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CHEMIE/059: Stimmt die Chemie? Was Chemikalien mit Gender zu tun haben (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019

Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!

Stimmt die Chemie?
Was Chemikalien mit Gender zu tun haben

von Johanna Hausmann


Frauen und Männer sind unterschiedlich von der Exposition gegenüber schädlichen Chemikalien betroffen. Das hat mit biologischen Unterschieden zu tun und mit der spezifischen Rollenzuweisung - in Deutschland und weltweit. Eine genderdifferenzierte Analyse ist nötig, um den Schutz vor schädlichen Chemikalien zu erhöhen, vor allem auch für Frauen. Der SAICM Beyond 2020-Prozess kann dabei eine wichtige Rolle spielen.


Weichmacher in Kunststoffen, per- und polyfluorierte Stoffe (PFC) in Outdoor-Bekleidung, oder Pestizide in Lebensmitteln - das sind nur einige Beispiele: Überall sind wir gesundheits- und umweltschädlichen Chemikalien ausgesetzt. Entweichen diese aus den Produkten, können sie über die Atmung, die Nahrung und die Haut in unsere Körper gelangen. Sie werden in Zusammenhang gebracht mit der Entstehung und Zunahme von Krebserkrankungen, Diabetes, Unfruchtbarkeit, neurologischen Erkrankungen und vielem mehr. Analysen von Blutproben, der Nabelschnur, Sperma oder Fettgewebe u. a. zeigen, dass jeder Mensch mit Dutzenden von Schadstoffen belastet ist.(1) Ist das der Preis einer modernen Lebensweise, die wir einfach hinnehmen müssen, wie es uns die Industrie und auch die Politik häufig suggeriert? Nein!

Eine sichere, saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt ist ein Menschenrecht. Die Exposition gegenüber gefährlichen Stoffen und Abfällen untergräbt dieses Recht. Besonders betroffen sind Frauen, Kinder und andere gefährdete Gruppen, wie etwa indigene Menschen.

Ein Großteil der Chemikalien, die auf dem Markt sind, ist nicht auf ihre negative Wirkung auf Gesundheit und Umwelt getestet und schon gar nicht differenziert nach der Wirkung auf Männer und Frauen. Es gibt jedoch gute Gründe, warum eine genderdifferenzierte Bewertung von Chemikalien essentiell ist: biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, verschieden soziale Geschlechterrollen sowie der Nutzen, den genderspezifische Daten für mehr Chemikaliensicherheit bringen.

Frauen und Männer sind nicht gleich

Biologische Unterschiede führen dazu, dass die Exposition gegenüber schädlichen Chemikalien und deren Risiken je nach Geschlecht verschieden ist. Frauen reichern aufgrund ihres höheren Fettanteils im Gewebe fettlösliche und bio-akkumulierende Chemikalien stärker an, beispielsweise Weichmacher (Phthalate).

Schwangere Frauen sind die erste Umgebung ihrer Kinder. Während Pubertät, Stillzeit und Menopause sowie der Schwangerschaft reagieren Frauen besonders sensibel auf schädliche Chemikalien. Die Exposition gegenüber hormonell wirksamen Stoffen (engl. endocrine disrupting chemicals, EDCs) wie Bisphenol A und Phthalaten kann hormonell gesteuerte Entwicklungsprozesse stören und insbesondere in der Schwangerschaft kritische gesundheitliche Effekte auch für das ungeborene Kind haben. Die Plazenta ist keine sichere Barriere für Schadstoffe. So gelangen diese über die Mutter zum Kind und können zukünftige Generationen schädigen. Nach Aussagen der Internationalen Föderation der GynäkologInnen und GeburtshelferInnen kommen viele Babys bereits vorbelastet zur Welt - mit bis zu 200 Substanzen in ihren kleinen Körpern.

2020 werden laut WHO 26 Prozent mehr Frauen an Brustkrebs erkrankt sein als noch vor fünf Jahren. Die Belastung mit toxischen Chemikalien über den ganzen Lebenszyklus darf als eine von mehreren möglichen Ursachen für diesen Anstieg nicht unberücksichtigt bleiben.(2)

Auch bei Männern sehen WissenschaftlerInnen in hormonell wirksamen Chemikalien eine mögliche Ursache für den weltweiten Anstieg der Hodenkrebsrate und der geringeren Spermienproduktion bei Männern in Industrieländern.(3)

Biologische Unterschiede sind bisher zu wenig erforscht und finden auch in der Risikoanalyse von Chemikalien, der Festlegung von vermeintlich sicheren Grenzwerten oder Medikamententests nur wenig Beachtung. Das muss sich dringend ändern.

Soziale Geschlechterrollen und Arbeitsplatz

Frauen und Männer folgen geschlechtsspezifischen und sozialen Verhaltensnormen und haben unterschiedliche Rollen. Diese beeinflussen auch den Umgang mit Chemikalien, einschließlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt und Gesundheit. Aufgrund der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern sind Frauen und Männer toxischen Chemikalien in unterschiedlichen Dosen ausgesetzt. Frauen arbeiten öfter in schlecht bezahlten Berufen mit langen Arbeitszeiten und einer hohen Belastung durch giftige Chemikalien bei gleichzeitig fehlenden Schutzvorkehrungen, wie beispielsweise in der Textil- und Elektronikindustrie. In den von Frauen dominierten Pflegeberufen sind sie Chemikalien in Reinigungsmitteln und Kosmetik- oder Pflegeprodukten überproportional ausgesetzt. Eine Studie zeigt, dass Frauen ein erhöhtes Brustkrebsrisiko hatten, die als Krankenschwestern, in der Lebensmittel- und Getränkeproduktion oder in der Textilindustrie mit Kunststoffchemikalien in Berührung kamen.(4)

Frauen sind auch in der Landwirtschaft oder der Floristikindustrie überproportional toxischen Chemikalien ausgesetzt. Im Globalen Süden werden 70 Prozent der Nahrungsmittel von Frauen angebaut, und auf kommerziellen Farmen und Plantagen sind bis zu 85 Prozent der Frauen mit Ausbringen von Pestiziden beschäftigt. Oft arbeiten sie ohne Schutzbekleidung, auch während der Schwangerschaft und Stillzeit.

In vielen Gesellschaften sind noch immer Frauen vornehmlich für die Hausarbeit zuständig. Sie sind deshalb stärker von Innenraumverschmutzung betroffen, beispielweise durch die Verbrennung von Haushaltsbrennstoffen oder der chemischen Belastung von Mobiliar oder Reinigungsmitteln.

Frauen als Konsumentinnen

Eine Vielzahl von Produkten wird nur oder bevorzugt von Frauen genutzt. Bestimmte Damenhygieneprodukte bestehen zu 90 Prozent aus Rohölkunststoffen und können die hormonell wirksamen EDCs Bisphenol A und Bisphenol S enthalten. Tampon-Applikatoren enthalten häufig Phthalate. Durchschnittlich benutzt eine Frau in ihrem Leben 125 bis 200 Kilogramm dieser Produkte.(5) Die Einwegprodukte landen auf Deponien, in Wasserquellen und Meeren und blockieren auch die Abwassersysteme. Auch Kosmetikprodukte sind eine Quelle für Schadstoffe, besonders für EDCs. Frauen verwenden bis zu 15 unterschiedlicher Produkte täglich, die nicht selten bis zu 100 Chemikalien enthalten, einige davon gesundheitsschädigend.(6) Neben Regulierungen zum Verbot toxischer Stoffe in den Produkten kann Aufklärung dazu beitragen, das Konsumverhalten der Frauen zu verändern. So können sie aktiv den Druck auf Produktion, Handel und Politik zu erhöhen.

Genderspezifische Perspektiven für mehr Chemikaliensicherheit

Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, und die Chemikalienexpositionen weit verbreitet sind, wissen wir immer noch wenig über die speziellen Expositionswege und Wirkungen der Chemikalien auf die Gesundheit von Frauen.

Frauen sind in vielen Ländern nach wie vor bei wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen unterrepräsentiert, um Maßnahmen voranzutreiben, die diese Wissenslücke schließen. Frauen haben oft einen erschwerten Zugang zu Bildung, Ressourcen, Finanzmitteln, sozialer Absicherung oder Ausbildungen besonders im technischen oder wirtschaftlichen Bereich. Vor allem in weniger entwickelten Ländern sind sie giftigen Chemikalien häufig schutzlos ausgesetzt, weil sie sich zum Beispiel Schutzkleidung nicht leisten können oder aufgrund der niedrigeren Alphabetisierungsrate unter Frauen Sicherheitshinweise nicht verstehen.

Aber auch in den Ländern des Globalen Nordens sind Frauen (und Männer) durch toxische Chemikalien zum Beispiel in Produkten des täglichen Bedarfs belastet - häufig ohne davon zu wissen, weil es keine Kennzeichnungspflichten gibt.

SAICM Beyond 2020 - die Chance für mehr Gendergerechtigkeit nicht vertun

Die Verhandlung zu einem Folgeabkommen für den Strategischen Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement (Strategic Approach to International Chemicals Management, SAICM) bietet eine Chance, Genderaspekte in die globale Rahmenvereinbarung zu integrieren, um negative Auswirkungen von Chemikalien aufgrund von Geschlechterungerechtigkeiten entgegenzuwirken.

Frauen müssen daher auf allen Entscheidungsebenen des SAICM-Prozesses gleichberechtigt aktiv beteiligt sein. Für einen umfassenden Schutz vor Chemikalien und chemischen Abfällen müssen geschlechtsspezifische Daten erforscht und zugänglich gemacht werden. Es braucht Finanzierungsmechanismen, die bei der Umsetzung von SAICM Beyond 2020 die aktive Teilnahme von Frauen in internationalen und nationalen Politikprozessen und Projekten unterstützen. Genderaspekte müssen Teil von Projektplanung, Umsetzung und Evaluierung sein, um Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu vermeiden. Die Implementierung eines Gender-Aktionsplans kann dafür die Grundlage sein.


Die Autorin ist Senior Policy Advisor und Projektmanagerin für Chemikalien und Gesundheit bei Women Engage for a Common Future (WECF).


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.


Anmerkungen

(1) UNEP (2016): Global Gender and Environment Outlook: The Critical Outlook. Nairobi, S. 39.

(2) WECF (2016): Women and Chemicals: The impact of hazardous chemicals on women. Utrecht/München/Annemasse, S. 8.
http://www.wecf.eu/download/2016/March/WomenAndChemicals_PublicationIWD2016.pdf.

(3) Hagai Levinei et al. (2017): Temporal trends in sperm count: a systematic review and meta-regression analysis. In: Human reproduction update, Vol. 23(6), S. 646-659.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6455044/.

(4) Connie Engel/Sharima Rasanayagam (2015): Working Women and Breast Cancer: The State of the Evidence. San Francisco: The Breast Cancer Fund.
https://www.etui.org/fr/content/download/21116/176339/file/working-women-and-breast-cancer-1.pdf.

(5) https://www.prnewswire.com/news-releases/world-feminine-hygiene-poducts-market-is-expected-to-reach-427-billion-by-2022-575532151.html.

(6) WECF (2016): Women and Chemicals: The impact of hazardous chemicals on women. Utrecht/München/Annemasse, S. 29.

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Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 20 - 21
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2020

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