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PROJEKT/076: Nicaragua - Die Recyclerinnen von Altagracia revolutionieren Abfallmanagement (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. September 2015

Nicaragua: Die Recyclerinnen von Altagracia - Arme Inselbewohnerinnen revolutionieren Abfallmanagement

von José Adán Silva



Bild: © José Adán Silva/IPS

María del Rosario Gutiérrez (Mitte) mit Tochter María und Francis Socorro Hernández, ebenfalls Mitglied der Vereinigung der Recyclerinnen von Altagracia auf der nicaraguanischen Insel Ometepe, nach getaner Arbeit
Bild: © José Adán Silva/IPS

ALTAGRACIA, NICARAGUA (IPS) - Um sich und ihren armen Familien ein Auskommen zu sichern, ist eine Gruppe von Frauen, die auf einer Insel im Cocibolca-See im Westen Nicaraguas leben, ins Abfallmanagement eingestiegen: Sie sammeln, trennen und verkaufen Schrott, Plastik und Glas.

Auch wenn ihre finanzielle Absicherung nicht gelungen ist, immerhin haben sie ihre Gemeinde auf Ometepe auf Trab gebracht, das touristisch nachgefragte Biosphärenreservat sauber zu halten.

Das Projekt nahm 2007 seinen Lauf, als María del Rosario Gutiérrez beobachtete, wie Menschen auf den Müllhalden der Hauptstadt Managua um die dort abgeladenen Wertstoffe rangelten. "Was mögen diese Abfälle wohl wert sein, wenn Menschen dafür riskieren, verletzt zu werden", fragte sie sich damals.

Die zweifache Mutter lebte in extremer Armut. Um sich und die Kinder durchzubringen, bewirtschaftete sie einen auf Gemeindeland angelegten Gemüsegarten und verdiente mit Gelegenheitsarbeiten ein kleines Zubrot. Von einer Nachbarin erfuhr sie, dass es in Moyogalpa, der zweiten Stadt auf Ometepe, ein Büro gibt, das Schrott, Glas und Plastikflaschen gegen Bares annimmt.

Die beiden Frauen hörten sich um und fanden heraus, dass es in ihrer Gemeinde einen Zwischenhändler gibt, der lokalen Hotels die Wertstoffe abkauft, sie reinigt und später zu Recyclingzwecken nach Managua schafft. Gutiérrez stellte den Kontakt zu dem Mann her und bewältigt seither jeden Tag mit einem Sack über der Schulter riesige Wegstrecken, um die recycelbaren Abfälle zusammenzutragen.


Von der Entwicklung eines Projektes

Ihre Nachbarin und andere arme Frauen folgten ihr. Später stiegen die Frauen auf Fahrräder, um die Wertstoffe von den Straßenrändern einzusammeln, die Touristen achtlos weggeworfen hatten. "Das, was wir damit verdienten, war nicht viel, reichte aber, um unsere Familien satt zu bekommen", erinnert sich die 30-Jährige. "Und da wir ohnehin keinen geregelten Job hatten, war es uns egal, so lange unterwegs zu sein. Aber anstrengend war das Ganze schon."

Müllsammlerinnen sind auf den Straßen der Insel inzwischen ein gewohnter Anblick. Sie werden unter anderem von der 'Stiftung zwischen Vulkanen' unterstützt. Wie Miriam Potoy, eine Mitarbeiterin, berichtet, habe man mit einer Gruppe in Moyogalpa begonnen. "Zunächst statteten wir die Frauen mit Schutzausrüstungen und Hygieneartikeln aus. Danach informierten wie sie über den Wert der Abfälle und zeigten ihnen darüber hinaus, dass sie aus Schrott Souvenirs für die Touristen herstellen können, um sich damit noch ein bisschen dazu zu verdienen."


Bild: © Karin Paladino/IPS

Frauen aus der Ortschaft Balgüe im Gemeindebezirk Altagracia auf der Insel Ometepe in Nicaragua
Bild: © Karin Paladino/IPS

Von dem Engagement der Frauen beeindruckt, entschlossen sich auch andere Organisationen, Müllsammlerinnen zu unterstützen. Die Stadtregierung von Altagracia wies ihnen einen Platz zu, an dem sie die gesammelten Wertstoffe trennen und sortieren können. Tourismusunternehmen, die zuvor selbst den Müll für den Weiterverkauf getrennt hatten, gaben die Arbeit an die Frauen ab. Und Lebensmittelgeschäfte und Dienstleister wiederum stellten den Recyclerinnen das nötige Equipment zur Verfügung und berieten sie.

Die Solidarität und Unterstützung, die die Frauen erfuhren, veranlasste die Stadtregierung dazu, ihnen den Arbeitseinsatz eine Zeitlang mit jeweils zwei Dollar pro Tag zu vergüten. Der Transport der Wertstoffe bis zum Kai, von wo aus sie in die Stadt Rivas verschifft werden, ist nach wie vor für sie umsonst. Von Rivas aus geht es dann weiter auf der Straße bis ins 120 Kilometer entfernte Managua.

"Die Gemeinde weiß die Arbeit der Frauen sehr zu schätzen, und zwar nicht nur, weil sie dadurch die Insel sauber halten, was gut ist für den Tourismus, sondern auch, weil sie so eisern entschlossen sind, ihr Leben und das ihrer Familien zu verbessern", erläutert Potoy. "Und das ist ihnen mit nicht-traditionellen Aktivitäten gelungen, die zudem zur Überwindung stereotyper Denkweisen über die Rolle der Frau in diesen entlegenen ländlichen Gebieten beitragen."

Auch Francis Socorro Hernández ist eine Recyclerin der ersten Stunde. Wie sie IPS berichtet, hat sie sich anfangs vor den Leuten geschämt, sich zu bücken und den Müll aufzusammeln. "Doch nach der Teilnahme an Workshops zu Frauenfragen sowie Schulungen über die Führung von Mikrounternehmen und über den Umweltschutz habe ich erkannt, dass ich etwas sehr wichtiges tue und dass es weitaus schlimmer ist, in einer schmutzigen Umgebung zu hausen und sich mit der Armut abzufinden. Da war es mit der Scham vorbei."


Dominoeffekte

Die Arbeit der Recyclerinnen hatte eine Vielzahl von Dominoeffekten. Als Karin Paladino, Leiterin der Gemeindeorganisation 'Environmental Education Ometepe', die Kinder und Jugendliche auf der Insel für Umweltbelange sensibilisiert, von der Initiative hörte, brachte sie lokale Lehrer und Schüler dazu, sich an eigens eingeführten 'Säuberungstagen' zu beteiligen und die gesammelten Wertstoffe den Frauen zu überlassen.

Ometepe ist ein 276 Quadaratkilometer großes tropisches Inselparadies inmitten des 8.264 Quadratkilometer großen Nicaragua- oder Cocibolca-Sees im Westen des 6,1 Millionen Menschen zählenden, zentralamerikanischen Landes.


Bild: © Karin Paladino/IPS

Der Vulkan Concepción, einer von insgesamt zweien auf der Insel Ometepe im Cocibolca-See in Nicaragua
Bild: © Karin Paladino/IPS

Von den zehn Frauen, die die 'Vereinigung der Recyclerinnen von Altagracia' gegründet hatten, sind nur noch sechs übrig geblieben. Sie sammeln und verkaufen auch weiterhin Schrott, Glas und Plastik, um ihre Familien durchzubringen.

Gutiérrez zufolge ist es nicht immer leicht, dabei zu bleiben. "Zum Glück hatten wir immer die Unterstützung der Stadtregierung und einiger Hotels. Auch die Menschen aus der Europäischen Union haben Gelder für die Verbesserung der Hygiene gespendet. Doch brauchen wir weitere Mittel, um die Materialien sammeln, transportieren, weiterverarbeiten und von der Insel schaffen zu können", fügte sie hinzu.

Mit Unterstützung der EU hat die Stadtverwaltung von Moyogalpa die Müllhalden der beiden Inselstädte optimieren können. Nun gibt es dort Regenwasserauffangbecken und Sammelstellen für organischen Müll sowie Container zur Herstellung von Wurmkompost.

Die zwei Städte haben den Recyclerinnen zudem Parzellen zugewiesen, auf denen sie ihr Gemüse und Getreide für die Selbstversorgung der Familien anbauen können.

Doch die Bemühungen und die Solidarität reichten offenbar nicht aus, um einige der Frauen in der Gruppe zu halten. Mit dem Niedergang der Erdölpreise sanken auch die Wertstoffabnahmepreise und somit die Einnahmen der Recyclerinnen, von den einige inzwischen zu ihrer alten Beschäftigung zurückgekehrt sind.

"Ich hatte es mit dem Müllsammeln wirklich ernst gemeint. Doch irgendwann kam ich zu der Erkenntnis, dass das Projekt nicht wirklich gut läuft, es aber die Familie gibt, die ernährt sein will", erklärt María. "Deshalb haben mein Mann und ich wieder Bohnen und Gemüse für den Verkauf gepflanzt", erläutert sie.

Doch mit dem Müllsammeln macht sie weiter. "Auch wenn ich nicht mehr im Boot bin, schenke ich meinen ehemaligen Kolleginnen den gesammelten Schrott", versichert sie.

Die einen gehen, andere kommen. "Nach wie vor werden riesige Müllmengen angeliefert. Gleichzeitig steigt auch die Zahl der Helferinnen. Wir werden von unseren Familien unterstützt und sind recht zufrieden", meint Eveling Urtecho. Unter der Führung von Gutiérrez, unterstützt von der Stadtverwaltung und erneut bezuschusst von der EU sind die Recyclerinnen zuversichtlich, dass sich ihre Einkommen und Arbeitsbedingungen in nächster Zeit verbessern werden.


Viele Touristen, viel Plastik

Ometepe, was in der Sprache der indigenen Nahuatl soviel bedeutet wie 'zwei Berge', zieht jedes Jahr um die 50.000 Touristen an, die Unmengen an Plastikmüll produzieren. Allein die Vereinigung von Altagracia sammelt monatlich zwischen 1.000 und 1.200 Kilogramm ein. Die Ausbeute der Gruppen in Moyogalpa ist etwa ebenso hoch.

Bevor die Frauen ihre Müllrevolution starteten, landete der Großteil dieser Abfälle auf den Straßen, in Flüssen oder Hinterhöfen oder wurde verbrannt. Bei Regen wurden die Rückstände in den See geschwemmt. (Ende/IPS/kb/08.09.2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/09/mujeres-revolucionan-manejo-de-la-basura-en-isla-nicaraguense/
http://www.ipsnews.net/2015/09/women-revolutionise-waste-management-on-nicaraguan-island/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2015

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