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FRAGEN/017: Tschernobyl und Fukushima - Die Subjektivität des Objektivs (Gorleben Rundschau)


Gorleben Rundschau - III-IV/2018, 40. Jahrgang, Ausgabe 1065
Wir sind die Wenden: Energie · Klima · Mobilität · Gesellschaft

Die Subjektivität des Objektivs
Ein polnischer Fotograf dokumentiert den Umgang mit den Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima

Interview von Andreas Conradt


Tschernobyl, Fukushima Dörfer und Kleinstädte sind das Revier, in denen Akadiusz Podniesinski seine Motive entdeckt. Und menschenleeres Land. Verstrahltes Land. Der polnische Fotograf hat schon mehrfach beide Orte der größten Unfälle der Menschheitsgeschichte besucht: Tschernobyl und Fukushima. hat mit ihm gesprochen.

Wann und wie lange haben Sie die Unglücksreaktoren in Tschernobyl und Fukushima besucht?

Akadiusz Podniesinski: Tschernobyl habe ich zum ersten Mal vor zehn Jahren besucht, nachdem ich endlich die erforderliche Genehmigung für die Sperrzone erhalten hatte. Und ich wusste vom ersten Moment, dass dies nicht mein letzter Trip dorthin sein würde. Mich hat nicht nur die Geschichte dieses Fleckens interessiert, sondern auch der Fortgang der Arbeiten, mit denen die Folgen des Unglücks behoben werden sollen. Und natürlich das Leben der alten, kranken Leute, die - aller Verbote zum Trotz - in die Sperrzone zurückgekommen sind und dort unter zum Teil schwierigsten Bedingungen leben. Seitdem habe ich Tschernobyl mehrmals im Jahr besucht - und hatte natürlich keine Ahnung, dass sich, während ich noch in der Ukraine fotografierte, in Japan ein ähnliches Desaster ereignen würde. Als es dann geschah, zwang es mich geradezu, an beiden Orten parallel zu arbeiten. Seitdem habe ich Fukushima ein paar Dutzend Male besucht. Häufig mit Direktflügen aus der Ukraine nach Japan.

Die zwei Super-GAUs in Tschernobyl und Fukushima sind die beherrschenden Themen Ihres Lebens. Gab es den Schlüsselmoment, der Ihr Interesse geweckt hat?

AP: Mein Interesse am Phänomen Tschernobyl begann in meinen Jundtagen, in der Zeit, als die radioaktive Wolke Polen überquerte. Ich erinnere mich an die große Unruhe im Land und an den Geschmack von Ludols Jodlösung. Erst später begriff ich, dass wir das Zeug nehmen mussten, um eine Anreicherung von radioaktivem Jod in unseren Körpern zu verhindern. Ich glaube, die Unruhe und das Jod haben mein Interesse an Tschernobyl geweckt, und mein erster Besuch dort hat es erst recht vergrößert.

Gibt es einen Schwerpunkt in Ihrer Arbeit?

AP: Weil die Führung der UdSSR sofort nach dem Unglück eine Nachrichtensperre verhängt und Falschmeldungen in Umlauf gebracht hat, sind Ausmaß und Folgen der Katastrophe unter Wissenschaftlern bis heute umstritten. Auch viele Wissenschaftler und Offizielle, die sich aktuell zu Tschernobyl äußern, sind noch nie dort gewesen. Hinzu kommt, dass fast alle wissenschaftlichen Arbeiten von Organisationen finanziert und in Auftrag gegeben wurden, die der Kernkraft nahe stehen. So ist es bis heute schwierig, zu korrekten Einschätzungen zu kommen. Diese Unschärfe scheint mir so ungeheuerlich zu sein, dass ich, statt einen Schwerpunkt zu setzen, meine Kraft dafür aufwende, den jeweils aktuellen Zustand der Sperrzone und seiner Einwohner als Ganzes zu dokumentieren und der internationalen Gemeinschaft die tragischen Resultate eines Atomunfalls nahezubringen.

Welche Unterschiede gibt es im Umgang mit den AKW-Havarien in Japan und in der Ukraine?

AP: Es wäre einfacher, über die Parallelen zu sprechen, denn davon gibt es überraschend viele. Anders als uns Politiker, Lobbyisten und Wissenschaftler glauben machen wollen, ähneln sich beide GAUs frappierend. Selbst wenn wir in Betracht ziehen, dass beide Unfälle durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst wurden - obwohl beide auf menschliches Versagen zurückzuführen sind -, bleiben die Folgen doch praktisch identisch: die radioaktive Verseuchung tausender Hektar Land, verlassene Städte und Dörfer, die Evakuierung und das persönliche Leid hunderttausender Einwohner. Und neuerdings erst Fälle von Schilddrüsenkrebs.

Die Parallelen zwischen Tschernobyl und Fukushima sind frappierend

Unterschiede gibt es aber in der Art, wie die Regierungen und Verwaltungen der beiden Länder mit den Havarien umgehen: Japan hat nie in Erwägung gezogen, die Region Fukushima aufzugeben, wie es die Sowjetunion mit Tschernobyl getan hat. Ohne auf die Kosten zu achten, werden die betroffenen Gebiete in Japan dekontaminiert und anschließend an die Einwohner zurückgegeben. Eine völlig andere Frage ist natürlich, ob ehemalige Bewohner überhaupt zurück wollen. Sie haben nach wie vor Angst vor der Strahlung und dem nahen Kraftwerk und müssen mit einer allenfalls provisorisch wieder aufgebauten Infrastruktur zurechtkommen. Die Statistiken sind auch nicht gerade ermunternd: Rund zehn Prozent der ehemaligen Bevölkerung ist schon zurückgekommen, ein paar weitere sind noch unentschlossen, aber mehr als die Hälfte zieht eine Rückkehr nicht einmal in Erwägung. Dabei ist völlig offen, wohin die Entwicklung geht: Das Alter der Leute, deren Gewöhnung an eine neue Umgebung und der schlechter werdende Zustand ihrer Häuser in der Region Fukushima machen es zunehmend schwieriger, sie vom Rückzug zu überzeugen.

Sie hatten die Möglichkeit, mit Opfern beider GAUs zu sprechen. Wie ist deren Situation heute?

AP: Der Unfall in der Ukraine ist lange her, und selbst für einen GAU gilt das alte Wort: "Zeit heilt alle Wunden". Die Menschen haben sich mit der Situation ausgesöhnt; sie haben das Unglück vergessen oder sind gestorben. Ganz anders die Japaner: Ihre Kultur gebietet ihnen, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Viele berichten, sie hätten kein Recht, sich zu beschweren, weil sie auch nicht gegen den Bau des Kraftwerks protestiert haben. Und natürlich ist vielen bewusst, dass der Bau des AKW der Region wirtschaftlichen Aufschwung beschert hat: Viele Einwohner haben dort oder in einem Zulieferbetrieb gearbeitet. Die japanische Mentalität und das Bewusstsein um die positiven Seiten des Kraftwerks erklären das Schweigen selbst der am schlimmsten Betroffenen.

Auch die weltweiten Medien haben das Interesse an den beiden Katastrophen verloren und berichten nur noch zu den Jahrestagen. Darum ist es wichtig, die Öffentlichkeit immer wieder an die Tragödien zu erinnern - und an das Leid der hunderttausend Menschen.

Aus unterschiedlichen Gründen im Geiste vereint: Ukrainer und Japaner leben mit dem GAU

Vielen ist unbekannt, dass es auch in Weißrussland eine Sperrzone als Folge des Reaktorunglücks in Tschernobyl gibt. Wie ist die Situation der Menschen dort?

AP: Das stimmt. Bis zu 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags gingen im Nachbarland der Ukraine nieder. Trotzdem läuft in Weißrussland manches besser als in der Ukraine, weil das Land nicht auch noch unter einer wirtschaftlichen oder politischen Krise zu leiden hat und nicht im Krieg liegt mit pro-russischen Separatisten. Als ich das letzte Mal in Weißrussland war, konnte ich eine große und bestens ausgestattete Klinik für Opfer aus den kontaminierten Regionen besuchen. Ukrainer wären neidisch!

Sie haben viele Fotos, Reportagen und Video-Dokumentationen über die beiden Unfälle angefertigt. Wo wurde das Material verwendet?

AP: Neben meinen eigenen Büchern, Filmen und Ausstellungen, wurden meine Arbeiten schon in zahlreichen Publikationen, Fernsehreportagen und Dokumentarfilmen verwendet. Auch Umweltorganisationen nutzen mein Material. Nur dank dieser Einnahmen kann ich die Entwicklungen in Tschernobyl und Fukushima weiter verfolgen und immer wieder an beide Orte reisen. Viele meiner Foto-Essays finden sich auch auf meiner Website.

Wieviel "Reporter" steckt in Ihnen - und wieviel "Anti-Atom-Aktivist"?

AP: Zuallererst bin ich Fotograf! Ich nutze Bilder, um eine Geschichte zu erzählen, die emotionaler ist als Statistiken und trockene Zahlen über die Anzahl radioaktiver Isotope, Opfer und Krankheiten. Ich bin nicht Teil irgendeiner Atom-Organisation - weder pro noch contra - und ich versuche, möglichst neutral zu berichten. Aber die Bilder sprechen natürlich für sich: Sie zeigen die Auswirkungen menschlicher Fehler oder Gedankenlosigkeit im Umfeld der Atomkraft. Betrachter sollten selbst entscheiden, ob es einen verantwortlichen Umgang mit der Kernenergie geben kann oder nicht. Ich überlasse es ihnen, sich fürs Pro oder Contra zu entscheiden.

Sie haben gerade ein neues Buch veröffentlicht. Was erwartet Leser/-innen in "HALF-LIFE: From Chernobyl to Fukushima"?

AP: Während meiner ersten Reisen nach Tschernobyl habe ich nie daran gedacht, dass ein ähnlicher Unfall noch einmal geschehen könnte. Bis dahin war ich nur mit dem Dokumentieren der Auswirkungen in der Ukraine beschäftigt und habe den Aussagen der Politiker und Wissenschaftler vertraut, dass eine Wiederholung unmöglich ist. Als Fukushima explodierte, wurde mir bewusst, dass ein solcher GAU immer und überall passieren kann. Das gab mir den Impuls für das jetzt erschienene Buch, das die Auswirkungen an beiden Orten zeigt, vor allem aber die verblüffenden Parallelen. Das Buch enthält über 100 große Fotos und erzählt die Geschichte der Unfälle, der Orte und der Evakuierten.

Das Buch enthält auch zwei Essays vom ehemaligen Sowjet-Präsidenten Mikhail Gorbatschow und dem früheren japanischen Premierminister Naoto Kan. Worum geht es den beiden?

AP: Beide Politiker waren zur Zeit der Atomunfälle die Staatspräsidenten ihres jeweiligen Landes und hatten deshalb den umfassendsten Überblick über die jeweilige Lage. Sie beeinflussten die Bewältigung der Katastrophen maßgeblich und in ganz frühem Stadium. Naoto Kan beschreibt zum Beispiel Pläne, 50 Millionen Menschen in einem Radius von 250 Kilometer um Fukushima zu evakuieren - inklusive der Metropole Tokio. Die Auslöschung Japans als Staat wäre die Folge gewesen. Nur ein paar glückliche Umstände und das aufopferungsvolle Handeln einiger Weniger konnte dieses Szenario verhindern. Die wichtigste Aussage beider Essays ist aber die totale Kehrtwende beider Politiker von Befürwortern der Atomkraft hin zu den schärfsten Gegnern. Beide haben eine völlig neue Haltung zur Nukleartechnik eingenommen, konträr zur der bis zum jeweiligen Unglück vertretenen. Es gab wohl niemanden sonst, der so dicht an den Geschehnissen war und so umfassendes Wissen über die Situationen hatte, wie diese beiden Herren. Es gibt keinen berufeneren Mund, die Welt von der Notwendigkeit des Atomausstiegs zu überzeugen.

Ihr Heimatland Polen möchte in die Atomkraft einsteigen, Deutschland hat den Weg des Atomausstiegs begonnen. Welcher Weg ist realistisch?

AP: Das Unglück in Fukushima hat viele Regierungen und Völker bewogen, die Nutzung der Atomkraft zu überdenken und mehr Arbeit in die Entwicklung alternativer Energien zu investieren. Der technische Fortschritt und die höheren Stückzahlen sowie die geringeren Kosten für Produktion und Speicherung von grüner Energie setzen die Atomkraft auch kostenmäßig massiv unter Druck. Dieser Prozess ist noch relativ jung und trotzdem schon so weit voran geschritten, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Kernkraft keine Zukunft mehr hat. Die kritische Masse ist bereits überschritten.


Das Buch HALF LIVE: From Chernobyl to Fukushima hat Akadiusz Podniesinski im Eigenverlag herausgegeben.

Es beinhaltet über einhundert Schwarz-Weiß- und Farbfotos auf mehr als 200 Seiten. Texte und Bildunterschriften sind in polnisch, englisch und japanisch verfasst.

Als Gastautoren haben der ehemalige Sowjet-Präsident Mikhail Gorbatschow und Japans früherer Premierminister Naoto Kan Beiträge geliefert.

Das Buch kann für 40 Euro auf Podniesinskis Website bestellt werden:
www.podniesinski.pl

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Quelle:
Gorleben Rundschau - Ausgabe 1065, März-April 2018, Seite 18 - 21
Lizenz: CC BY NC SA
Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2018

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