Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → INTERNATIONALES


LANDWIRTSCHAFT/143: Langfristige Ernährungssicherheit setzt nachhaltige Landwirtschaft voraus (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2022

Transformation der Landwirtschaft
Langfristige Ernährungssicherheit setzt nachhaltige Landwirtschaft voraus

von Lavinia Roveran


Seit Ausbruch des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ist klar, welche erheblichen Auswirkungen dieser Krieg auf die Agrarmärkte, die Lebensmittelversorgung sowie das gesamte Ernährungssystem hat und haben wird - und das weltweit. Die Ukraine ist in den letzten Jahren ein zentraler Produzent von Weizen, Mais und Ölsaaten geworden und hat vor allem Länder in Nordafrika und dem Nahen Osten versorgt. Preissprünge bei Lebensmitteln und Energiepreisen, wie wir sie aktuell beobachten, sind lebensbedrohlich für Millionen von Menschen im Globalen Süden. Die Spekulation mit Lebensmittelpreisen kann diese künstlich in die Höhe treiben und verstärkt die aktuelle Krise zusätzlich. Hier müssten Agrarrohstoffmärkte stärker reguliert werden.

Schon vor Ausbruch des Krieges hat die Covid19-Pandemie in den letzten zwei Jahren zu einer Hungerwelle geführt: Allein zwischen 2019 und 2020 ist die Zahl der Hungernden weltweit um 118 Millionen auf bis zu 811 Millionen gestiegen. Nun kommt erschwerend hinzu, dass Russland und die Ukraine global für 30 Prozent der Maisexporte und 20 Prozent der Weizenexporte verantwortlich sind.

Alte Scheinlösungen für neue Krisen

Eine der ersten Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine war ein reflexartiges Infragestellen von Naturschutz- und Klimazielen. Deutschland und Europa müssten nun die Produktion von Lebensmitteln um jeden Preis steigern, um die Welt ernähren zu können - Narrative, die seit Jahren überholt sind und die in der aktuellen Krise sofort wieder parat waren. Dabei bietet eine Steigerung der Lebensmittelproduktion in Deutschland und Europa auf Kosten der Biodiversität und des Klimas, etwa durch den Getreideanbau auf ökologischen Vorrangflächen, keine nachhaltige Antwort auf die Krise. Kurzfristig nicht, weil die in Europa so zusätzlich produzierten Mengen minimalen Einfluss auf die Weltmarktpreise haben. Langfristig nicht, weil Hunger in erster Linie ein Armuts- und Verteilungsproblem ist. Der durch die Bewirtschaftung von ökologischen Vorrangflächen entstehende Schaden für die Artenvielfalt und die Stabilität von Agrarökosystemen steht somit in keinem Verhältnis zum marginalen Nutzen für die Ernährungssicherung. Stattdessen müssen besonders betroffene Länder dazu befähigt werden, ihre eigene Produktion unter Beachtung von Nachhaltigkeitsaspekten so zu erweitern, dass die Exportabhängigkeit gemindert werden kann.

Um zu einem resilienten Ernährungssystem zu kommen, in dem Nahrungsmittelsicherheit gewährleistet ist und Ernährungssouveränität gestärkt wird, braucht es eine Transformation der Landwirtschaft - und das ohne Aufschub. Die Biodiversitäts- und Klimakrisen erfordern schnelles Handeln und dürfen angesichts des UkraineKrieges nicht vernachlässigt werden. Ohne stabile Agrarökosysteme sind unsere Ernten zunehmend gefährdet. Der Ökolandbau hat daher zu Recht eine Vorbildfunktion, denn er macht deutlich, wie Ernährungssysteme langfristig resilient und nachhaltig gestaltet werden können.

Was kann wirklich helfen?

In der aktuellen Situation gibt es keine Blaupause zur Bewältigung aller Herausforderungen, aber viele Organisationen aus Umwelt-, Natur- und Tierschutz, Ökolandbau, Landwirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit sowie eine große Anzahl von WissenschaftlerInnen haben wichtige Lösungsansätze in die Debatte eingebracht. Etwa 60 Prozent der deutschen Getreideproduktion erfolgt für die Herstellung von Futtermitteln und nur 20 Prozent für die Herstellung von Lebensmitteln. Eine Reduzierung der Tierbestände würde Flächen für die Produktion von Lebensmitteln freigeben und zusätzlich dem Klimaschutz dienen. Es braucht unmittelbar wirksame Maßnahmen, die eine Reduzierung der Nutztierhaltung in Deutschland und Europa sowie ein verändertes Konsumverhalten befördern. Außerdem muss die globale Abhängigkeit von Lebensmittel-, Dünger- und Energieimporten langfristig verringert werden. Auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist es jetzt geboten, die Landwirtschaft aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu lösen. Das gilt insbesondere angesichts der unter hohem Energieaufwand hergestellten Mineraldünger, die viele Betriebe vor große ökonomische Herausforderungen stellen. In der Konsequenz ist eine deutlich bessere Nutzung des vorhandenen Aufkommens an Wirtschaftsdünger sowie eine stärkere Integration von stickstoffbindenden Hülsenfrüchten in die Fruchtfolge erforderlich.

Die diskutierte Abschwächung oder Aussetzung von ökologisch wertvollen Flächenanteilen in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU ist nicht zielführend. Zum einen kann hiermit nur wenig Produktionsfläche aktiviert werden. Zudem würde dies lediglich auf Flächen geschehen, die in ihrer Produktivität überwiegend eingeschränkt sind. Zum anderen drohen dadurch erhebliche, negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt und die Erbringung von Ökosystemleistungen (z.B. Erosionsschutz, Wasser- und Kohlenstoffspeicher, Bestäubung sowie Schädlingskontrolle). Die Ziele des European Green Deal bis 2030 dienen der langfristigen Produktivitäts- und damit auch der Ernährungssicherung. Ihre Umsetzung darf nicht weiter behindert, sondern muss schnellstmöglich vorangetrieben werden. Ein hohes und vergleichsweise schnell zu aktivierendes Potenzial, zusätzliche Fläche für die Lebensmittelproduktion bereitzustellen, bietet die sofortige und ggf. temporäre Reduzierung von Agrokraftstoffen. Allein in Deutschland könnten hierdurch 800.000 Hektar (ha) Ackerland gewonnen werden. Zahlreiche Studien belegen überdies, dass der immense Flächenverbrauch für die Produktion von Agrokraftstoffen jeglichen Klimavorteil gegenüber fossilen Kraftstoffen zunichtemacht. Die Beimischung von Bioethanol und Biodiesel sollte daher zeitnah ausgesetzt oder am besten vollständig eingestellt werden.

Um zu einem resilienten Ernährungssystem zu kommen, in dem Nahrungsmittelsicherheit gewährleistet ist und Ernährungssouveränität gestärkt wird, braucht es eine Transformation der Landwirtschaft.

Politisches Tauziehen

In der Politik, sei es auf EU- oder auf nationaler Ebene, gibt es keine einheitliche Stimme. Die EU-Kommission bekennt sich zum European Green Deal und seinen nachgelagerten Strategien - der Farm-to-Fork- und der EU-Biodiversitätsstrategie - und hat, wenn auch mit dreimonatiger Verzögerung, im Juni 2022 ambitionierte Entwürfe für ein EU Restoration Law und die Novellierung der Pestizidgesetzgebung vorgelegt, die selbst von Umweltorganisationen als 'boost for biodiversity' bewertet werden.[1] Auf der anderen Seite hat sich EU-Agrarkommissar Wojciechowski mehrfach für ein Aufweichen der GAP-Regeln ausgesprochen, was einen Rückschritt in Sachen nachhaltiger Landwirtschaft bedeuten würde. Der sogenannte Observation Letter der EU-Kommission, also die Antwort auf den deutschen Strategieplan zur Umsetzung der GAP in Deutschland, zeigt jedoch, dass die EU-Kommission insgesamt die Transformation des europäischen Agrarsystems weiterhin als Ziel ansieht, und fordert von Deutschland erhebliche Nachbesserungen ein.

Kommissionsvizepräsident Frans Timmermanns brachte die schwierige Debatte Ende April vor dem Umweltausschuss des Europäischen Parlaments auf den Punkt: "Those who did not like EU Farm to Fork strategy to start with use the war in Ukraine as a pretext to try and stop it from happening. [...] If we don't understand that the Farm to Fork is an attempt to save agriculture, not punish it, in light of the devastating effects of biodiversity loss and climate change on food production globally, we are really in a wrong attitude."[2]

Die Bundesregierung und insbesondere Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir haben begriffen, dass die verschiedenen Krisen - Krieg, Klima, Biodiversität -nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Das geht zum einen aus der Reaktion des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) zum Observation Letter hervor, dessen Kritik Özdemir als Bestätigung seines Transformationskurses versteht. Zudem hat er kürzlich gemeinsam mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke Vorschläge zur Absenkung der Beimischungsquote von Biokraftstoffen gemacht. Bekenntnisse allein helfen jedoch nicht weiter. Es braucht jetzt konkretes und entschlossenes Handeln seitens der Bundesregierung, um die vielen Herausforderungen anzugehen.

Wir müssen den Blick weiten

In dieser aktuellen Debatte um Agrarsysteme, Ernährungssicherung und Krieg ist es extrem wichtig, den Blick nicht nur auf Deutschland und Europa zu richten, sondern vor allem auf die Länder des Globalen Südens, die jetzt akut von Versorgungsproblemen bedroht sind. Diese Krise ist eine globale Krise und sie muss global gelöst werden. Deutschland hat derzeit den G7-Vorsitz inne und kann somit eine wichtige Rolle einnehmen - doch ein Austausch unter den G7 allein, wie er seit Ausbruch des Krieges schon drei Mal stattgefunden hat, reicht nicht aus. Hier werden vielmals Partikularinteressen über das weltweite Gemeinwohl gestellt. Entwicklungsorganisationen haben schon Vorschläge gemacht, wie ein global vernetztes Handeln im Rahmen bestehender Strukturen organisiert werden kann, etwa im Welternährungsausschuss.

Alles in allem führt uns der Ukraine-Krieg einmal mehr vor Augen, wie vulnerabel unsere globalen Agrarsysteme sind. Die Transformation der Landwirtschaft wird nicht leicht, ist aber die notwendige Antwort, um die globalen Abhängigkeiten im Agrarsystem zu verringern und zeitgleich die Klima- und Biodiversitätskrise zu bekämpfen.

Die Autorin ist Koordinatorin für Naturschutz und Agrarpolitik beim Deutschen Naturschutzring e.V.

Verweise:
[1] https://www.iucn.org/news/europe/202206/eu-naturerestoration-law-a-boost-biodiversity-and-climate
[2] https://www.euractiv.com/section/agriculture-food/news/timmermans-scaremongering-on-food-security-dishonestirresponsible/

*

Quelle:
Rundbrief 2/2022, Seite 5-7
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 1. Oktober 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang