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FORSCHUNG/882: Doppelter Stress für kleine Krebse - Folgen von Klimawandel und Chemikalien (UFZ-Spezial)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Spezial Oktober 2012: Chemikalien in der Umwelt

Doppelter Stress für kleine Krebse

von Tilo Arnhold



Der Baikalsee ist ein See der Superlative. Er gilt nicht nur als tiefster und ältester See der Erde, sondern speichert auch eine kaum vorstellbare Menge an Süßwasser. Sein Wasser allein würde theoretisch reichen, um die ganze Weltbevölkerung ein halbes Jahrhundert mit Trinkwasser zu versorgen. Auch wenn der Baikal weit weg von den Industriezentren der Erde ist, unberührt vom globalen Wandel ist er schon lange nicht mehr. Der Klimawandel hat dafür gesorgt, dass sich das kristallklare Wasser an der Oberfläche langsam erwärmt. Grad in einem halben Jahrhundert klingt wenig, könnte aber für das einzigartige Ökosystem, das in dieser Form seit Millionen von Jahren existiert, auf Dauer zu viel sein.

Im See leben über 1.500 Tierarten, zwei Drittel davon nur hier. "Das ist eine der Besonderheiten, die den Baikal für uns Forscher so interessant macht", erklärt Dr. Maxim Timofeyev vom Baikal Research Center in Irkutsk. "Weshalb kommen diese endemischen Arten nur hier vor und andere Arten, die sonst überall in diesen Breiten zu finden sind, nicht? Wir vermuten, dass die endemischen Arten besser an die ganz spezifischen Bedingungen des Baikalsees, aber nicht an die anderer Gewässer angepasst sind." Ob die Spezialisten hier in Zeiten des Klimawandels immer noch im Vorteil gegenüber den Generalisten sind, wollen die russischen Wissenschaftler nun zusammen mit deutschen Kollegen herausfinden. Beim Projekt "LabEglo" (Lake Baikal and biological effects of global change) arbeiten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen des UFZ, der Universität Leipzig, des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) sowie des Baikal Research Centers und der Universität Irkutsk zusammen. Gefördert wird das Projekt von der Helmholtz-Gemeinschaft und der Russischen Stiftung für Grundlagenforschung.

Während die russischen Biologen jahrzehntelange Beobachtungsreihen in das Projekt einbringen, steuern die deutschen modernste Labortechnik bei. "Taxonomisch sind diese Arten gut untersucht, aber über genetische Grundlagen ist bisher kaum etwas bekannt. Der Einsatz von Hightech könnte uns nun völlig neue Einblicke erlauben", berichtet Dr. Till Luckenbach vom UFZ. Dem Zellbiologen, der auch schon mehrere Jahre in den USA gearbeitet hat, ist das Kribbeln anzumerken, das Forscher immer dann befällt, wenn sie wie die großen Entdecker früherer Jahrhunderte die Chance wittern, weiße Flecken auf der wissenschaftlichen Landkarte zu entdecken. Der weiße Fleck für Luckenbach sind die Veränderungen auf Zellebene, die Chemikalien auslösen. Normalerweise haben Zellen verschiedenste Mechanismen entwickelt, um sich gegen Chemikalien oder andere Stress verursachende Umweltfaktoren zu schützen, wenn sie es nicht im Laufe der Evolution verlernt haben. So fehlt arktischen Fischen beispielsweise ein bestimmtes Protein, das die Zellen bei Temperaturanstieg intakt hält. "Wir vermuten, dass viele der Arten an die sehr konstanten Bedingungen mit geringen Temperaturschwankungen des extrem sauberen Wassers im Baikalsee so stark angepasst sind, dass deren Zellen die Fähigkeit verloren haben, Temperaturschwankungen und organische Schadstoffe zu tolerieren." Neben dem Temperaturanstieg nehmen Nährstoffe und Chemikalien im Wasser zu. Die berüchtigte Zellstofffabrik in Baikalsk ist nur eine Ursache. Veränderte Landnutzung in der Mongolei, dessen nordwestliche Flusseinzugsgebiete in den Baikal fließen, trägt ebenfalls dazu bei.

Um diesen Wandel unter die Lupe zu nehmen, haben die Wissenschaftler Eulimnogammarus verrucosus ins Visier genommen. Ein kleiner, blau-grüner Bachflohkrebs, der nur hier im UNESCO-Weltnaturerbe lebt, dessen Verwandte aber das ganze nördliche Eurasien erobert haben. Das ermöglicht gute Vergleiche. Die kleinen Krebstiere stellen einen hohen Anteil der gesamten Biomasse, besiedeln verschiedenste Bereiche des Sees und sind ein wichtiges Glied in der Nahrungskette. Sollten sich die Befürchtungen bewahrheiten, dann könnten die Jahrzehnte der auf den Baikal spezialisierten Arten gezählt sein und sie in Zukunft von ihrer Weltenbummler-Verwandtschaft verdrängt werden. Doch vorher hat der bisher nur Spezialisten bekannte E. verrucosus zumindest die Chance, in die Geschichte der Ökotoxikologie einzugehen. Er könnte wichtiges Grundlagenwissen liefern, welche Risiken Klimawandel und Chemikalien für die Ökosysteme des Planeten bergen. Denn dieser doppelte Stress steht Organismen auch andernorts bevor.

UFZ-Ansprechpartner:
Dr. Till Luckenbach
Dept. Bioanalytische Ökotoxikologie

e-mail: till.luckenbach[at]ufz.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Der Bachflohkrebs Eulimnogammarus verrucosus lebt ausschließlich im Baikalsee. Die kleinen Krebstiere sind ein wichtiges Glied in der Nahrungskette dieses UNESCO-Weltnaturerbes. Klimawandel und Chemikalien könnten dafür sorgen, dass die auf den Baikal spezialisierte Art von ihrer Verwandtschaft verdrängt wird.

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Quelle:
UFZ-Spezial Oktober 2012: Chemikalien in der Umwelt, Seite 7
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2012