Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → FAKTEN

STRAHLUNG/078: Kontamination von Wald und Wild - Deutschland 25 Jahre nach Tschernobyl (ForschungsReport)


ForschungsReport 1/2011
Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz

Wald und Holz

25 Jahre Tschernobyl - was ist geblieben?

Viele Wildtiere und Pilze aus dem Wald sind auch heute noch stärker kontaminiert als landwirtschaftliche Erzeugnisse

Von David Tait und Nils Roos (Kiel)


Vor 25 Jahren, im April 1986, ereignete sich in der Ukraine der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. In den Tagen danach gelangten große Mengen Radionuklide in die Umwelt, wurden über weite Strecken verfrachtet und schlugen sich in Deutschland und fast allen Teilen Europas nieder. Bedingt durch heftige lokale Niederschläge wurde der Süden Deutschlands deutlich stärker kontaminiert als der Norden. Wie stellt sich die Situation in Deutschland 25 Jahre nach diesem denkwürdigen Ereignis dar?


Info

Der Name Tschernobyl ist noch heute verknüpft mit dem größten und folgenschwersten Unfall in der Geschichte der Kernkraft, der sich im April 1986 im Block 4 des dortigen Kernkraftwerks in der Ukrainischen Republik der damaligen Sowjetunion ereignete. Bei einem außer Kontrolle geratenen Test überhitzte sich der Reaktor so stark, dass sich eine Wasserdampf/Wasserstoff-Mischung bildete und explodierte. Der 1.000 Tonnen schwere Deckel des Reaktors wurde aus der Verankerung gerissen und der Reaktorkern dadurch freigelegt. Mindestens eine weitere Explosion und der darauf folgende Brand schleuderten 10 Tage lang radioaktive Partikel und Dämpfe in die Umwelt. Je nach Quelle wird berichtet, dass 13 bis 30% des Reaktorinventars von 190 Tonnen Uranoxid und Spaltprodukten (Radionukliden) freigesetzt wurden. Ein noch viel schlimmeres Ausmaß wurde durch den Einsatz der Werksfeuerwehr verhindert, wobei 30 Personen starben. Um weitere Freisetzungen zu verhindern, wurde der Reaktor provisorisch mit einem sogenannten Sarkophag aus Beton versiegelt. Eine zusätzliche Schutzhülle, die den Abbau des Sarkophags und des havarierten Reaktors ermöglichen soll, wird geplant.

Um die Strahlenexposition der Menschen zu minimieren, wurden insgesamt 340.000 Personen umgesiedelt. Die gesundheitlichen, sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen in den am stärksten kontaminierten Regionen werden bis heute vom internationalen "Tschernobyl-Forum" wissenschaftlich aufgearbeitet.

Mit den radioaktiven Wolken, die nach Deutschland und weite Teile Mittel- und Nordeuropas zogen, wurden vor allem leicht flüchtige Nuklide transportiert, namentlich radioaktives Cäsium (Cs) und Iod (I). Von besonderer Bedeutung ist wegen seiner relativ langen Halbwertszeit von 30 Jahren das Cäsium-Isotop 137 (Cs-137). Zusätzlich wurden mit dem Regen auch die Isotope I-131 (Halbwertszeit 8 Tage) und Cs-134 (Halbwertszeit 2 Jahre) in die Umwelt eingetragen. Wegen des physikalischen Zerfalls waren I-131 drei Monate und Cs-134 zehn Jahre nach dem Unfall in der Umwelt nicht mehr nachweisbar. Dagegen sind auch heute - also nach einem Vierteljahrhundert - erst 44% der Cs-137-Aktivität physikalisch zerfallen.

Tab. 1: Cs-137-Aktivität in landwirtschaftlich produzierten Nahrungsmitteln in Deutschland im Jahr 2008 - © MRI

© MRI

1) Freilandanbau


Beträchtliche Belastung und rascher Rückgang

Ungünstige Witterungsverhältnisse sorgten dafür, dass zum Beispiel im Bayerischen Wald und südlich der Donau bis zu 100.000 Becquerel (Bq) Cs-137 pro Quadratmeter abgelagert wurden, während die Kontamination in der norddeutschen Tiefebene selten höhere Werte als etwa 4.000 Bq pro Quadratmeter Cs-137 erreichte. Entsprechend der lokalen Herkunft waren viele Nahrungsmittel in Deutschland unmittelbar nach dem Unglück beträchtlich mit Iod- und Cäsium-Nukliden kontaminiert. Jedoch bereits ein Jahr danach hatte sich die Kontamination in den landwirtschaftlich produzierten Nahrungsmitteln um mehrere Größenordnungen verringert. 25 Jahre nach dem Ereignis ist das meiste Radiocäsium immer noch in den oberen Bodenschichten, in denen die Kulturpflanzen wurzeln, vorhanden. Nur ein geringer Anteil des Cs-137 ist in tiefere Bodenschichten unterhalb der Pflanzenwurzeln abgewandert. Dennoch sind die Kontaminationswerte für Cs-137 in landwirtschaftlichen Nahrungsmitteln tierischer und pflanzlicher Herkunft äußerst gering (siehe Tabelle 1). Dies gilt für alle Regionen Deutschlands, unabhängig von der ursprünglichen Flächenkontamination.


Beispiel Milch

Warum das so ist, lässt sich beispielhaft am Kontaminationsverlauf der Milch, einem wichtigen Produkt der intensiven Landwirtschaft, verdeutlichen. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der radioaktiven Belastung der Milch in Deutschland seit Beginn der Überwachung in den 1950er Jahren. Damals stammte die Kontamination aus dem Fallout der überirdischen Kernwaffenversuche, die erst 1964 beendet wurden. In den Folgejahren nahm diese Kontamination nur langsam ab, da die Radionuklide (als Produkte der Kernspaltung) zuerst mit der Wucht der Explosionen in die Stratosphäre befördert wurden, um dann über viele Jahre wieder auf die Erde als Fallout zurückzufallen. Die Radionuklide in Tschernobyl hingegen wurden in relativ geringer Höhe freigesetzt. Infolge der Auswaschungen der Luft durch Niederschläge wurde die Ablagerung nach kurzer Zeit beendet. Nachdem die anfangs aus der Luft kontaminierten Futtermittel entweder abgeweidet oder im Winter verfüttert waren, nahm auch der Radiocäsiumgehalt der Milch erwartungsgemäß stark ab. Um zu verstehen, warum die nachwachsenden Futterpflanzen weniger belastet waren, muss man einen Blick auf die Physiologie der Pflanzen und die Beschaffenheit landwirtschaftlich genutzter Böden werfen.

Pflanzen nehmen Cäsium in erster Linie über die Wurzeln auf. In tonreichen Böden und in Böden mit einem pH-Wert im neutralen bis schwach alkalischen Bereich, wie sie in der Landwirtschaft häufig sind, bindet sich Cäsium stark an Bodenpartikel. Es ist dann zwar noch vorhanden, kann aber von den Wurzeln der meisten Pflanzen nicht mehr aufgenommen werden. In humusreichen, sauren und eher tonarmen Böden, zum Beispiel Moorböden, ist es dagegen eher verfügbar. Die landwirtschaftliche Bearbeitung des Bodens (z.B. Pflügen) sowie die kontinuierliche Durchmischung (z. B. durch Regenwurm-Aktivität oder durch Rissbildung) tun ein Übriges, um die Cäsiumkonzentration in den obersten Bodenschichten zu verringern. Diese Effekte sind jedoch von der Bodenart abhängig: Regenwürmer und andere Bodentiere sind in humusreichen Böden aktiver als in schwerer, stark tonhaltiger Erde. Bei der Neigung zur Rissbildung ist dies eher umgekehrt.

Die Beschaffenheit des landwirtschaftlichen Bodens entscheidet daher in hohem Maße über die Pflanzenverfügbarkeit des Cäsiums und ist - via Futtermittel - auch für den rasch absinkenden Cs137-Gehalt der Milch verantwortlich gewesen.

Jahresmittelwerte der Cs-137-Konzentrationen in Rohmilch (Bundesgebiet). Werte für Strontium-90 (Sr-90, Halbwertszeit 28,5 Jahre) sind hier mit angegeben, da dieses Nuklid ein radiologisch wichtiger Bestandteil des Kernwaffenfallouts war - © MRI

© MRI


Waldböden sind anders

Nahrungsmittel aus Wald-Ökosystemen (Pilze, Waldbeeren, Wildbret) sind in der Regel wesentlich stärker mit Cs-137 kontaminiert als Nahrungsmittel aus der Landwirtschaft. Obwohl die Werte über die Jahre allmählich abnehmen, schwanken sie auf kleinem Raum sehr stark, und in einigen lokalen Bereichen Deutschlands werden immer wieder relativ hohe Kontaminationen gemessen.

Waldböden zeichnen sich durch organische Auflageschichten aus sich zersetzender Streu (Blätter, Nadeln) und Humus auf dem Mineralboden aus. Diese Schichten sind im Vergleich zu landwirtschaftlichen Böden sauer. Unter diesen Bedingungen ist Cäsium bio-verfügbar - es wird schnell durch Bodenorganismen, Pilze und Pflanzen aufgenommen. Durch herabfallende Blätter und Nadeln wird das darin enthaltene Cäsium wieder den oberen Bodenschichten zugeführt. Das Cäsium bleibt in diesem Nährstoffkreislauf und wandert kaum in mineralische Schichten, wo es durch Tonmineralien gebunden und somit aus dem Kreislauf entfernt würde.

Daher sind die Cs-137-Werte bei wildwachsenden Pilzen und Beeren sowie bei Wildbret (Tabellen 2 bzw. 3 für das Jahr 2008) deutlich höher als bei Nahrungsmitteln aus landwirtschaftlicher Produktion (Tabelle 1). Bei den Pilzen hängen die Werte mehr von der Pilzart und dem konkreten Standort als vom Jahresverlauf ab. So werden in den stark kontaminierten Gebieten Süddeutschlands, wie Süd-Bayern und Bayerischer Wald, bis zu einige 1.000 Bq/kg Cs-137 in Maronenröhrlingen und Sammelstoppelpilzen gemessen. Steinpilze und Pfifferlinge können einige 100 Bq/kg aufweisen.

Die Kontamination von Pilzen ist sowohl von der Cs-137-Konzentration in der Umgebung des Pilzgeflechts (Myzel), als auch vom speziellen Anreicherungsvermögen der jeweiligen Pilzart abhängig. In dem Maße, wie Cs-137 in die Tiefe verlagert wird, ist zu erwarten, dass die Aktivitätswerte bei denjenigen Pilzen, die ihre Nährstoffe aus den oberen Bodenschichten beziehen, abnehmen werden. Dies gilt für Steinpilze, Pfifferlinge oder Maronenröhrlinge. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass bei einigen wenigen Pilzarten, die ihre Nährstoffe bevorzugt aus dem humusreichen Oberboden unterhalb der organischen Auflageschichten beziehen, unveränderte oder sogar leicht zunehmende Cäsiumaktivitäten gemessen werden. Auch bei wildwachsenden Beeren wird die Aktivität nur relativ langsam abnehmen.

Tab. 2: Cs-137-Aktivität in wildwachsenden Pilzen und Beeren in Deutschland im Jahr 2008 - © MRI

© MRI

Tab. 3: Cs-137-Aktivität in Wildbret in Deutschland im Jahr 2008 - © MRI

© MRI

Der Ort der Nahrungssuche entscheidet über die Kontamination

Der Cs-137-Gehalt von Wildbret ist ebenfalls, je nach Region und Tierart, unterschiedlich. So wurden im Jahr 2004 in einem vergleichsweise stark kontaminierten Untersuchungsgebiet im Bayerischen Wald für Wildschweine Cs-137-Werte von 80 bis 40.000 Bq/ kg Fleisch mit einem Mittelwert von etwa 7.000 Bq/kg gemessen. Der Spitzenwert der letzten Jahre lag bei 65.000 Bq/kg. Im Vergleich dazu betrug die Kontamination bei Rehwild im Jahr 2004 im Mittel etwa 700 Bq/kg.

Diese Unterschiede und auch die Schwankungen der Werte im jahreszeitlichen Verlauf beruhen auf dem unterschiedlichen Ernährungsverhalten und der kurzen biologischen Halbwertszeit des Cäsiums (2 bis 4 Wochen) im Muskelfleisch der verschiedenen Wildtierarten. Eine höhere Kontamination ist vor allem dann zu erwarten, wenn die Tiere ihr Futter im Wald suchen und keinen Zugang zu landwirtschaftlichen Produkten (wie Feldfrüchte oder Fütterungen) haben. Bei schlechtem Nahrungsangebot suchen Wildschweine ihre Nahrung vermehrt im Waldboden. Da die unterirdisch wachsenden und von Wildschweinen bevorzugten Hirschtrüffel außerordentlich hoch kontaminiert sind (zehnmal höher als Speisepilze), kann Wildschweinfleisch deutlich mehr Cs-137 enthalten als das Fleisch anderer Wildtierarten. Andererseits verringern eine Ernährung aus aktivitätsarmen Bucheckern, Eicheln und Kastanien (Baummast) in sogenannten Mastjahren oder Fütterungen (Ablenk- oder Anlockfütterung) mit landwirtschaftlichen Pflanzen die Cs-137-Konzentration im Wildfleisch.

Daher wird auch bei Wildbret die Cs-137-Aktivität - wie bei wildwachsenden Pilzen und Waldbeeren - nur sehr langsam abnehmen. Während eine Person mit Nahrungsmitteln aus landwirtschaftlicher Erzeugung im Mittel etwa 100 Bq Cs-137 pro Jahr aufnimmt, kann man weiterhin mit einer einzigen Mahlzeit stärker kontaminierter Nahrung aus dem Waldökosystem diesen Wert weit übertreffen.


Gesundheitliche Folgen für den Menschen?

Wichtig für die Beurteilung möglicher gesundheitlicher Folgen einer Cs-137-Aufnahme ist die Strahlenexposition oder Strahlendosis. Als Faustregel gilt, dass die Aufnahme von 80.000 Bq Cs-137 einer Strahlenexposition von 1 Millisievert (mSv) entspricht. Zum Beispiel: Eine Mahlzeit mit 160 g Fleisch vom Wildschwein mit etwa 5.000 Bq/kg Cs-137, entsprechend der am stärksten kontaminierten Probe in Tabelle 3 aus Südbayern, verursacht eine Exposition von ca. 0,01 mSv. (Bei Wildschwein aus weniger kontaminierten Gebieten oder Wildtierarten, die Cs-137 in geringerem Maß anreichern, wird dieser Wert erst nach mehreren Mahlzeiten erreicht. Dasselbe gilt für Pilze). Eine Exposition von 0,01 mSv ist vergleichbar mit der Belastung durch Höhenstrahlung auf einem Flug von Frankfurt nach Gran Canaria und entspricht weniger als einem Hundertstel der jährlichen natürlichen Strahlenexposition. Die natürliche Strahlenexposition in Deutschland liegt, je nach örtlichen Gegebenheiten, zwischen 1 und 10 mSv und beträgt im Mittel 2,1 mSv.

In Deutschland ist es zwar nicht erlaubt, Lebensmittel mit einem Radiocäsiumgehalt von mehr als 600 Bq/kg Frischmasse in den Handel zu bringen, für den Eigenverzehr gilt diese Einschränkung jedoch nicht. Wenn Wildbret oder wildwachsende Speisepilze in üblichen Mengen verzehrt werden, ist die zusätzliche Strahlenexposition gering, aber vermeidbar. Daher lautet die Empfehlung des Bundesamtes für Strahlenschutz: "Wer seine persönliche Strahlenexposition verringern möchte, sollte auf den Genuss selbst erlegten Wildes und selbst gesammelter Pilze verzichten".

MRI
Max Rubner Institut

Dr. David Tait, Dr. Nils Roos, Max Rubner-Institut, Institut für Sicherheit und Qualität bei Milch und Fisch, Hermann-Weigmann-Str. 1, 24103 Kiel. E-mail: david.tait[at]mri.bund.de


Diesen Artikel inclusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.forschungsreport.de


*


Quelle:
ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz
1/2011, Heft 43 - Seite 27-30
Herausgeber:
Senat der Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Schriftleitung & Redaktion: Dr. Michael Welling
Geschäftsstelle des Senats der Bundesforschungsanstalten
c/o Johann Heinrich von Thünen-Institut (vTI)
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig
Tel.: 0531/596-1016
E-Mail: michael.welling@vti.bund.de
Internet: www.forschungsreport.de, www.bmelv-forschung.de

Der ForschungsReport erscheint zweimal jährlich.

Möchten Sie den ForschungsReport kostenlos abonnieren?
Dann wenden Sie sich einfach an die Redaktion.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2011