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WALD/262: Naturschutz im FFH-Wald? Wie die Forstwirtschaft die biologische Vielfalt schädigt (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2021

Naturschutz im FFH-Wald?
Wie die Forstwirtschaft die biologische Vielfalt schädigt

von Norbert Panek


300 Jahre nach der Erfindung des Nachhaltigkeitsbegriffes für die Forstwirtschaft schadet diese weiterhin der biologischen Vielfalt im Wald. Die Intensität der Holznutzung und der Anbau standortfremder Baumarten verhindern, dass sich Waldökosysteme naturnah entwickeln können. Um Abhilfe zu schaffen, wurde 1992 mit der Verabschiedung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) auf europäischer Ebene ein bahnbrechendes Naturschutzinstrumentarium eingeführt. Doch das hochgelobte Vorhaben konnte die Erwartungen nicht erfüllen, wesentliche Habitat-Strukturen und waldökologisch wertvolle Waldbestände sind weiterhin gefährdet - nicht nur durch den Klimawandel.


Die FFH-RL bildet die Grundlage für ein staatenübergreifendes Netzwerk von Schutzgebieten unter der Bezeichnung Natura 2000. Im Zuge der Umsetzung wurden mit großem bürokratischem Aufwand in Deutschland insgesamt über 4.600 sogenannte Natura 2000-Gebiete ausgewiesen, welche eine Fläche von 1,305 Millionen Hektar umfassen. Allein der Anteil der Waldflächen umfasst dabei 0,761 Millionen Hektar (etwa 7% der deutschen Waldfläche). Davon nehmen die Buchenwälder mit rund 0,59 Millionen Hektar den Hauptteil dieser Flächen ein [1]. Aus diesem Anteil wird die zentrale Bedeutung der Wälder für den Erhalt der biologischen Vielfalt deutlich.

Gigantischer Etikettenschwindel

Das mit viel Vorschusslorbeeren gestartete Natura 2000-Projekt hat leider die fachlich hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllt. Das zeigen die von Greenpeace aufgedeckten Eingriffe in Altbuchenbeständen des FFH-Gebiets Bayerischer Spessart [2]. In den meisten FFH-geschützten Waldgebieten wurden in den letzten 30 Jahren die Holzvorräte in Altholzbeständen so dramatisch abgesenkt, dass in ihnen weniger Holz übrig ist als in durchschnittlichen Wirtschaftswäldern. Die massive Holzernte hat zum Verlust wertvoller Habitat-Strukturen und waldökologisch wertvoller Waldbestände geführt. Auch im nordhessischen FFH-Gebiet Sackpfeife wurde dessen Buchen-Altholzfläche bis 2021 von 39 auf 25% reduziert [3]. Die Folgen solcher drastischen Eingriffe in den Altholzbestand sind vielfältig: Verlust von Habitat-Strukturen (Totholz), starke Auflichtung der Baumschicht mit einem erheblich veränderten Bestandsinnenklima und eine deutliche Verschlechterung der Erhaltungszustände.

Die genannten Fallbeispiele sind keine Einzelfälle. Sie zeigen, dass der Schutz der Wald-Lebensräume in Deutschland durch eine aus Naturschutzsicht nur unzureichend definierte forstliche Bewirtschaftung nicht funktioniert. Natura 2000 im Wald entpuppt sich bislang als ein gigantischer Etikettenschwindel. Nach Erhebungen der Europäischen Union befinden sich 80% der Wald-Habitate in den EU-Mitgliedsstaaten in einem "unzureichenden" bzw. "schlechten" Erhaltungszustand [4].

Forstwirtschaft verhindert Schutz

Das Grundproblem ist, dass die bestehende forstliche Nutzung in Natura 2000-Gebieten von den Aufsichtsbehörden nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, obwohl es in dem offiziellen EU-Leitfaden "Natura 2000 und Wälder" heißt, dass sich "Waldökosysteme (...) ohne jede Bewirtschaftung allein durch die Dynamik natürlicher Regenerationsphasen entwickeln." Die Bewirtschaftung von FFH-Wäldern ist daher nicht zwingend erforderlich, um den Erhalt von Wald-Lebensraumtypen sicherzustellen (ausgenommen sind Wälder, die durch historische Nutzungsformen entstanden sind und auch nur durch diese Nutzungen erhalten werden können).

Um die biologische Vielfalt zu fördern und zu erhalten, müssten die natürlichen Alterungsprozesse in den Waldschutzgebieten stärker zugelassen bzw. der Altholzanteil durch Nutzungsverzicht oder durch Nutzungsextensivierung erhöht werden. Jedoch kommen in den allermeisten deutschen FFH-Gebieten, die in der Regel intensiv forstlich genutzt werden, ausgeprägte Alters- und Zerfallsphasen kaum vor.

Die FFH-Richtlinie und die daraus abgeleiteten deutschen Schutzstandards erweisen sich somit als untauglich, Wälder in ihrer ökologischen Substanz und Vielfalt zu erhalten bzw. zu entwickeln. Untermauert wird dies durch vergleichende Studien zum Vorkommen waldbewohnender Fledermaus-Arten innerhalb und außerhalb von Natura 2000-Buchenwaldgebieten in vier europäischen Ländern [5]. Demnach ist die Bewirtschaftungsintensität in Wäldern innerhalb und außerhalb der Natura 2000-Gebiete nahezu identisch und der Natura 2000-Status hat zu keiner Verbesserung des Schutzes der Fledermaus-Vorkommen geführt. Die intensive Forstnutzung verhindert den wirksamen Schutz von waldgebundenen FFH-Arten.

Speziell Buchenwälder werden in Deutschland nahezu flächendeckend im sogenannten Schirmschlag-Verfahren bewirtschaftet. Dabei werden die Altbäume der Hauptbaumschicht im Bestandsalter zwischen 120 und 160 Jahren innerhalb eines Zeitraumes von 15 bis 20 Jahren fast komplett geerntet. So werden nahezu alle für die biologische Vielfalt wichtigen, wertgebenden Habitat-Strukturen dieser Wälder innerhalb kurzer Zeit beseitigt. Die durchweg ökologisch negativen Einflüsse dieser Bewirtschaftungsmethode sind durch Studien einschlägig belegt [6]. Dennoch wird diese Betriebsform in den deutschen FFH-Waldgebieten ohne jegliche Einschränkung praktiziert. Dadurch werden dynamische Waldentwicklungsprozesse systematisch unterbunden. Festzustellen ist: Die FFH-Richtlinie verfolgt hauptsächlich konservierende Schutzstrategien und ist bezüglich Waldnaturschutz auf dem Kenntnisstand von 1992 stehengeblieben [7].

Es muss Schluss sein mit dem Primat der Forstwirtschaft in den FFH-geschützen Waldgebieten.

Biodiversitätsstrategie fordert mehr Schutz

Zu den eklatanten, naturschutzfachlichen Defiziten kommt hinzu, dass auch die formellen Anforderungen bei der Ausweisung der deutschen Natura 2000-Gebiete nach den Vorgaben der FFH-Richtlinie nicht erfüllt wurden. Die EU-Kommission hat hierzu bereits 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Darin wird moniert, dass sogar die meisten, großflächigen Natura 2000-Waldgebiete bislang über keinen angemessenen Schutzstatus nach nationalem Naturschutzrecht verfügen und daher auch über keine Schutzverordnungen mit konkreten Ver- und Gebotsregelungen. Zudem hat man vielfach keine konkreten Schutzziele sowie darauf abgestimmte Schutzmaßnahmen formuliert. Die zu schützenden Wald-Lebensräume wurden durch eine weitgehend unkontrollierte, jahrelange forstliche Nutzung systematisch entwertet bzw. in ihrem Erhaltungszustand verschlechtert.

Dazu hat das Oberverwaltungsgericht Bautzen in einem richtungsweisenden Urteil am 9. Juni 2020 (Az. 4B 126/19) entschieden, dass geplante und durchgeführte Holzeinschläge in den FFH-Lebensraumtypen des Leipziger Auenwaldes nicht rechtmäßig waren, weil sie nicht vorher auf Verträglichkeit geprüft worden waren. Das Gericht stellte klar, dass Forstwirtschaftspläne, die den Umfang der Holzeinschläge in FFH-Gebieten festlegen, grundsätzlich als sogenannte Projekte zu behandeln sind, die einer FFH-Verträglichkeitsprüfung bedürfen. Das Urteil hat hinsichtlich der Bewirtschaftung von FFH-Waldgebieten bundesweite Bedeutung und dürfte sich besonders auf die Praxis von Großschirmschlägen auswirken. Ergänzend stellt auch ein gerade überarbeiteter Leitfaden der EU-Kommission (vom 28.9.2021) klar, was unter dem Begriff Projekt zu verstehen ist: auch "Eingriffe in die natürliche Umwelt einschließlich regelmäßiger Tätigkeiten zur Nutzung natürlicher Ressourcen." So können unter bestimmten Voraussetzungen z. B. Holzeinschläge als "nicht erhaltungsbezogener Bestandteil" eines Projekts gelten und somit eine Verträglichkeitsprüfung erfordern.

Darüber hinaus könnten im Zuge der Umsetzung der neuen EU-Biodiversitätsstrategie die Rahmenbedingungen möglicherweise auch für die Natura 2000-Gebiete neu gesetzt werden. Danach sollen bis 2030 mindestens 30% der Landfläche sowie 30% der Meere innerhalb der EU geschützt werden, davon jeweils 10% mit strengen Schutzvorgaben. Dazu will die EU-Kommission bis Ende 2021 zusammen mit den Mitgliedstaaten konkrete Kriterien entwickeln. Im Zuge der aktuellen klimaschutzpolitischen Diskussion steht zudem immer stärker auch die natürliche CO2-Senkenleistung von Wäldern im Fokus.

Es muss sich was ändern

Vor dem geschilderten Hintergrund wäre es wohl an der Zeit, dass die politisch Verantwortlichen in den Regierungsstellen und die zuständigen Behörden endlich die notwendigen Konsequenzen ziehen. Es muss Schluss sein mit dem Primat der Forstwirtschaft in den FFH-geschützen Waldgebieten. Nur ein konsequentes Zulassen ungestörter natürlicher Waldentwicklungsprozesse kann den Erhalt der Vielfalt natürlicher Wald-Lebensräume und Habitate sowie den Schutz gefährdeter, waldspezifischer Arten auf Dauer gewährleisten. Derartige Wälder entstehen nur durch eine gezielt naturschutzorientierte, extensive und in größeren Teilen auch Nutzungsverzicht übende Waldbewirtschaftung. Zudem müssen auch die Zuständigkeiten für das FFH-Management neu geregelt sowie die Kriterien zur Bewertung der Erhaltungszustände überarbeitet und an waldökologisch begründete Standards angepasst werden. Grundsätzlich sollte die Behandlung von FFH-Waldgebieten zukünftig nicht mehr allein auf den Erhalt von Lebensraumtypen und FFH-Arten ausgerichtet sein, sondern verstärkt die Funktionstüchtigkeit des gesamten Waldökosystems (Aktivierung der Selbstregulationskräfte, Optimierung der Wasser- und CO2-Bindewirkung) fördern und stabilisieren.

Der Autor ist ausgebildeter Landschaftsplaner, Experte für Buchenwälder und seit 2020 Wissenschaftlicher Beirat der Naturschutzinitiative e.V. (NI).


Anmerkungen

[1] Waldbericht der Bundesregierung 2021, Hrsg. Bundesministerium f. Ernährung u. Landwirtschaft (BMEL)Referat 513, Bonn.
[2] Lehrke, S. et al. (2013): Natura 2000 im Wald - Lebensraumtypen, Erhaltungszustand, Management, Natursch. u. Biolog. Vielfalt 131, Hrsg. Bundesamt f. Naturschutz, Bonn/Bad Godesberg.
[3] Greenpeace (2013): Naturerbe Spessart in Gefahr, Greenpeace-Dokumentation der Holzeinschläge im Winter 2012/13 in den BaySF-Forstbetrieben Rothenbuch und Heigenbrücken, Hamburg.
[4] Europäische Kommission (2015): Natura 2000 und Wälder, Technischer Bericht/Teil I-II, Brüssel, [https://ec.europa.eu/environment/nature/natura2000/management/guidance_en.htm]
[5] Zehetmair, T. et al. (2014): Poor effectiveness of Natura 2000 beech forests in protecting forest-dwelling bats, in: Journal of Nature Conservation 23: S. 53-60, [https://doi.org/10.1016/j.jnc.2014.07.003]
[6] Panek, N. (2021): Natura 2000 im deutschen Wald - Eine Bankrotterklärung (47-54), in: Der Holzweg. Wald im Widerstreit der Interessen, Hrsg. Knapp, Klaus & Fähser, oekom Verlag München.
[7] Brunet, J. et al. (2010): Biodiversity in European beech forests - a review with recommendations for sustainable forest management, in: Ecological Bulletin 53: S. 77-99.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NGOs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2021, Seite 10-13
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 17 75 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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