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GENTECHNIK/634: Nulltoleranz für nicht zugelassene gentechnisch veränderte Organismen (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 4/2008
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

GENTECHNOLOGIE

Nulltoleranz für nicht zugelassene gentechnisch veränderte Organismen (GVO) beibehalten

Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Bund für ökologische Lebensmittelwirtschaft (BöLw) und andere Organisationen


Seit etwa anderthalb Jahren fordert die Gentechnik-Industrie inklusive der EU-Generaldirektion Landwirtschaft die Aufhebung der Nulltoleranz für in der Europäischen Union nicht zugelassene gentechnisch veränderte Organismen (GVO) und eine Beschleunigung der Zulassungsverfahren. Dabei geht es um Importe.
Dahinter steckt folgende Strategie: Die Gentechnik-Protagonisten haben sich vorerst von dem Ziel verabschiedet, den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen auf den Äckern der EU zu forcieren. Der Widerstand der Bevölkerung ist zu stark. Gleichwohl wollen sie die Agro-Gentechnik in anderen Weltregionen durchsetzen. Deshalb konzentrieren sich die Unternehmen auf eine anderes Geschäftsfeld: auf gentechnisch veränderte Futtermittel aus Nord- und Südamerika. Für diese ist die EU ein lukrativer Absatzmarkt. Störend ist jedoch die im weltweiten Vergleich relativ strikte Gentechnik-Gesetzgebung.
Um sie auszuhebeln, schrecken sie vor Angstkampagnen nicht zurück. Ohne Lockerung der Gesetze keine Futtermittel-Importe, ohne Futtermittel-Importe das Ende der Tierproduktion in der EU und deutlich höhere Fleischpreise - so lautet ihre griffige Formel. Sie ist so perfide wie falsch. Die EU-Kommission ist aufgefordert, ihrer Generaldirektion Landwirtschaft nicht zu folgen und sich nicht zum verlängerten Arm der Gentech-Lobby zu machen.


Einleitung

Im Herbst 2007 hat die Generaldirektion Landwirtschaft folgendes Szenario entworfen: Wenn die Nulltoleranz für in der EU nicht zugelassene gentechnisch veränderte Organismen (GVO) nicht aufgehoben und die Zulassungsverfahren für GVO nicht beschleunigt würden, dann wären die Folgen für die Schweine- und Geflügelproduzenten der EU fatal.(1)

Soja als wesentliche Proteinquelle sei für sie entweder überhaupt nicht mehr oder nur zu unerschwinglich hohen Preisen verfügbar, die Produktion gehe - bezogen auf den Januar 2007 als baseline - in den Jahren 2009 und 2010 bei Schweinefleisch um bis zu 34,7 Prozent und bei Geflügelfleisch um bis zu 43,9 Prozent zurück. Der Exportrückgang bei Schweinen läge im schlimmsten Falle bei über 85 Prozent, der bei Geflügel sogar bei 100 Prozent. Die Importe hingegen erreichten gigantische Zuwächse, der Konsum bräche durchschnittlich um etwa 20 Prozent ein.

Hinzu käme, dass Exporteure von Agrarrohstoffen die EU bereits jetzt mieden, weil ihnen das Risiko zu hoch sei, dass ihre Lieferungen im Falle einer geringfügigen Kontamination mit in der EU nicht zugelassenen GVO zurückgewiesen würden.(2)

Damit hat sich die Generaldirektion Landwirtschaft Forderungen und Argumentation der Gentechnik-Unternehmen und der ihnen assoziierten Lobbyorganisationen zu eigen gemacht.(3) Das gemeinsam verfolgte Ziel: Bei Importen soll eine low level presence von in der EU nicht zugelassenen GVO möglich sein, die sogenannten asynchronen Zulassungen sollen überwunden, d.h. die angeblich langsamen EU-Verfahren den schnelleren und weniger strengen US-amerikanischen Verfahren angeglichen werden.


Neue GVO-Sorten stehen vor der Vermarktung

Ab 2009 will Monsanto in den USA auf ein bis zwei Millionen Hektar seine neue Sojabohne Mon 89788 (Handelsname Roundup Ready 2 Yield) aussäen. Sie soll ihre Vorgängerpflanze ablösen, deren Anbau wegen mäßiger Erträge bei zunehmender Resistenzbildung bei Unkräutern unattraktiv zu werden beginnt. Die neue Soja soll laut Monsanto-Werbung um sieben bis elf Prozent höhere Erträge aufweisen. Damit bliebe sie trotz steigenden Pflanzenschutzmittelaufwands für Landwirte attraktiv.

Für die USA und Kanada verfügt die neue Sojasorte über eine Anbau-, für Japan über eine Importgenehmigung. In der EU liegt der Genehmigungsantrag der EFSA (European Food Safety Authority) seit November 2006 vor. Wann das Zulassungsverfahren abgeschlossen ist, ist offen, die Generaldirektion Landwirtschaft rechnet mit einem positiven Bescheid ab 2010. Neben Monsanto wollen auch Syngenta und Pioneer neue herbizidresistente Sojabohnen auf den Markt bringen. Angebaut werden sollen sie vor allem in Nord- und Südamerika, exportiert auch in die EU.

Diejenigen, die auf gentechnisch veränderte Pflanzen setzen, wollen die neuen Sorten so schnell wie möglich auf dem lukrativen EU-Markt absetzen, sie wollen die Kosten gering halten, die eine strikte Trennung von GVO-haltiger und GVO-freier Ware nach sich zieht, und sie wollen das Haftungsrisiko minimieren, das sie im Falle von Rückrufaktionen aufgrund verunreinigter Rohstoffe tragen.


Gentechnik-Politik und Futtermittelpreise

Es besteht kein Zusammenhang zwischen hohen Futtermittelpreisen und einer angeblich zu restriktiven Gentechnik-Politik in der EU. Die wirtschaftliche Not der Tiermäster in der EU wird vielmehr instrumentalisiert, um die Interessen der Gentechnik-Unternehmen durchzusetzen. Unter hohen Kosten für Futtermittel leiden auch Landwirte in den USA und in Kanada, in zwei Ländern also, die exzessiv auf Gentechnik setzen.

Die hohen Kosten für Futtermittel resultieren aus der allgemein gestiegenen Nachfrage nach Agrarrohstoffen. Weitere Gründe sind Ernteausfälle und Naturkatastrophen wie Dürren sowie Spekulationen.


Wie realistisch ist das Szenario?

Das Szenario arbeitet mit einer Reihe von Prämissen: Außer den USA steigen auch die beiden anderen maßgeblichen Soja-Anbauländer Argentinien und Brasilien ab 2009 in den großflächigen Anbau von Mon 89788 ein, die neue Sojasorte ist für Landwirte dieser Länder so attraktiv, dass sie die bisher angebaute Vorgängerpflanze zu fast 100 Prozent ablöst, asiatische Länder, allen voran China, haben den Mon 89788 zugelassen und kaufen den Weltmarkt für Soja ohne Rücksicht auf die EU leer.


Die großen Unbekannten dabei sind:

Steigen Argentinien und Brasilien tatsächlich ab 2009 in den großflächigen Anbau der Mon 89788 Sojabohne ein?
Ist das Zulassungsverfahren für die Soja in beiden Ländern bereits abgeschlossen?
Stehen regional angepasste Sorten und ausreichend Saatgut zur Verfügung?
Nehmen beide Länder, die ihre Soja laut Studie der Generaldirektion Landwirtschaft zu 42 Prozent (Argentinien) und zu 51 Prozent (Brasilien) in die EU exportieren, anders als bisher tatsächlich keine Rücksicht auf den Stand der GVO-Zulassungsverfahren ihres wichtigsten Handelspartners?
Finden sie innerhalb kürzester Zeit neue solvente Handelspartner, die die EU ersetzen, etwa China?
Haben sie ein Interesse, die Zahl ihrer Handelspartner zu minimieren bzw. sich in die Abhängigkeit von nur einem Handelspartner zu begeben?
Wie groß ist das Interesse argentinischer Landwirte, Mon 89788 anzubauen?
Hintergrund der Frage: Sie müssen für die neue Sorte Patentgebühren zahlen, anders als für die jetzt genutzte Soja. In Argentinien hat Monsanto erst nach der Etablierung der gentechnisch veränderten Soja als wichtigstem Exportprodukt des Landes Patentforderungen erhoben. Die Landwirte haben dies mit Unterstützung ihrer Regierung zurückgewiesen. Dadurch können sie billiger produzieren als ihre mit Patentzahlungen belasteten Kollegen in den USA und Brasilien - und auf diese Weise ihre Absatzmärkte sichern.
Ist das Zulassungsverfahren für die Mon 89788 Soja in China abgeschlossen, sind Importe nach China ab 2009 überhaupt möglich?

Schlussfolgerungen und Forderungen

Beibehaltung der Nulltoleranz für in der EU nicht zugelassene GVO.

Diese Forderung beinhaltet selbstverständlich auch die GVO, die von der EFSA bereits eine positive Sicherheitsbewertung erhalten haben.

Nach EU-Recht sind GVO, die in der EU nicht zugelassen sind, verboten. Dies Verbot steht im Einklang mit dem in der Freisetzungsrichtlinie (und im deutschen Gentechnikgesetz) verankerten Vorsorgeprinzip. Folglich dürfen sie weder in Lebens- noch in Futtermitteln enthalten sein, auch nicht in Spuren. Das heißt für die Importeure von Agrarrohstoffen:
Sie müssen auch weiterhin gewährleisten, nur zugelassene GVO-Produkte einzuführen. Die von ihnen im Verein mit den GVO-Produzenten zu verantwortenden Verunreinigungsskandale dürfen nicht dazu führen, das EU-Zulassungssystem auszuhöhlen. Nachlässiges Arbeiten wie das von Bayer Crop Science und Syngenta, die mit dem Reis LL 601 bzw. dem Mais Bt 10 von den USA aus zwei nirgends auf der Welt zugelassene GVO in Umlauf gebracht haben (4), oder von Pioneer, dessen Mais Herculex auf dem EU-Markt auftauchte, ohne über ein Zulassung zu verfügen, darf nicht mit der Einführung von Schwellenwerten belohnt werden.


Aussetzung der Zulassungen für GVO bis zur Verbesserung der Verfahren.

Nicht die Beschleunigung der EU-Zulassungsverfahren für GVO ist das Gebot der Stunde, sondern ihre Aussetzung. Warum? Die Kommission lässt sich bei ihren Entscheidungen über GVO-Zulassungen von den Stellungnahmen der European Food Safety Authority (EFSA) leiten.
Keine andere EU-Behörde ist so umstritten (5). Der EFSA wird vorgeworfen, sie lasse als originär für Lebens- und Futtermittelsicherheit zuständige Behörde Umweltwirkungen transgener Pflanzen außer acht, bescheinige selbst Produkten Unbedenklichkeit, die im Tierversuch negative gesundheitliche Effekte gezeigt haben (Mon 863), zeichne sich durch übergroße Nähe zur Industrie aus, bewerte lediglich von den Unternehmen vorgelegte Daten und führe keine eigenen Untersuchungen durch, sei intransparent in ihren Entscheidungen, klammere die Frage der Koexistenzfähigkeit gentechnisch veränderter Pflanzen aus und lasse verbraucherrelevante Aspekte außen vor.

An dieser Kritik kommt selbst die der Agro-Gentechnik sonst eher gewogene EU-Kommission nicht vorbei. In einem bisher einmaligen Vorgang ist sie im Mai 2008 gleich drei Empfehlungen der EFSA nicht gefolgt. Weder für die insektenresistenten Maissorten Bt 11 von Syngenta und 1507 von Pioneer noch für die gentechnisch veränderte Kartoffel Amflora der BASF hat sie eine Genehmigung zum Anbau erteilt.

Unter den Mitgliedsstaaten sind es insbesondere Österreich, Deutschland und Frankreich, sowie Luxemburg und Griechenland, die auf eine Verbesserung der Arbeit der EFSA dringen. Der Vorschlag Frankreichs auf dem jüngsten Umweltministerrat vom 5. Juni 2008, Umweltauswirkungen von GVO gründlicher zu untersuchen, insektenresistente Pflanzen, die permanent Gifte produzieren, genauer unter die Lupe zu nehmen und die wissenschaftliche Expertise insgesamt zu stärken, wurde einstimmig verabschiedet.
Weitere Ideen sollen im Oktober oder zum Ende des Jahres erörtert werden.

Vor dem Hintergrund, dass die Arbeit der EFSA einer massiven Kritik ausgesetzt ist und nicht einmal EU-Kommission, und Ministerrat Vertrauen in ihre Voten setzen, ist es unverantwortlich, eine Beschleunigung der Zulassungsverfahren zu fordern.


Verbesserte Zulassungsverfahren für GVO

Nicht nur die Behörde, die die Sicherheitsbewertung von GVO vornimmt, steht in der Kritik, auch die Prüfverfahren gelten als unzureichend.
Zum einen sind sie wenig harmonisiert - so ist beispielsweise unzureichend geregelt, welche Daten nach welchem Versuchsdesign über welchen Zeitraum zu erheben sind und wann die Sicherheit eines GVO als nicht gewährleistet gilt -, zum anderen weisen sie gravierende Lücken auf. Um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, müssen EU-weit einheitliche Tests eingeführt werden, für die Folgendes obligatorisch sein muss:

Längerfristige Fütterungsstudien (bislang maximal 90 Tage), die auch verbindlich an Tieren durchgeführt werden müssen, die die Pflanzen bei einer kommerziellen Nutzung des GVO fressen sollen. Dabei müssen Praxis-Stress-Bedingungen gelten.
Fütterungsversuche unter Praxisbedingungen. Das heißt: Es müssen tatsächlich die gentechnisch veränderten Pflanzen selbst in Fütterungs- und sonstige Versuche eingehen und das so, wie sie auf dem Feld stehen. Es dürfen also nicht allein einzelne Proteine verfüttert werden, die möglicherweise nicht einmal von der gentechnisch veränderten Pflanze gebildet worden sind, sondern aus Mikroorganismen stammen. Zudem müssen die maximal üblichen Mengen verfüttert werden. Der Anbau der Futterpflanzen muss unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen werden, um sowohl Persistenz als auch die Kontamination von Nachbarflächen oder Honig zu verhindern.
Untersuchungen, mit denen toxische, subtoxische, chronische, allergene und epidemiologische Effekte von gentechnisch veränderten Pflanzen auf die menschliche Gesundheit erfasst werden können.
Die Erfassung von Umweltwirkungen gentechnisch veränderter Pflanzen im Zusammenhang mit dem entsprechenden Anbausystem. Das bedeutet beispielsweise, dass bei herbizidresistenten Pflanzen die Umweltwirkungen der entsprechenden Herbizide gleichfalls zu berücksichtigen sind.
Eine Untersuchung über das Verhalten der Kultur beim Anbau und in der Lebensmittelkette. Dieses muss sowohl volkswirtschaftlich als auch einzelbetrieblich ökonomisch bewertet werden. Die Kosten der Koexistenz müssen transparent werden und auch, wer sie zu tragen hat. Nicht koexistenzfähige und volkswirtschaftlich unsinnige Kulturen dürfen keine Zulassung erhalten.

Keine Anerkennung von in Drittländern erteilten Zulassungen mit dem Ziel, die Nulltoleranz von in der EU nicht zugelassenen GVO aufzuheben

Mit dem Argument der "asynchronen" Zulassungen versucht die Gentechnik-Lobby zum einen, schnellere und einfachere Zulassungsverfahren innerhalb der EU zu erzwingen, zum anderen die hier geltende Nulltoleranz auszuhebeln. Asynchron heißt, dass Zulassungsverfahren verschiedener Länder nicht zeitgleich abgeschlossen werden. Suggeriert wird, dass Zulassungen überall auf der Welt schneller erfolgten als in der EU, die damit wirtschaftlich hoffnungslos ins Hintertreffen gerate. Dabei geht es in erster Linie um die USA - das Land mit dem weltweit größten Anteil am GVO-Anbau und den meisten Zulassungen. Fakt ist jedoch: Nicht die Zulassungen der EU verlaufen asynchron, sondern die der USA. Der so genannte nonregulated status für GVO wird rasch erteilt, damit erfolgen GVO-Zulassungen schneller als überall sonst. So ist der Mon 89788 bisher allein in drei Ländern zugelassen: in den USA und Kanada zum Anbau und in Japan zum Import als Lebens- und Futtermittel.

GVO-Zulassungen in den USA entsprechen nicht den internationalen Standards, wie sie etwa der Codex Alimentarius setzt (und auf den sich die WTO bezieht). Um dort überhaupt eine Sicherheitsbewertung in Gang zu setzen, müssen die Gentech-Firmen sie selber beantragen; tun sie es nicht - was bisher immer der Fall war -, erfolgt die Marktzulassung (nonregulated status) durch das US Department of Agriculture (USDA) ohne eingehendere Prüfung etwaiger negativer gesundheitlicher oder umweltrelevanter Effekte. Zudem haben die USA das Biosafety Protocol nicht unterschrieben, das den internationalen Handel mit GVO regelt.

Das bedeutet: Das Gentechnikland Nr. 1 verfolgt national und international dieselbe Politik - die der totalen Deregulation. Kein anderes Land vertritt die Interessen der Gentechnik-Konzerne derart absolut und konsequent. Die EU darf sich diesem Druck nicht beugen - das ist sie nicht nur ihren Bürgerinnen und Bürgern schuldig, die Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion ablehnen, sondern auch ihrem Status als einem der mächtigsten Wirtschaftsräume der Welt.


Keine rechtlichen und technischen Tricksereien, um die Nulltoleranz für GVO an der Öffentlichkeit vorbei abzuschaffen

Derzeit hat die Generaldirektion Gesundheit den Auftrag zu prüfen, wie mit der Nulltoleranz von in der EU nicht zugelassenen GVO im Weiteren zu verfahren sei. Dabei sind zwei Varianten im Gespräch: die technische und die rechtliche Lösung. Beide zielen auf die Abschaffung der Nulltoleranz.

Die "technische Lösung" setzt darauf, Testverfahren so zu wählen, dass eine low level presence von GVO nicht mehr aufgespürt werden kann. Das leisten weniger empfindliche Nachweisverfahren. Sollte die EU-Kommission diesen Weg beschreiten, dann hätte sie bewiesen, dass sie die von George Orwell in "1984" beschriebene Propagandatechnik des doppeldenk perfekt beherrscht: Die Nulltoleranz bliebe auf dem Papier weiterhin in Kraft, in der Praxis wäre sie jedoch passé.

Bei der rechtlichen Lösung wird geprüft, über welche EU-Gesetze die Nulltoleranz aufgehoben werden kann. In der Diskussion: die Verordnung 882/2004, in der es allgemein um die Umsetzung von Kontrollvorschriften im Lebens- und Futtermittelrecht geht. Hier könnte die EU-Kommission über das Komitologieverfahren allein entscheiden. Und die Verordnung 1829/2003 zur Zulassung von Gentech-Lebens- und Futtermitteln. Um sie zu ändern, müssten Ministerrat und Europäisches Parlament mit einbezogen werden.

Sollte die EU-Kommission tatsächlich die erst genannte Verordnung unter Ausschluss der Öffentlichkeit ändern, würde sie sich in den Dienst der Gentechnik-Konzerne stellen. Ein fatales Signal angesichts der ohnehin bestehenden Vertrauenskrise in die EU-Institutionen, die mit dem gescheiterten Referendum in Irland einmal mehr sichtbar geworden ist.


Einrichtung einer Datenbank mit allen weltweit zugelassenen und getesteten GVO

Damit Verunreinigungsfälle möglichst schnell entdeckt und Schäden durch eine weitere Verbreitung der GVO eingegrenzt werden, ist die Einrichtung einer Datenbank überfällig, in der sämtliche auf der Welt kommerziell oder experimentell verwendete GVO erfasst sind.
Um ihren Zweck zu erfüllen, muss sie für jeden GVO Referenzmaterial und Testmethoden bereitstellen sowie Informationen zu allen vorliegenden Sicherheitsbewertungen. Zugriff müssen die Behörden der EU-Mitgliedsstaaten haben, aber auch private Testlabore im Auftrag der Wirtschaft oder von Nichtregierungsorgansationen.


Verbesserung des Rückverfolgbarkeitssystems

Damit es nicht immer wieder zu Verunreinigungsfällen mit nicht zugelassenen (aber auch mit zugelassenen) GVO kommt, müssen diejenigen, die ihr Geld mit gentechnisch veränderten Pflanzen verdienen, ihr Rückverfolgbarkeitssystem verbessern. Sowohl die Gentechnik-Unternehmen Monsanto, Bayer, Dow, Pioneer, Syngnta und BASF als auch Exporteure wie Archer Daniels Midland (ADM), Bunge und Cargill müssen ihr Qualitätsmanagement so ausrichten und ihre Warenströme so organisieren, dass sie gentechnische Verunreinigungen verhindern - von der Saatgutproduktion bis zur Lieferung von Agrarrohstoffen in die EU.


Bei unklarem Verursacher von Verunreinigungsschäden: Haftung durch den Hersteller des GVO

Bei allen Verunreinigungsfällen taucht regelmäßig die Frage auf, wer der Verursacher des Schadens ist und damit haftbar: die Gentechnik-Firmen, die die Pflanzen entwickelt haben, Farmer oder Forscher, die sie angebaut haben, Saatgutvermehrer oder -händler, Lebensmittelverarbeiter, Spediteure, Exporteure, die eine Vermischung nicht verhindert haben - sie alle kommen als Inverkehrbringer in Betracht. Die Folge: Prozesse, die sich oft über Jahre hinziehen.
So weigert sich Bayer, die Verantwortung für den durch seinen Gentech-Reis LL 601 2006 ausgelösten Verunreinigungsskandal zu übernehmen. In den USA, wo Farmer aus mehreren Bundesstaaten wegen massiver Preiseinbrüche bei Reis und des Verlustes von Absatzmärkten in die EU und nach Japan Klage erhoben haben, wies das Unternehmen alle Ansprüche mit der Begründung zurück, bei der Verunreinigung handle es sich um einen "act of god". Schützenhilfe für Bayer leisteten die US-Behörden: Sie erteilten im Nachhinein eine Zulassung für den ursprünglich niemals zum Verkauf bestimmten Reis.
Der durch LL 601 insgesamt verursachte Schaden dürfte sich im oberen dreistelligen Millionenbereich bewegen, er gilt neben dem Skandal um den StarLink-Mais im Jahr 2000 als einer der weltweit bisher größten Verunreinigungsfälle. Allein in Deutschland schlugen Rückrufaktionen u.a. bei Edeka und Aldi Nord mit mindestens 10 Millionen Euro zu Buche. Ob, wann und in welcher Höhe die Geschädigten jemals einen Ausgleich für ihre wirtschaftlichen Verluste erhalten, ist unklar.
Damit sich die Verantwortung bei Verunreinigungsfällen künftig nicht mehr im Nirwana auflösen kann und die Geschädigten leer ausgehen, schlagen wir folgendes Modell vor: Das Unternehmen oder die Forschungseinrichtung, die die Gentech-Pflanze entwickelt hat, geht in Vorleistung und übernimmt die Entschädigung - und verklagt gegebenenfalls diejenigen, die die Verunreinigung ausgelöst haben, um sich das zuvor erstattete Geld zurückzuholen.


Schließen der Kennzeichnungslücke im EU-Recht

Produkte von Tieren, die mit gentechnisch veränderten Futtermitteln gemästet werden, sind zu kennzeichnen.
80 Prozent aller Gentech-Pflanzen wandern ins Tierfutter. Ausgerechnet das Marktsegment, in dem das Gros dieser Pflanzen verwertet wird, kann von Verbraucherinnen und Verbrauchern mit ihrer Kaufentscheidung bisher kaum beeinflusst werden. Das ist nicht akzeptabel. Um beim Einkauf Wahlfreiheit zu haben, brauchen VerbraucherInnen die Information, wie Tiere gefüttert wurden. Hier sehen wir ein Handlungsfeld für die EU-Kommission, nicht darin, die EU-Gesetze im Interesse der Gentechnik-Konzerne zu verwässern.

Berlin, 9. Juli 2008


Korrespondenzanschrift:
Angela von Beesten
Auf der Worth 34
27389 Vahlde
Tel. +49(0)4267-1770
Fax +49(0)4267-8243
E-Mail:avonbeesten@dgn.de


Vorlage des Beitrags, der nur unwesentlich gekürzt und reaktionell bearbeitet wurde, ist das gleichnamige Hintergrundpapier einer Reihe von Verbänden u.a. Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschft (Abl), Bioland, BUND, Greenpeace, NABU sowie Ökologischer Ärztebund, veröffentlicht am 9.7.2008; Original siehe auch unter www.oekologischer-aerztebund.de)

(1) European Commission, Directorate-General for Agriculture and Rural Development: Economic Impact of Unapproved GMOs on EU Feed Imports and Livestock Production.

(2) So der Vize-Chef im Kabinett von Agrarkommissarin Fischer Boel, Klaus-Dieter Borchardt, zitiert in einer dpa-Meldung vom 9. 6. 2007, 13:26.

(3) Auf das von der Generaldirektion Landwirtschaft veröffentlichte Szenario bezieht sich das Anfang Juni 2008 vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde; dem Deutschen Bauernverband, dem Raiffeisenverband, dem Deutschen Verband Tiernahrung, dem Verein der Getreidehändler der Hamburger Börse e.V., dem Verband deutscher Ölmühlen, dem Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels und der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie unterzeichnete Papier mit dem Titel "Rohstoffversorgung sichern -Wettbewerbsfähigkeit erhalten" und der Unterzeile "Nulltoleranz für in der EU noch nicht genehmigte GVO bedroht Versorgung mit Agrarrohstoffen".

(4) Beide GVO waren ursprünglich bereits im Experimentierstadium ausgemustert worden und sollten niemals bis zur Marktreife entwickelt werden - andere Linien waren erfolgversprechender. Eine Marktzulassung haben die US-Behörden erst nach Bekanntwerden der Verunreinigungsfälle erteilt; die nachträgliche Legalisierung diente hauptsächlich dazu, die Haftungskosten der Firmen zu begrenzen.

(5) Die Studie "Kontrolle oder Kollaboration" von C. Then und A. Lorch zeigt auf, wie stark Behördenvertreter und Wissenschaftler in die Netzwerke der Saatgutindustrie und ihrer Lobbyverbände eingebunden sind.
http://www.boelw.de/uploads/media/pdf/Themen/Gentechnik/Studie_Agrogentechniknetz.pdf


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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft Nr. 4/2008, S. 320-324
21. Jahrgang
Verlag: UMG Verlagsgesellschaft mbH
Frielinger Str. 31, 28215 Bremen
Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Erik Petersen
Tel.: 0421/498 42 51; Fax: 0421/498 42 52
E-Mail: oekologischer.aerztebund@t-online.de
Internet: www.umwelt-medizin-gesellschaft.de

Erscheinungsweise: vierteljährig
Bezugspreis: Für Mitglieder der Umweltmedizinischen Verbände dbu, DGUHT, IGUMED
und Ökologischer Ärztebund sowie des weiteren beteiligten Verbands
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Einzelheft: 10,- Euro veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2009