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SOZIALES/049: Indien - Mit traditionellem Wissen durch die Sturmsaison (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Mai 2014

Indien: Mit traditionellem Wissen durch die Sturmsaison

von Malini Shankar


Bild: © Malini Shankar

Traditionelle Hütte auf einer Insel der Nicobaren
Bild: © Malini Shankar

Port Blair, Andamanen, Indien, 15. Mai (IPS) - Im Mai und November fegen normalerweise die stärksten Wirbelstürme über die Anrainerstaaten am Golf von Bengalen in Südostasien. Die Regierungen ergreifen im Vorfeld eine Reihe von Schutzvorkehrungen. Die Wasser- und Nahrungsnotvorräte müssen aufgestockt, die Schutzräume instandgesetzt und Menschen rechtzeitig evakuiert werden

Zyklone sind Vorboten der Monsunregen, die sich mehrere Monate lang in unterschiedlicher Stärke über den Subkontinent ergießen. Mensch und Vieh geraten dadurch häufig in Lebensgefahr.

Die Behörden stellen den Opfern meist Notrationen bereit. Dabei werden die kulturell bedingten Essgewohnheiten vieler Opfer ignoriert. So kommt es vor, dass die Überlebenden von Naturkatastrophen die ihnen fremden Nahrungsmittel gar nicht anrühren. Unberücksichtigt bleibt häufig auch, dass die Haltbarkeit der Lieferungen in Anbetracht der langen Transportwege oftmals zu gering ist.

Wie Anvita Abbi, Linguistikdozentin an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi, berichtet, haben indigene Völker meist ihre eigenen Methoden, sich auf die Zyklone und andere klimatische Herausforderungen vorzubereiten. Die Bewohner der Großandamanen beispielsweise stellen in Zeiten von Wirbelstürmen den Fischfang auf offener See ein und werden zu Jägern und Sammlern.


Auf Tuchfühlung mit der Natur

Laut Abbi, die die lokalen Sprachen auf den Andamanen und den Nicobaren erforscht, verstehen es die Indigenen die Zeichen der Natur zu deuten. "Wenn ein bestimmter Vogel zu singen anfängt, wissen sie, dass die Zeit für die Schildrötenjagd an den Stränden gekommen ist und sie nicht mehr ins Meer herausfahren sollten."

Die Indigenen befolgen den Rat der Natur zur Anpassung an die Klimaverhältnisse. Deshalb können sie die Panik der Mainstream-Bevölkerung auch nicht nachvollziehen. Mit ihrem überlieferten Wissen fühlen sie sich selbst in kritischen Situationen bestens gewappnet.

"Die Nicobaresen und Jarawa-Indigenen auf den Andamanen beschränken sich in Zeiten, in denen das Meer unruhig ist, auf das Harpunieren von Fischen in seichten Gewässern. Sie besitzen Boote für den Fischfang auf hoher See sowie Kanus und Katamarane für die Küstengewässer", sagt A. Justin, Chefanthropologe am Regionalen Zentrum für anthropologische Studien in Port Blair.

Die Einbäume haben zudem den Vorteil, dass sie die Korallenriffe in flachen Gewässern nicht schädigen. "Das Volk der Chowra ist besonders für seine Fischerboote bekannt. Diese tauschen sie gegen Waren und Leistungen, die sie ihrem Lebensumfeld für Geld nicht bekommen", erläutert Justin.

Im ostindischen Bundesstaat Orissa pflanzen die indigenen Völker fünf verschiedene Reisvarietäten an, um auf Katastrophenzeiten vorbereitet zu sein. Die Soliga im südlich gelegenen Bundesstaat Karnataka setzen gezielt Pflanzen als natürliche Pestizide ein. Sie beherrschen zudem die Kunst, Nahrung in Bambusrohren zu kühlen.

Die Indigenen von Ladakh im Norden lagern Joghurt in Yak-Leder-Taschen, aus dem sie Buttertee herstellen. "Um mit der extremen Kälte in den Wüsten Ladakhs fertigzuwerden, greifen die Menschen auf fetthaltige Nahrung zurück und trinken viel Buttertee", erklärt der Sozialarbeiter Chewang Norphel aus Leh. "Die Häuser bestehen aus sonnengetrockneten Lehmziegeln und haben ein niedriges Dach. Weitere Kennzeichen für die umweltfreundliche Architektur sind kleine Türen und Fenster, die nach Norden zeigen."

Avula Laxman von Nationalen Institut für Ernährung in Hyderabad weiß, dass Indigene in Zeiten von Dürren und Überschwemmungen auf kostengünstige Nahrungsmittel umsteigen, weniger essen, sich Nahrungsmittel oder Geld borgen, zum Arbeiten in andere Landesteile umziehen oder eigene Besitztümer verkaufen.

Der Praxis, gemeinsam zu kochen und zu essen, liegt das Bedürfnis zugrunde, Ressourcen zu schonen. Die in der westlichen Welt üblichen individualistischen Lebensweisen sind den indigenen Völkern fremd. Den modernen Zivilisationen haben sie bereits die Vorzüge von Muttermilchbanken nahegebracht.


Frauen stillen nicht nur die eigenen Kinder

Üblich unter den indigenen Völkern ist ferner, dass Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, von anderen stillenden Müttern in der Dorfgemeinschaft oder in Krankenhäusern mit aufgezogen werden. Frauen helfen sich auch untereinander, wenn eine Mutter nicht genug eigene Milch hat. In der Gemeinschaft der Jarawa stärke das Stillen von Kindern die Bindungen zu den jungen Generationen, heißt es in dem Buch 'Andaman and Nicobar Islands in the 20th Century' von Kiran Dhingra.

"Es ist nicht überraschend, dass stillende Mütter auf den Strait-Inseln Babys mit ernähren, deren Mütter in Port Blair arbeiten müssen", sagt Abbi. Dadurch werden auch Barrieren zwischen verschiedenen Kasten und Glaubensrichtungen überwunden. In den Stammesgemeinschaften gibt es laut Abbi keine Waisen, auch wenn ansonsten klare Vorstellungen von Verwandtschaftsbeziehungen vorherrschen.

Laxman zufolge hat sich die ursprüngliche Kultur der Indigenen durch Kontakte mit Nicht-Indigenen, etwa Wanderarbeitern, jedoch grundlegend gewandelt. Den Behörden wirft er vor, den Ureinwohnern Lebensmittel zuzuteilen, die sie schlecht vertragen. Bei den Völkern im südindischen Bundesstaat Kerala seien inzwischen Stresssymptome, Bluthochdruck und Diabetes zu beobachten. (Ende/IPS/ck/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/05/traditional-wisdom-rescue-cyclone-season/

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IPS-Tagesdienst vom 15. Mai 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2014