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ATOM/1093: Laufzeitverlängerung - Bundesregierung gelingt Durchbruch nach vorgestern (DUH)


Deutsche Umwelthilfe e.V. - 6. September 2010

Laufzeitverlängerung: Bundesregierung gelingt Durchbruch nach vorgestern

Deutsche Umwelthilfe kritisiert "Generalangriff auf energiepolitische Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts" - Regierungsbeschluss bedeutet noch 30 bis 40 Jahre Atomenergie in Deutschland - Umgehung des Bundesrates, ungelöste Entsorgung des Atommülls und mangelnder Schutz der Reaktoren gegen Terroranschläge machen Laufzeitverlängerung verfassungswidrig - Regierung schafft nie dagewesene Investitionsunsicherheit im Energiesektor - Eintritt in das regenerative Zeitalter wird verzögert oder auf Dauer blockiert


Berlin, 06. September 2010: Als einen "Generalangriff auf die energiepolitischen Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts" in Deutschland hat die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) den Beschluss der Bundesregierung kritisiert, die Laufzeiten alternder Atomkraftwerke um durchschnittlich 12 Jahre zu verlängern. Um ein Wahlversprechen aus dem vergangenen Jahr an die vier Atomkraftwerksbetreiber RWE, E.on, EnBW und Vattenfall einzulösen, setze die Bundesregierung mutwillig die weltweite deutsche Marktführerschaft bei den erneuerbaren Energien aufs Spiel. "Es ist schwer, angesichts dieser Entscheidung nicht in Sarkasmus zu verfallen. Nach monatelangem Dilettieren setzt die Bundesregierung ein Ausrufezeichen in der Energiepolitik: Arm in Arm feiern Angela Merkel, Rainer Brüderle und Norbert Röttgen den energiepolitischen Durchbruch nach vorgestern", erklärt DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch.

Die Bundesregierung habe sich gar nicht mehr die Mühe gemacht, den Beschluss über die Laufzeitverlängerung mit dem Zubau der erneuerbaren Energien abzugleichen. Vielmehr liege er ziemlich genau in der Mitte der Zeitspanne von 10 bis 15 Jahren, die Bundeskanzlerin Angela Merkel den vier Atomkonzernen schon vor der Bundestagswahl im September 2009 versprochen hat. "Es ging der Bundesregierung nie um die Frage, wann die erneuerbaren Energien die Atomkraft in Deutschland vollständig ersetzen können. Denn dann würde der Zubau von Wind-, Sonnen- und Bioenergiekraftwerken bis 2020 und darüber hinaus sogar noch schneller verlaufen als bei der im geltenden Atomausstiegsgesetz vereinbarten Abschaltung der Atomkraftwerke", so der Leiter Politik und Presse der DUH, Gerd Rosenkranz.

Die Konsequenzen des Beschlusses reichten weit über die Tatsache hinaus, dass im Falle seiner Umsetzung 82 Millionen Menschen bis mindestens 2040 mit der Hochrisikotechnologie Atomkraft im eigenen Land leben müssten und in dieser Zeit jedes Jahr rund 400 Tonnen hochradioaktiver Atommüll hinzukomme, von dem bis heute niemand wisse, ob und wo er sicher gelagert werden kann. Darüber hinaus werde

der von der Bundesregierung versprochene Eintritt in das regenerative Zeitalter erschwert, verzögert und unter Umständen unmöglich gemacht, weil für den Dauerbetrieb konzipierte Atomkraftwerke den fluktuierend einspeisenden erneuerbaren Energien auf Basis von Sonne und Wind nicht nachfahren können. In der Folge wird die Diskussion über den Vorrang der erneuerbaren Energien nun mit dem Ziel eröffnet, ihn abzuschaffen.
die Planungs- und Investitionssicherheit, die sowohl der gesetzlich fixierte Ausstiegsfahrplan als auch das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) für Jahrzehnte sichergestellt hatten, mit einem Schlag durch eine größtmögliche Unsicherheit für alle ersetzt, die in Deutschland in Energieerzeugungsanlagen investieren wollen.
die deutsche Exportwirtschaft ihres derzeit mit Abstand größten Hoffnungsträgers beraubt, weshalb etwa auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) die Pläne der Bundesregierung zur Laufzeitverlängerung kritisiert.
die in der Vergangenheit von allen Parteien beklagte Marktdominanz der großen Konzerne für weitere Jahrzehnte zementiert, weshalb neue Energieanbieter und insbesondere Stadtwerke Sturm laufen, die den Atomausstieg stets als Chance, eigene Erzeugungskapazitäten aufbauen zu können, verstanden haben.

Eine Ungereimtheit liege sogar in der Verpflichtung der Konzerne, künftig stärker in erneuerbare Energien zu investieren. Rosenkranz: "Wieso stellt niemand die Frage, warum das eigentlich nötig ist: In Deutschland werden allein in diesem Jahr 15 Milliarden Euro in erneuerbare Energien investiert - ganz ohne, dass die Bundesregierung irgendjemanden dazu hätte verpflichten müssen." Bei Fortsetzung des Atomausstiegs hätten die Konzerne nach Einschätzung der DUH ganz von allein versucht, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, um nicht weiter jedes Jahr ein Prozent Marktanteil im Strommarkt zu verlieren.

Die DUH ist optimistisch, dass die beschlossene Laufzeitverlängerung keinen Bestand haben wird. "Wenn diese fatale Politik zugunsten extremer Partikularinteressen von vier Konzernen nicht politisch über den Druck der Bevölkerung gestoppt wird, dann wird das vor Gericht geschehen", sagt die Leiterin Klimaschutz und Energiewende der DUH, Rechtsanwältin Cornelia Ziehm. Die Bundesregierung setze sich in bemerkenswerter Weise über die Verfassung und höchstrichterliche Rechtsprechung hinweg. Verfassungswidrig sei die geplante Gesetzänderung offensichtlich wegen der geplanten Umgehung des Bundesrats. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sei die Laufzeitverlängerung aber auch wegen des mangelnden Schutzes der Reaktoren gegen Terroranschläge und wegen der fast ein halbes Jahrhundert nach dem kommerziellen Start der Atomenergie noch immer ungeklärten Entsorgungsfrage. "Die Bundesregierung kehrt mit ihrem Beschluss vom gestrigen Sonntag die ihr der Bevölkerung gegenüber obliegende Schutzpflicht um und schützt die Milliardengewinne der Atomindustrie", so Ziehm weiter.

Die DUH rief die Abgeordneten der Koalition eindringlich auf, bei der nun bevorstehenden Gesetzgebung "sorgfältig die Vor- und die Nachteile, die sicherheitstechnischen und die juristischen Risken zu bedenken, bevor sie den Vorgaben ihrer offenbar vorfestgelegten Führung folgen."


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Quelle:
DUH-Pressemitteilung, 06.09.2010
Deutsche Umwelthilfe e.V.
Fritz-Reichle-Ring 4, 78315 Radolfzell
Tel.: 0 77 32/99 95-0, Fax: 0 77 32/99 95-77
E-Mail: info@duh.de
Internet: www.duh.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2010