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GESCHICHTE/027: Der vergessene Vordenker - Wachstumskritiker Nicholas Georgescu-Roegen (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 183 - Dezember 2014/Januar 2015
Die Berliner Umweltzeitung

Der vergessene Vordenker
Wachstumskritiker Nicholas Georgescu-Roegen starb vor 20 Jahren

von Jörg Parsiegla



In der Online-Ausgabe einer großen, überregionalen linken Tageszeitung war kürzlich ein ausführlicher Artikel dem in Deutschland leider kaum bekannten, Entropie-Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen gewidmet. Autor Guido Speckmann, seines Zeichens Politikwissenschaftler mit Anstellungen unter anderem beim Hamburger VSA-Verlag (für linke Bücher) und bei der Zeitschrift Sozialismus, will diese Wissenslücke schließen und anlässlich des 20. Todestages (30. Oktober) Georgescu-Roegens an ihn erinnern.

Verdienst

Der große Verdienst NGR's, wie der Rumäne von Fachkollegen bisweilen genannt wurde, besteht laut Speckmann darin, "theoretisch begründet zu haben, was spätestens mit der Ölkrise von 1973 zumindest vorübergehend jedem klar wurde: die eminente Bedeutung der Energie für moderne Volkswirtschaften." Provokant - und mit Augenzwinkern? - ließe sich an dieser Stelle fragen, ob nicht vielleicht auch schon Lenin, zumindest intuitiv, um die Bedeutung der Energiefrage wusste, als er die Losung propagierte: "Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes". Nun, wahrscheinlich sah Lenin in seiner Vorgabe, natürlicherweise, den einzigen Weg, die Rückständigkeit Russlands zu überwinden und zu den industrialisierten Ländern der damaligen Zeit aufzuschließen. Und zumindest hier lässt sich wieder ein Bogen zu Georgescu-Roegen schlagen, der angesichts seines "rumänischen Exils", wie er selbst die Jahre nach seinen Studienaufenthalten in Paris, London und in den USA nannte, die rückständige Heimat nicht mit den Lehren der westlichen Standardökonomie abbildbar sah und somit Rezepte für die Entwicklung agrarischer Volkswirtschaften vermisste.

Auf akademischem Terrain gilt der überwiegend im US-amerikanischen Lehrbetrieb verortete kritische Geist als Begründer der sogenannten Ökologischen Ökonomie, er selbst bevorzugte den Begriff Bioökonomie. Georgescu-Roegens bekanntestes Werk ist The Entropy Law and the Economic Process (Das Gesetz der Entropie und der wirtschaftliche Prozess, 1971). Es begründete zwar seinen Ruf in der Fachwelt, ließ ihn aber zugleich zu einem Außenseiter in seiner Wissenschaftsdisziplin werden. Darüber hinaus gab er mit La décroissance (Wachstumsrücknahme), der autorisierten französischen Übersetzung einer Aufsatzsammlung von ihm (1979), der französischen wachstumskritischen Bewegung ihren Namen: "décroissance".

Mit seinem Hauptwerk und zuvor erschienenen Artikeln hat er bereits ein Jahr später großen Einfluss auf eine Veröffentlichung ausgeübt, die bis heute ungleich bekannter ist: Die Grenzen des Wachstums (1972) des Club of Rome. Mit dieser rückte zum ersten Mal in ein breites Bewusstsein, dass ein stetiges Wirtschaftswachstum durch die Erschöpfung der Ressourcen künftig an ein Ende geraten könnte.

Hauptgedanken

Georgescu-Roegens Thesen zielen auf die Übertragung von physikalischen Erkenntnissen, insbesondere aus dem Bereich der Thermodynamik und der Entropie, auf ökonomische Prozesse ab. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist, dass jeglicher ökonomischer Prozess mit dem Verbrauch von Energie einhergeht sowie die Unterscheidung von verfügbarer und unverfügbarer Energie.

Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik, jenes Teilgebietes der Physik, das im 19. Jahrhundert entwickelt wurde und das sich mit der Möglichkeit beschäftigt, durch Umverteilen von Energie zwischen ihren verschiedenen Erscheinungsformen Arbeit zu verrichten, kann Energie weder geschaffen noch zerstört werden: Ein Perpetuum mobile, also eine Arbeitsmaschine ohne Energiezufuhr, ist unmöglich. Der zweite Hauptsatz (nach Rudolf Clausius, 1865) besagt, daß der Nutzen einer bestimmten Energiemenge ständig abnimmt. In der Literatur wird als Beispiel hierfür oft das Sanduhren-Prinzip oder das Kochexperiment bemüht. Um bei letzterem zu bleiben: Eine Tasse heißen Kaffees kühlt so lange ab, bis Kaffee und Zimmerluft gleich temperiert sind. Die im Kaffee enthaltene Energie ist zwar im Raum noch vorhanden, sie kann aber nicht mehr benutzt werden, etwa um eine zweite Tasse Kaffee zu kochen. Als Maß für den Anteil zerstreuter und nicht mehr nutzbarer Energie wählte Clausius den Begriff "Entropie" (aus dem griechischen entrepein: umkehren).

Nutzbare Energie ist niedrige Entropie. Das menschliche Leben und die gesamte Wirtschaft sind auf diese niedrige Entropie angewiesen: Pflanzen, Tiere, Kohle, Öl und alle anderen Bodenschätze. Übertragen auf ökonomische Prozesse bedeute dies, dass der Wirtschaftsprozess, so schrieb Georgescu-Roegen in seinem Hauptwerk, kein Kreislauf sei, er "besteht aus der kontinuierlichen Umwandlung von niedriger in hohe Entropie, also in nicht wiederverwertbaren Abfall, oder, um einen geläufigen Begriff zu verwenden, in Umweltverschmutzung." Kurz ausgedrückt: Der Wirtschaftsprozess kommt einem ständigen Aufbrauchen gleich (mit hässlichem Rest), das in der Endkonsequenz das Wachstum begrenzt und selbst Nullwachstum zur Fiktion werden lässt.

Georgescu-Roegen geht sogar noch einen Schritt weiter und formuliert eine weitere thermodynamische Regel, welche die Gültigkeit der Entropiezunahme nicht nur für Energie konstatiert, sondern auch für Materie - beispielweise in Form von Korrosion oder Verschleiß. Er formuliert diese Regel mit den Worten "Es ist unmöglich, Stoffe komplett zu recyceln."

Damit stellen Georgescu-Roegens Erkenntnisse eine fundamentale Kritik an der vorherrschenden bürgerlichen Wirtschaftslehre dar - aber auch an derzeit dominanten marxistischen Strömungen. Selbst grüne Politik wäre mit NGR nicht zu machen, denn Ökonomie und Ökologie seien nicht wirklich zu versöhnen.

Unbequemer Unterton

Die Mainstream-Ökonomie übergeht Georgescu-Roegen im Wesentlichen, er wird (mit seinem Frühwerk) allenfalls als Kritiker ökonomischer Erkenntnisverfahren wahrgenommen. Überhaupt ist sein Werk bis heute kaum ins Deutsche übersetzt. Der apokalyptische Unterton seiner Analysen lassen ihn auch in der Umweltbewegung nur wenige Anhänger finden. Andererseits passt die Warnung vor der Apokalypse zum Selbstverständnis vieler Globalisierungsgegner. Auf Kongressen und in Internet-Foren spielt sein Name daher immer wieder eine wichtige Rolle. Im eigenen Bewusstsein der Wirkung seiner Aussagen, rief er bereits 1978 zu "einer menschliche Ökonomie" auf. Sein "Überlebensprogramm" für die Welt mahnte die Industrieländer zum Verzicht auf jegliche Extravaganz, außerdem sollten sie den Schwellen- und Entwicklungsländern einen auskömmlichen Lebensstandard zubilligen. Die Weltbevölkerung müsste sich auf einem Niveau einpendeln, das sich mit ökologischem Landbau ernähren lässt.

Und Georgescu-Roegen schloss nicht aus, dass eines Tages eine neue "prometheische Innovation" die Lebensgrundlagen der Menschen erweitern könnte, um den Prozeß der Entropiezunahme zu verlangsamen.


Weitere Informationen:
www.nd-online.de/artikel/950254.der-entropie-oekonom.html


Nicholas Georgescu-Roegen

Geboren 1906 in Constanta (Rumänien)
Studium der Mathematik in Bukarest und Paris (Stipendiat an der Sorbonne) und Zuwendung zur Ökonomie
1930 Promotion über latente zyklische Bestandteile von Zeitreihen,
anschließend Studium in London (Stipendiat am University College)
1932-1942 Professur für Statistik an der Universität Bukarest, unterbrochen
von 1934-1936 Forschungsarbeit in Harvard unter seinem Förderer Joseph Schumpeter
1944 Generalsekretär der rumänischen Waffenstillstandskommission
1948 Flucht vor der kommunistischen Regierungsbildung in Rumänien in die USA
1949-1976 (Pensionierung) Lehrauftrag an der Vanderbilt University in Nashville/Tennesee (USA),
vorübergehend auch an der IUED in Genf (1974)
1977-1978 letzter Lehrauftrag an der Universität Strasbourg (Frankreich)
Verstorben 1994 in Nashville/Tennessee (USA)

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Quelle:
DER RABE RALF
25. Jahrgang, Nr. 183 - Dezember 2014/Januar 2015, Seite 15
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47/-0, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de
 
Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: jährlich, 20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2015


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