


Eine Bibliothek voller Mutanten - was nach Horrorfilm klingt, ist tatsächlich biologische Forschung auf höchstem Niveau. 4.000 Bakterien mit genetischen Abweichungen halten die Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs (SFB) "Roseobacter" parat - in kleinen Plastikröhrchen, eingefroren bei minus 80 Grad. Sie stehen auf "Standby", können jederzeit aktiviert werden. Diese absichtlich veränderten Kleinstlebewesen dienen als Vergleichsmaterial für verschiedene Analysen an "richtigen" Organismen. Alles für ein Ziel: die Bakterien der Roseobacter-Gruppe zu enträtseln, um dem Geheimnis ihres Erfolgs auf die Spur zu kommen.

Dieser Vision hat sich Prof. Dr. Meinhard Simon vor beinahe 20 Jahren verschrieben. Der Mikrobiologe am Oldenburger Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) ist Sprecher des SFB "Ökologie, Physiologie und Molekularbiologie der Roseobacter-Gruppe: Aufbruch zu einem systembiologischen Verständnis einer global wichtigen Gruppe mariner Bakterien": 80 Wissenschaftler - vom Doktoranden bis zum Professor - enträtseln an den drei Standorten Oldenburg, Braunschweig und Göttingen die Besonderheiten dieser Bakteriengruppe. Unter ihnen sind Mikrobiologen, Physiologen, Ökologen, Genetiker, Genomiker, Biotechnologen, organische Chemiker und Geochemiker. "Wir haben die führenden deutschen Experten zu diesem Forschungsfeld beieinander. So können wir alle denkbaren Fragestellungen nahezu perfekt abdecken", sagt Simon.

Und derer gibt es viele. "Diese Bakterien können so ziemlich alles", sagt der Wissenschaftler. Sie kommen in allen Ökosystemen der Weltmeere vor - von der Oberfläche bis in die Tiefsee und von den Tropen bis in die Polargebiete. Sogar in sauerstofffreien Sedimenten und im Packeis siedeln sie. Nicht ohne Grund gelten sie als die "Opportunisten" unter den Meeresbakterien, können sich so gut wie keine andere Gruppe an veränderte Bedingungen anpassen. "Da sind sie wirklich einzigartig", sagt Simon und fährt fort: "Wir alle sind ihnen vermutlich schon einmal begegnet - auf Seetang, Muscheln, Schnecken, Seesternen, aber auch Würmern." Insbesondere im Freiwasser spielen sie eine große Rolle.

Die Geschichte vom Oldenburger Wissenschaftler und seinen "Alleskönner-Bakterien" beginnt im Herbst 1997. Simon richtet sich gerade als neuberufener Professor an der Universität Oldenburg ein, als das Land Niedersachsen ein Programm zur biotechnologischen Nutzung von Meeresbakterien startet. Er steigt ein - mit Erfolg: "Wir hatten das Glück, tatsächlich ein Bakterium isolieren zu können, welches ein sehr effektives Antibiotikum erzeugt." Es war eng verwandt mit einem bereits entdeckten, aber wenig untersuchten Bakterium, das die Wissenschaftler dann im Vergleich näher analysierten. Beide Bakterien erwiesen sich als äußerst interessant, da sie nicht nur das Antibiotikum Tropodithietsäure, sondern auch andere Naturstoffe produzieren können, von denen verschiedene Lebewesen in der Umgebung profitieren: Zum Beispiel Vitamin B12, das Algen beim Wachsen hilft. Die Forscher gaben ihm den Namen "Phaeobacter inhibens T5" - es ist das erste "Oldenburger" Roseobacter-Bakterium. Der neu entdeckte Organismus ist stäbchenförmig und etwa drei Mikrometer lang, wobei ein Mikrometer dem Millionstel eines Meters entspricht.

In den kommenden Jahren stießen die Forscher um Simon immer wieder auf Mitglieder dieser Bakterienfamilie - egal ob im Wattenmeer, in der Nordsee oder während einer Forschungsfahrt in das Südpolarmeer. "Damals wurde uns klar, dass diese Gruppe unglaublich interessant ist", erinnert sich der Wissenschaftler. Die US-amerikanische Moore-Foundation und das Niedersächsische Wissenschaftsministerium finanzierten die ersten Genom-Analysen. "Da hatten wir schon fast alles zusammen, was wir brauchten, um einen SFB zu beantragen", sagt Simon. Mit Erfolg: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligte den Antrag im November 2009. "Wir haben uns sehr gefreut. Es ist wie eine Belohnung für die enorme Arbeit, die wir in das Thema hineingesteckt hatten", sagt Simon. Doch dann ging es erst richtig los.

45.000 Liter aus dem Pazifik

Auckland, 1. Mai 2016: Bei strahlendem Sonnenschein stechen 40 Wissenschaftler mit dem Forschungsschiff "Sonne" in See. Vor ihnen liegen 34 Tage auf dem offenen Pazifik, Anfang Juni sollen sie in Alaska ankommen. Die Wissenschaftler wollen Proben aus den verschiedenen biogeografischen Provinzen des Ozeans gewinnen. Die Gebiete unterscheiden sich - ebenso wie Provinzen an Land. Wie leben die Bakterien der Roseobacter-Gruppe mit anderen Bakterien in den einzelnen Provinzen zusammen? Dies ist eine der Fragestellungen, denen die Forscher auf den Grund gehen wollen. Dafür schöpfen sie insgesamt 45.000 Liter Wasser aus dem Pazifik, an 19 verschiedenen Stationen. Alles läuft glatt, auch der Transport der Proben in riesigen Kühlboxen nach Oldenburg. Nun folgt die Auswertung, sie wird Jahre dauern.

"Die Sonne-Fahrt war ein voller Erfolg", bilanziert Simon schon jetzt. Das hochmoderne Schiff - dessen Heimatinstitut das ICBM ist - sei eine hervorragende Plattform für solche Arbeiten. Auch der Komfort an Bord sei hervorragend: Die Messe, also der Essraum, liege weit oberhalb der Wasserlinie - mit großen Panoramafenstern. "Das hat schon etwas was für sich, wenn man solch eine Aussicht hat." Eine weitere Forschungsfahrt mit der "Sonne" ist von Januar bis Ende Februar 2017 geplant, es geht von Neuseeland bis in die Subantarktis. "Dann haben wir praktisch den gesamten Pazifik erfasst, von der Subarktis bis in die Subantarktis. So etwas hat es noch nicht gegeben bisher, auch nicht für andere Meeresbakterien", sagt Simon.

Wochenlang auf einem Schiff leben, tausende Liter Wasser schöpfen, filtrieren, im Labor analysieren - sind diese winzigen Lebewesen wirklich diese Mühe wert? "Definitiv", sagt der Mikrobiologe. Zwar wissen die Forscher bisher immer noch vergleichsweise wenig über die Rolle, die die Bakterien für ihre Umgebung spielen. Doch das, was bereits bekannt ist, klingt vielversprechend: Ihr reger Stoffwechsel hilft den Lebewesen ihrer Umgebung, denn Algen können beispielsweise Vitamin B12 nicht selbst produzieren. Das kann sogar den Menschen zugutekommen: In vielen Kulturen gilt der Verzehr von Algen als gesundheitsfördernd. "Wir glauben, dass die Algen deshalb so gesund sind, weil Roseobacter darauf sitzen und die Menschen von ihren Vitaminen profitieren", sagt Simon. Ein Bakterium der Roseobacter-Gruppe, das das oben genannte Antibiotikum produziert, wird mittlerweile in der Aquakultur eingesetzt. Es schützt Fischlarven vor schädlichen Keimen.

Wolken für ein gesundes Klima

Roseobacter tragen außerdem zu einem gesunden Klima bei, indem sie - im Zusammenspiel mit Algen - die Wolkenbildung fördern. Geraten Algen unter Stress, beispielsweise bei hohen Temperaturen, produzieren einige von ihnen eine Schwefelverbindung, die von Roseobacter-Bakterien zu Dimethylsulfid umgewandelt wird. Dieses steigt in die Luft auf und lässt letztlich Wolken entstehen. Die Wolken blockieren das Sonnenlicht, es wird kühler. Bei fallenden Temperaturen zeigen sich die Algen beruhigt: Sie produzieren weniger Schwefelstoffe, die Bakterien haben weniger Material zum Umwandeln, die Wolkenbildung geht zurück. Ohne den Beitrag der Roseobacter-Bakterien würde diese natürliche Klimaanlage nicht funktionieren. Einige Wissenschaftler sind gar der Auffassung, dass Algen und Bakterien mancherorts die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung neutralisieren könnten. So weit möchte Simon zwar nicht gehen, doch auch er ist überzeugt: "Einen Beitrag für ein gesundes Klima leisten die Roseobacter in jedem Fall."

Mittlerweile befindet sich der SFB in seiner zweiten Förderphase. Um nicht in der Vielfalt der Roseobacter-Bakterien zu "ertrinken", beschäftigen sich die Forscher schwerpunktmäßig mit zwei Vertretern: "Phaeobacter inhibens", der in der Arbeitsgruppe Simon bereits seit Beginn des Jahrtausends untersucht wird, und "Dinoroseobacter shibae". Dieser hat zwar keinen so vielseitigen Stoffwechsel vorzuweisen, aber andere beachtliche Fähigkeiten: Er kann Licht als Energiequelle nutzen und sogar in sauerstofffreien Umgebungen überleben. Fortlaufend entdecken Wissenschaftler Bakterien, die stammesgeschichtlich der Roseobacter-Gruppe zuzuordnen sind, quasi neue Verwandte. Wie viele Verzweigungen es in diesem Familienstammbaum gibt? Hunderte - und es werden immer mehr. "Da ergeben sich neue Fragestellungen fast von selbst. Genau das macht es so spannend", findet Simon.

In der ersten Phase des SFB von 2010 bis 2013 ging es vor allem um den Stoffwechsel der Bakterien, wie er genau funktioniert und was die Abbauprodukte für Auswirkungen auf andere Lebewesen haben - wie beispielsweise die Algen, die von den Vitaminen profitieren. In den vergangenen zwei Jahren standen dann genomische Untersuchungen im Vordergrund, also das Beschreiben des Erbguts und welche Rolle es für das Stoffwechselgeschehen spielt. Seitdem kommt die Mutantenbibliothek ins Spiel: "Ein phantastisches Instrument, um sehr gezielt Fragestellungen beantworten zu können", findet Simon. In einem Teilprojekt erforscht ein Team unter Leitung des Oldenburger Meeresforschers Prof. Dr. Thorsten Brinkhoff beispielsweise, wie Algen reagieren, wenn ein Bakterium plötzlich bestimmte Substanzen nicht mehr ausscheidet. Dafür bringen sie eine Mutante, die aufgrund einer genetischen Veränderung einen bestimmten Signalstoff nicht produzieren kann, mit einer Alge zusammen. Dann vergleichen sie das Ergebnis mit dem Zusammenspiel von Alge und herkömmlichem Bakterium. So setzen sie Stück für Stück das Puzzle des perfekt aufeinander abgestimmten Wechselspiels der Organismen im Meer zusammen.

Die Forscher des SFB sind überzeugt, noch so manches Rätsel dieser entscheidenden Meeresbakterien lösen zu können. Im kommenden Jahr steht die Beantragung der dritten Förderphase an, und Simon gibt sich zuversichtlich. Offene Fragen gibt es jedenfalls genug.

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Quelle:
Einblicke Nr. 61, 31. Jahrgang, Seite 21-23
Herausgeber:
Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2017

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