Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019
Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!
Neustart für nachhaltiges Chemikalienmanagement?
Im Oktober 2020 soll in Bonn ein Folgeabkommen für den Strategischen
Ansatz für das internationale Chemikalienmanagement verabschiedet
werden
von Wolfgang Obenland
SAICM, der Strategische Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement (Strategic Approach to International Chemicals Management), sollte bis 2020 einen nachhaltigen Umgang mit synthetischen Stoffen von der Produktion über die Verwendung bis zur Entsorgung erreichen. Dieses Ziel wird verfehlt. Laut Vereinten Nationen (UN) dürfte sich die Chemikalienproduktion in der nächsten Dekade verdoppeln, ohne dass ihr Management nachhaltig ausgestaltet wäre. Nächstes Jahr soll SAICM erneuert und verbessert werden. Dazu laufen seit einiger Zeit die Verhandlungen zwischen den Regierungen, aber auch Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaft haben ein wichtiges Wörtchen mitzureden.
Chemikalien - also künstlich hergestellte chemische Stoffe und
Verbindungen - spielen eine bedeutende Rolle in praktisch jedem Aspekt
unseres Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens. Wir atmen sie ein, tragen
sie am Körper, nehmen sie mit der Nahrung auf, setzen sie in Wasser
und Böden frei, verwenden sie in Produktion und Landwirtschaft und
fügen sie unzähligen Materialien bei.
Nützlich, aber potenziell gefährlich
Gefährliche Chemikalien, Schwermetalle und an sich harmlose oder sogar
nützliche Stoffe wie Plastik und pharmazeutische Produkte werden noch
immer in großen Mengen freigesetzt. Das Umweltbundesamt stellt fest,
dass alle (!) Oberflächengewässer in Deutschland in einem "schlechten
chemischen Zustand" sind, was primär auf die Quecksilberbelastung
zurückzuführen ist, die sich noch immer auch aus der Verbrennung
fossiler Brennstoffe speist.(1) Die Weltgesundheitsorganisation (WHO)
führt weltweit wenigstens 1,6 Millionen Todesfälle auf die
Verschmutzung mit Chemikalien zurück. Allein durch die Auswirkungen
von Blei auf Kinder entstehen in Niedrig- und Mitteleinkommensländern
wirtschaftliche Schäden in Höhe 977 Milliarden US-Dollar pro Jahr.(2)
Mikroplastik wurde mittlerweile praktisch überall nachgewiesen: In
Ozeanen, Flüssen, dem arktischen Eis, in Salz, Honig, Bier,
Trinkwasser, Fischen und im Menschen. Selbst seit Langem verbotene
oder nur wenig genutzte Stoffe wie krebsauslösende Polychlorierte
Biphenyle (PCBs) können nachgewiesen werden, auch im Menschen.(3) Die
Chemikalienbelastung hat daneben eine soziale Komponente. Kinder aus
Familien "mit niedrigem Sozialstatus" sind laut Bundesregierung
häufiger Produkten mit fragwürdigem Nutzen - zum Beispiel Weichspüler
- und den darin enthaltenen Chemikalien ausgesetzt als solche "mit
hohem Sozialstatus". Es gibt allerdings auch Stoffe, für die das
Umgekehrte gilt: Mittel zum Textilschutz werden beispielsweise doppelt
so oft von Familien mit hohem wie mit niedrigem Sozialstatus
eingesetzt.(4)
Globale Regeln für Chemikalien
Weil die Folgen des Einsatzes bestimmter Chemikalien offensichtlich
schädlich für Mensch und Umwelt sind, hat sich die (internationale)
Politik des Themas schon länger angenommen. Es gibt eine ganze Reihe
verbindlicher internationaler Konventionen zu verschiedenen Aspekten
des Chemikalienmanagements oder einzelner Stoffklassen. 1989 wurde im
Basler Übereinkommen die Kontrolle des Im- und Exports gefährlicher
Abfälle und ihre Entsorgung geregelt. Seit Mai 2019 gehören
Plastikabfälle auch zu den durch die Konvention abgedeckten Stoffen.
1998 regelte die Rotterdam-Konvention den Handel mit gefährlichen
Chemikalien, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln und
etablierte "Verfahren der vorherigen Zustimmung nach
Inkenntnissetzung", also die Übermittlung von Informationen über
Risiken und den sachgemäßen Umgang mit Chemikalien, bevor diese über
Grenzen hinweg verbracht werden. 2001 wurden in Stockholm einige
langlebige (persistente) organische Schadstoffe verboten. Dazu gehören
unter anderem die als das dreckige Dutzend bekannten organischen
Chlorverbindungen, die im starken Verdacht stehen, krebserregend,
erbgutverändernd und Missbildungen auslösend zu sein. Zuletzt enthält
die Minamata-Konvention von 2013 konkrete Vorschriften zu
quecksilberhaltigen Produkten, die ab 2020 verboten oder nur noch mit
Einschränkungen gehandelt werden sollen, beispielsweise
Fieberthermometer, Batterien, aber auch Seifen und Kosmetika.
Trotz der diversen internationalen Abkommen gibt es noch immer eine ganze Reihe von Lücken im Chemikalienrecht. Das betrifft zum einen neue Stoffe, zum anderen aber auch solche, über deren Langzeitwirkungen erst neuerdings Informationen zu ihrer Schädlichkeit verfügbar geworden sind.
SAICM - Ansatz für nachhaltiges Chemikalienmanagement
Um dem auch im Rahmen des internationalen Chemikalienmanagements
Rechnung tragen zu können, beschlossen die Staats- und Regierungschefs
beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 einen
Mechanismus für den vernünftigen Umgang mit Chemikalien zu schaffen.
Der wurde 2006 in Dubai in Form von SAICM ins Leben gerufen. Ziel war
es, bis 2020 zu einem nachhaltigen Umgang mit Chemikalien über ihren
gesamten Lebenszyklus zu kommen. Ein Ziel, das nach Meinung der UN
auch mit SAICM nicht erreicht worden ist. SAICM hat trotzdem wichtige
Funktionen erfüllt. Zum einen wurden über den Ansatz Ressourcen zum
Kapazitätsaufbau in Ländern des globalen Südens bereitgestellt. Auch
hat der Prozess gerade nichtstaatlichen Akteuren wichtige Zugänge
eröffnet. Die Entscheidungen innerhalb von SAICM, die bei den
Internationalen Konferenzen zum Chemikalienmanagement (International
Conference on Chemicals Management, ICCM) getroffen werden, fallen im
Konsens aller beteiligten Akteure; dazu gehören auch
Nichtregierungsorganisationen und die Wirtschaft. Am wichtigsten ist
aber, dass SAICM anders als die Konventionen nicht ein auf bestimmte
Stoffe oder Prozesse beschränktes Mandat hat, sondern einen
politischen Raum dafür bietet, auch über neue beziehungsweise als neu
erkannte Probleme zu sprechen. So wurden zum Beispiel Blei in Farben,
Nanotechnologie, Arzneimittel in der Umwelt oder bestimmte sehr
gefährliche Pestizide im Rahmen des Emerging Policy Issue-Prozesses
besprochen, was zu nationalstaatlicher Regulierung geführt hat. So
sind heute in vielen Ländern bleihaltige Farben verboten, was direkt
auf die Behandlung des Themas unter SAICM zurückzuführen ist. Trotzdem
bleiben SAICM und seine Beschlüsse völkerrechtlich unverbindlich.
Eine Zukunft für das globale Chemikalienmanagement nach 2020?
Weil SAICM nicht zum gewünschten Ergebnis bis 2020 geführt hat und
sein Mandat Ende des Jahres ausläuft, laufen seit der letzten ICCM
2015 die Vorbereitungen für eine Erneuerung des Mandats und eine
Verbesserung der Mechanismen. Unter anderem sollen eine bessere
Überprüfung und ein effektiveres Monitoring der Beschlüsse erfolgen,
wofür geeignete Indikatoren erarbeitet werden sollen. Insgesamt soll
die wissenschaftliche Basis für die Chemikalienpolitik gestärkt
werden. Gerade von zivilgesellschaftlicher Seite werden verbindliche
Staatenberichte gefordert, gegebenenfalls orientiert an zuvor
abgegebenen, ebenfalls verbindlichen Selbstverpflichtungen. Auch
sollen effektivere Regeln für den Umgang mit neuen Themen geschaffen
werden. Nichtregierungsorganisationen fordern darüber hinaus, im
Rahmen von SAICM rechtsverbindliche Elemente festzulegen
beziehungsweise Mechanismen für die globale Regulierung schädlicher
Chemikalien, die derzeit nicht durch bestehende Übereinkommen
abgedeckt sind. Zuletzt haben diverse Länder des globalen Südens
deutlich gemacht, dass sie einem neuen Abkommen nur dann beitreten
werden, wenn sie bei dessen Umsetzung finanziell unterstützt werden.
Inhaltlich wird es bei einem neuen SAICM darum gehen, die chemische Industrie und ihre Produkte nachhaltig auszurichten. Dazu gehört neben der Förderung neuer Technologien, der Vermeidung oder dem Verbot umweltbelastender Stoffe sowie einer insgesamt ressourcenschonenderen Produktion vor allem, dass die Entsorgung giftiger Stoffe so zu erfolgen hat (beziehungsweise nach Möglichkeit ganz vermieden wird), dass Menschen nicht weiter belastet und Ökosysteme nicht weiter zerstört werden.
Ob und wie diese Schritte hin zu einem nachhaltigeren Chemikalienmanagement bis zum Ablauf des Mandats von SAICM Ende 2020 auch gegangen werden, liegt nicht zuletzt an der Bundesregierung. Sie hat die Präsidentschaft für die Erarbeitung eines Folgeabkommens und die Ausrichtung der dafür nötigen ICCM übernommen, die ab dem 5. Oktober 2020 in Bonn stattfindet, und damit die Mitverantwortung dafür, dass es nicht zu einer Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner kommt.
Der Autor Wolfgang Obenland ist Referent für
Chemikalienpolitik beim Forum Umwelt & Entwicklung.
Anmerkungen
1) https://www.umweltbundesamt.de/daten/wasser/fliessgewaesser/chemischer-zustand-der-fliessgewaesser.
2) UNEP (2019): Global Chemicals Outlook II: From legacies to
innovative solutions - Implementing the 2030 Agenda for Sustainable
Development. Nairobi, S. 31 bzw.
http://nyulmc.org/pediatricleadexposure.
3) UNEP (2019): Global Chemicals Outlook II: From legacies to innovative solutions - Implementing the 2030 Agenda for Sustainable Development. Nairobi.
4) Deutscher Bundestag (2019): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Bettina Hoffmann, Oliver Krischer, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, weitere Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen - Drucksache 19/12574 -. Menschliche Schadstoffbelastung. Drucksache 19/13088. Berlin, S. 2f.
Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für
Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der
deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger
Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring,
Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR)
e.V.
*
Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 2 - 3
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2020
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang