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KLIMA/460: Eisalge Melosira arctica im Klimawandel (idw)


Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung / Deutsche Botanische Gesellschaft (DBG) - 06.01.2016

Alge des Jahres 2016: Eisalge Melosira arctica - Gewinnerin oder Verliererin des Klimawandels?


Forschende haben eine der wichtigsten Algen des Arktischen Ozeans, Melosira arctica, zur Alge des Jahres gekürt. An ihr wollen die Wissenschaftler die Auswirkungen des Klimawandels studieren.

"Denn noch kann keiner voraussehen, ob Melosira Opfer oder Profiteur des schmelzenden Meereises werden wird, und noch weiß keiner, warum sie die produktivste Alge in dieser lebensfeindlichen Welt ist", sagt der Biologe Dr. Klaus Valentin vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Er ist Mitglied der Sektion Phykologie der Deutschen Botanischen Gesellschaft (DBG), in der all jene Algenforscher organisiert sind, die Melosira zur Alge des Jahres 2016 gewählt haben.


Foto und © Julian Gutt, AWI

Viele einzellige Melosira arctica hängen in Gallerte verpackt von den sie tragenden Eisschollen in das Meerwasser herab.
Foto und © Julian Gutt, AWI


Foto und © Julian Gutt, AWI

Die "Vorhänge" aus Eisalgen sind etwa drei Meter lang.
Foto und © Julian Gutt, AWI

"Die Eis- und Kieselalge Melosira arctica ist die mit Abstand produktivste Alge im Arktischen Ozean, wie wir aus unseren neuesten genetischen Studien wissen", erklärt Klaus Valentin. Im Jahr 2013 war sie zum Beispiel für fast die Hälfte (rund 45 Prozent) der arktischen Primärproduktion verantwortlich. Das heißt, diese Art baut viel Biomasse auf, verbraucht dafür Kohlendioxid und produziert Sauerstoff.

Die Schalen der nur 30 Mikrometer kleinen Algen bestehen aus Kieselsäure und sind von einem gallertartigen Schutzmantel aus Polysacchariden umgeben. So bildet der Einzeller Melosira bis zu mehrere Meter lange Ketten und Algenmatten, die Vorhängen gleich von der Unterseite des Meereises herabhängen. Auch in Salzlaken und in Schmelzwassertümpeln haben Polarforscher die Kieselalge gefunden, wo sie teils in großen Mengen wächst.

Diese Algenmatten waren bereits den Polarforschern um Fridtjof Nansen aufgefallen. Auf ihrer mehrjährigen Polarexpedition Ende des 19. Jahrhunderts sammelten Nansen und seine Begleiter Proben, die heute noch im Friedrich-Hustedt-Zentrum für Kieselalgenforschung am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung aufbewahrt werden.


Foto des Originals aus der Ehrenberg-Sammlung, © Museum für Naturkunde, Berlin

Diese Melosira arctica zeichnete Christian Gottfried Ehrenberg um 1850 von einer Probe, die zuvor aus der Melville Bay im Nordwesten Grönlands geborgen wurde.
Foto des Originals aus der Ehrenberg-Sammlung, © Museum für Naturkunde, Berlin

Noch ist aber weitgehend unbekannt, wie Melosira arctica die lange Polarnacht und den harschen Frost des arktischen Winters übersteht, um sich dann im Frühjahr so stark zu vermehren, dass sie den Arktischen Ozean dominiert. "Wir wissen auch nicht, wie sie sich entwickelt und durch welche Umweltfaktoren wie Licht, Nährstoffe oder Salzgehalt ihre Lebensweise gesteuert wird. Und das, obwohl Kieselalgen an der Basis der Nahrungskette stehen und Melosira arctica ein Schlüsselorganismus des arktischen Ökosystems ist", sagt Klaus Valentin. Aus diesem Grund steht die Alge nun im Fokus eines neuen Forschungsprojektes am AWI.


Erstmals systematische Analysen möglich

Das Projekt "Melosira arctica in a changing Arctic Ocean" startete als eines der ersten Strategievorhaben des AWI. Dazu sammelte das Team um Klaus Valentin verschiedene Algenproben in der Arktis, um daraus im Labor Reinkulturen zu etablieren. Auf Basis derer ist es nun erstmals möglich, Antworten auf die vielen Fragen der Biologen zu erlangen.

So interessiert die Forschenden zum Beispiel, ob und wie die Kieselalge auf den Klimawandel reagieren wird. Die Meereisdecke der Arktis ist seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979 deutlich geschrumpft. Manche Klimamodelle gehen daher davon aus, dass die Arktis in den Sommern der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eisfrei sein könnte. "Was geschieht dann mit Melosira, die wir vor allem am und im mehrjährigen Eis finden?" fragt sich Klaus Valentin.


Foto und © Stefan Hendricks, AWI

Die Eisalge Melosira arctica vermehrt sich auch in den Schmelztümpeln der Arktis.
Foto und © Stefan Hendricks, AWI


Physiologische Reaktionen der Eisalge

"Wenn sich das Meerwasser erwärmt und die Lichteinstrahlung zunimmt, wachsen die meisten Algen besser. Das aber kann für Melosira ganz anders sein", gibt der AWI-Biologe zu Bedenken.

Algen gewinnen mithilfe der Photosynthese Energie und produzieren Sauerstoff, der bei Melosira als Gasbläschen in den Zuckergallerten hängen bleiben kann, was der Alge wiederum Auftrieb verleiht. Vielleicht kann sie auf diese Weise auch im Oberflächenwasser weiterleben, wenn die sie bisher tragenden Eisschollen abschmelzen.


Foto und © Anique Stecher, AWI

Aufsicht auf eine Eisscholle in deren Inneren sich die Alge Melosira arctica eingenistet hat.
Foto und © Anique Stecher, AWI

Die Forschenden wollen deshalb herausfinden, bei welchen Temperaturen die Alge optimal gedeiht und Photosynthese betreiben kann. Ferner fragen sie sich, wie die Alge mit dem Nährstoffspektrum umgehen wird, das sich mit den Temperaturen verändern wird. Fehlen ihr dann wichtige Nährstoffe wie etwa Nitrat? Welche Lichtverhältnisse verträgt die Alge am besten, da zu viel Lichteinstrahlung bei schwindenden Eisflächen auch wachstumshemmend wirken kann? All dies lässt sich im Labor einfacher simulieren und genauer messen als im Freiland.


Anpassungsfähigkeit über mehrere Generationen

Im Labor plant das Team auch ein Langzeitexperiment. Es will verschiedene Melosira-Stämme etwa 150 Generationen lang unter verschiedenen Bedingungen kultivieren, um herauszufinden, ob es etwa einzelne Stämme oder Unterarten gibt, die langfristig mit Temperaturen bis zu acht Grad zurechtkommen können. Dann hätte dieser Stamm das Potential sich an den Klimawandel anzupassen. Kann die Alge den Veränderungen trotzen, hätte das weitreichende Auswirkungen auf das gesamte arktische Ökosystem.


Genetische Varianten

Und schließlich möchten die Wissenschaftler auch das Genom der verfügbaren Melosira-Proben analysieren. Auf diese Weise können sie herausfinden, ob in der Nordsee andere Melosira-Unterarten vorkommen als im Norden Kanadas.

Dr. Regine Jahn vom Botanischen Garten und Botanischen Museum der Freien Universität Berlin hatte schon vor zehn Jahren gemeinsam mit einer kanadischen Kollegin innerartliche Sippen identifiziert. Dazu hatte Jahn, derzeit zweite Vorsitzende der Sektion Phykologie, die Proben aus der Ehrenberg-Sammlung des Museums für Naturkunde in Berlin in einem Elektronenmikroskop untersucht, die im Jahr 1852 Systematikern dazu gedient hatten, die Art erstmals für die Wissenschaft zu beschreiben.

Der Vergleich der Originalproben aus der Melville Bay Grönlands mit weiteren Kieselalgen-Populationen vor den Küsten Alaskas und Kanadas zeigte deutliche Unterschiede in den Feinstrukturen ihrer Kieselschalen. Gäbe es tatsächlich mehrere genetische Varianten im Polarmeer, wäre die Chance größer, dass eine Unterart darunter ist, die sich an den Klimawandel anpassen kann.


Melosira wirkt bis in der Tiefsee

In den Jahren, in denen im arktischen Sommer viel Meereis schmilzt, sinken die Algenteppiche mehrere tausend Meter tief zum Meeresboden, wo sie von Seegurken und Haarsternen gefressen werden. Bakterien zersetzen im Anschluss die Melosira-Reste, wie Mitwirkende im neuen Forschungsprojekt auf einer Polarstern-Expedition im Sommer 2012 beobachteten. Im Zuge dieser Zersetzung entziehen die abbauenden Organismen ihrer Umgebung den lebenswichtigen Sauerstoff, sodass die Kieselalge Melosira arctica letztendlich auch das Leben in der Tiefsee beeinflusst. Mit auf diese Reise in die Tiefe nehmen sie dabei bis zu 85 Prozent des in der Arktis vorkommenden, gebundenen Kohlenstoffes, den Melosira zuvor in Biomasse umgesetzt hat. Auf diese Weise wird auch der arktische Kohlenstoffkreislauf von Melosira geprägt.

Die gesamte Pressemitteilung inkl. Bilder unter:
http://idw-online.de/de/news643952
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution188

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Deutsche Botanische Gesellschaft (DBG) / Alfred-Wegener-Institut,
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Ralf Röchert, 06.01.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2016

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