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WILDNIS/017: Mehr Mut zur Wildnis (WWF magazin)


WWF magazin, Ausgabe 1/2013
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature

Mehr Mut zur Wildnis

Von Diana Pretzell, Matthias Adler/WWF; Donné Beyer



Wildnis kann es auch in Deutschland geben, wir müssen sie nur zulassen. In vielen Modellprojekten zeigt der WWF, wie sich Natur frei entfalten kann - im Wattenmeer, in wiedervernässten Mooren und durch Hilfe für "Heimkehrer" wie Kegelrobbe und Wolf.


Eine der größten Naturlandschaften Europas liegt vor unserer Haustür. Zwischen Den Helder in den Niederlanden, entlang der deutschen Nordseeküste bis nach Esbjerg in Dänemark verschwindet das Wattenmeer zweimal am Tag unter Wasser - um anschließend mit Prielen, Sandbänken und neuen Schlickmassen wieder aufzutauchen. Ebbe und Flut sorgen auf mehr als 10.000 Quadratkilometern für einen vielfältigen und reichhaltigen Lebensraum, der mehrere Millionen Küstenvögel ernährt und Milliarden von Jungfischen, Muscheln und Krebsen beherbergt. Auch Seehunde, Kegelrobben und seltene Schweinswale sind im Küstengewässer zu Hause.

NORDSEE/OSTSEE - Der WWF schützt die empfindlichen Ökosysteme an den Küsten.

Seit 1977 engagiert sich der WWF Deutschland für den Erhalt des Wattenmeeres. Auch dank seiner Lobbyarbeit wurden dort von 1985 bis 1990 Nationalparks eingerichtet. 2009 wurde das Wattenmeer von der UNESCO als Weltnaturerbe anerkannt. Darüber freut sich besonders Hans-Ulrich Rösner. Der Leiter des WWF-Büros in Husum setzt sich mit seinem Team seit Jahrzehnten für den Schutz "seines" Wattenmeeres ein. Und für stetige Verbesserungen des Lebensraums: Die bodenzerstörende Fischerei nach Herzmuscheln wurde ebenso eingestellt wie die Jagd auf Wasservögel. Einst verschwundene Arten wie Kegelrobbe und Löffler kehrten wieder zurück.

Sich auf Erfolgen auszuruhen ist nicht seine Sache: Die Nationalparks im Wattenmeer müssen weiter entwickelt werden. "Wir kämpfen dafür, dass die gesamte Fischerei im Wattenmeer endlich naturverträglich wird, dass die Ölförderung im Nationalpark - an sich schon ein Unding - nicht expandiert und die Offshore-Windparks naturschonend entwickelt werden. Denn so sehr ich mich persönlich über viele Windräder freue: Unsere Stromversorgung darf nicht auf Kosten der Natur gehen", sagt Rösner.

Der Klimawandel wird die größte Herausforderung werden. Es gilt, die Küste des Wattenmeeres rechtzeitig und naturnah an den beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels anzupassen. Darauf wollen Hans-Ulrich Rösner und sein Team alle Entscheider einschwören.


Kreideklippen und Kegelrobben

Malerische Kreideklippen, verschlungene Küstenlinien mit stillen Buchten, Wälder bis zum Strand und Seeadler am Himmel: kein Wunder, dass die Ostseeküste das zweitbeliebteste Reiseziel der Deutschen ist. Umso wichtiger wird es, Interessenkonflikte zwischen Naturnutzern wie Touristen oder Fischern und dem Naturschutz zu vermeiden. Darauf hat WWF-Projektleiterin Cathrin Münster vom WWF-Ostseebüro in Stralsund lange hingearbeitet. Sie hat dafür gesorgt, dass im Greifswalder Bodden Wassersportler und Anglervereine mit den Behörden vereinbart haben, Naturschutzrichtlinien freiwillig einhalten zu wollen. In dem 750 Quadratkilometer großen Vogelschutzgebiet von europaweiter Bedeutung gibt es jetzt Tabuzonen und Tempolimits für Boote. Der Rückgang von Umweltgiften und ein Jagdverbot haben dazu geführt, dass die Kegelrobbe an die deutsche Ostseeküste zurückkehrt. Der WWF hilft mit, Deutschlands größte Raubtiere zu schützen und Interessenkonflikte mit Fischern oder Touristen zu vermeiden. Dabei helfen seit letztem Sommer auch die "Robbenbotschafter": Jugendliche im Alter von 11 bis 13 Jahren klären Urlauber und Einheimische über das Verhalten der Tiere auf und bauen Vorbehalte ab. Dass die Kegelrobben nicht schuld daran sind, dass es immer weniger Fische in der Ostsee gibt, erfahren auch die Besucher des Ozeaneums in Stralsund. Dort zeigt der WWF in einer interaktiven Ausstellung, wie es zum Raubbau in den Meeren kommt - und was jeder Einzelne dagegen tun kann. Zehn Prozent der Ostsee stehen inzwischen unter Schutz, nicht zuletzt mit Hilfe des WWF. Doch 25 Prozent hält die Umweltstiftung für nötig. Außerdem will der WWF die noch immer zu hohe Zufuhr von Nährstoffen aus der Landwirtschaft stoppen, die im Sommer manche Ostseegebiete in sauerstofflose Todeszonen verwandeln.


Von Deichen und Bäumen

Eng verschlungen fließt sie im tschechischen Riesengebirge, breit ausladend durch Norddeutschland, bis sie bei Cuxhaven als großer Gezeitentrichter in die Nordsee mündet: Kaum ein großer Fluss bei uns ist auf weiten Strecken noch so vielgestaltig und naturnah wie die Elbe. Zwischen Mulde- und Saalemündung in Sachsen-Anhalt will der WWF einen der größten Auenwälder Mitteleuropas erhalten. Die zahlreichen Altarme, Feuchtwiesen und Flutrinnen bieten Lebensräume für beispielsweise rund 1000 Pflanzenarten, 135 Vogelarten und 40 Säugetierspezies.

MITTLERE ELBE - Der WWF will die einzigartigen Auenwälder entlang des Flusses erhalten.

Das Projekt "Mittlere Elbe" wurde im Jahr 2001 gestartet und ist bis heute das aufwändigste Naturschutzvorhaben des WWF Deutschland. Projektleiterin Astrid Eichhorn und ihr Team wollen bis zum Jahr 2018 auf einer 5700 Hektar großen Fläche einen durchgehenden Verbund überflutbarer Auen sichern und renaturieren. Dazu werden unter anderem ein Deich zurückverlegt und die Auenwälder wieder an den Strom "angeschlossen". So kann sich hier wieder eine einzigartige Auenwildnis entwickeln. Mit der neuen, etwa sieben Kilometer langen Deichtrasse kann sich dann die Elbe auf einem zusätzlichen Überflutungsraum von 600 Hektar ausdehnen. Dass der WWF dabei auf einem guten Weg ist, haben sogar die Vereinten Nationen bestätigt. Im Oktober 2012 zeichneten sie das Projekt im Rahmen der UN-Dekade der biologischen Vielfalt als ein herausragendes Mosaikstück globaler Schutzbemühungen aus.


Flussmündung wiederbeleben

An der Ems kämpft der WWF für die Renaturierung des rund 100 Kilometer langen Ästuars und die Verbesserung der Gewässergüte. Beides ist dringend erforderlich, da die Unterems in den vergangenen 25 Jahren auf 40 Kilometern immer mehr angestaut und ausgebaggert wurde. Dies geschah, um einer Werft in Papenburg die Überführung immer größerer Kreuzfahrtschiffe zu ermöglichen. Die Folgen für die Umwelt sind gravierend. Durch Uferbefestigungen, Absinken der Wasserstände und eine dramatische Verschlickung gingen die flusstypischen Lebensräume in der Unterems in großem Umfang verloren. Wegen Sauerstoffmangels können dort mehrere Monate im Jahr keine Fische mehr leben.

Das wollen Beatrice Claus und Claudia Stocksieker vom WWF ändern. Sie haben in Kooperation mit anderen Naturschutzverbänden Renaturierungsszenarien entwickelt und diese auf zahlreichen Informationsveranstaltungen mit Akteuren vor Ort diskutiert. Aus Sicht der Umweltverbände wäre eine Verlagerung der Weit an die Küste die ökologisch beste Lösung. Doch das ließ sich bislang noch nicht politisch durchsetzen. Trotzdem hatten sie das Gespräch mit dem Land Niedersachsen und der Weit gesucht, um eine Lösung zu finden, die Ökologie und Ökonomie gleichermaßen berücksichtigt. Zurzeit werden unter der Federführung des Landes Niedersachsen mit Beteiligung der Umweltverbände, der Werft und der Landkreise verschiedene Maßnahmen zur Lösung des Schlick- und Sauerstoffproblems geprüft. Ziel des WWF ist es, die geeigneten Maßnahmen mit den Renaturierungsszenarien zu verknüpfen. Um zu verhindern, dass sich die Ökologie der Tideelbe wie an der Ems verschlechtert, haben BUND, NABU und WWF Klage gegen die genehmigte Elbvertiefung eingereicht und bereits einen Baggerstopp erzielt. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig bremste im Oktober vergangenen Jahres auf Antrag des Aktionsbündnisses "Lebendige Tideelbe" die geplante Elbvertiefung (mehr dazu auf Seite 32 der Druckausgabe).


Mehr Wildnis nach der Wiedervereinigung

Im schleswig-holsteinischen Mölln begann der WWF 1968 seine nationale Projektarbeit. Dort baute Thomas Neumann die WWF-Naturschutzstelle Nord auf, mit deren Team unter anderem die großen WWF-Flächenschutzprojekte Schaalsee, Uckermärkische Seen und Drömling entwickelt und betreut werden. Neumann ist langjähriger Leiter des Fachbereichs Naturschutz-Flächenmanagement beim WWF Deutschland. Er erinnert sich noch gut an die Anfänge des Naturschutzes in Deutschland: "In den 1970ern war die Naturzerstörung schonungslos und massiv. Die letzten Moore wurden entwässert, abgetorft und nutzbar gemacht. Umweltchemikalien wie DDT hatten ganze Nahrungsketten vergiftet. Infolgedessen standen nicht nur die letzten Seeadler kurz vor dem Aussterben. Zugleich herrschte zu dieser Zeit Aufbruchstimmung. Überall begannen sich Ehrenamtliche für den Schutz der Natur einzusetzen. Horste und Niststätten gefährdeter Vögel wurden bewacht, mit Spaten und Muskelkraft Moore wiedervernässt. 1970 kaufte der WWF erste Moorflächen, um Naturzerstörung zu verhindern und Lebensräume zu erhalten."

SCHAALSEE/DRÖMLING - Grünes Band statt Todesstreifen

Stolz ist Neumann besonders auf die nach der Wiedervereinigung geschaffenen großen Schutzgebiete in den neuen Bundesländern. Wichtige Bereiche des "Grünen Bandes" - hervorgegangen aus dem ehemaligen innerdeutschen Todesstreifen - wurden geschützt. Der Drömling und die Schaalsee-Landschaft zum Beispiel, deren Vielfalt durch den WWF-Einsatz langfristig erhalten bleiben wird.

Hat Wildnis in einem Industrieland wie Deutschland überhaupt eine realistische Chance? "Durchaus", sagt Neumann. "Wildnis muss nicht immer bedeuten, dass wir große Nationalparks ausweisen. Wildnis kann auch einfach ein naturbelassener Bach sein, ein intaktes Moor oder ein nicht bewirtschafteter Buchenwald. Natur muss ein Recht haben, sich selbst entwickeln zu können. Dies ist die ökologisch sinnvollste und zugleich kostengünstigste Form des Naturschutzes." Allerdings, so Neumann, wird sich die Bundesregierung massiv anstrengen müssen, um mindestens zwei Prozent Wildnisgebiete zu erreichen. Dieser Flächenanteil wurde in der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt 2007 festgelegt.


Wölfe wieder akzeptieren

Während Luchse ausgewildert wurden und sich seither langsam ausbreiten, sind Wölfe "von allein" über alte Wanderwege aus Osteuropa nach Deutschland zurückgekehrt. Seit sie nach EU-Recht nicht mehr gejagt werden dürfen, vermehren sie sich wieder. Aktuell leben vor allem in den ostdeutschen Bundesländern etwa 120 Wölfe. Nicht jeder ist darüber begeistert. Noch immer gibt es Vorurteile und Misstrauen gegenüber Wölfen. Deshalb sucht der WWF den Dialog mit der Bevölkerung. WWF-Wolfsexperte Janosch Arnold leistet nicht nur in Bürgerhäusern und Schulen der betroffenen Gemeinden Aufklärungsarbeit, um Ängste bei den Menschen abzubauen. Er berät auch die Landesregierungen Brandenburgs, Sachsens und Sachsen-Anhalts dabei, Managementpläne zu erstellen. Diese sollen etwa regeln, wie Landwirte entschädigt werden, wenn Wölfe Schafe oder Ziegen reißen. WWF-Ziel ist es, dass Mensch und Wolf möglichst konfliktfrei nebeneinander leben können. Deshalb informiert Arnold auch die Bewohner der Wolfsregionen, wie sie ihr Nutzvieh schützen können - am besten durch Elektrozäune oder Herdenschutzhunde. Der WWF wertet zudem Fotofallen und Spuren aus und konnte so 2011 in Sperenberg in Brandenburg ein neues Wolfsvorkommen und 2012 sogar Nachwuchs nachweisen.


Die Ammer soll wild bleiben

Im oberbayerischen Weilheim arbeitet Flussexpertin Claire Tranter bereits seit 2010 intensiv daran, die Ammer wieder in einen weitgehend natürlichen Wildfluss zu verwandeln. Die Ammer durchschneidet in einer tiefen, 25 Kilometer langen Schlucht das Gebirge und hat so vielen Tier- und Pflanzenarten Lebensräume geschaffen. In den Felswänden der Schlucht nistet der Uhu und auf den Kiesbänken brütet der Flussuferläufer. Der hochdynamische Fluss schafft sich immer wieder ein neues Flussbett. Leider versperrt eine Reihe von Wehren seinen Weg - auch den Fischen, die aufwärts wandern wollen. Die Ammer wurde vielerorts begradigt und das umgebende Land mit Deichen vor Hochwasser geschützt.

AMMER - Der Wildfluss soll frei von Wehren fließen können.

Der WWF will deshalb zusammen mit der Ammer-Allianz und dem Wasserwirtschaftsamt Weilheim die Wehre um- oder zurückbauen, damit die Fische wieder flussaufwärts wandern können. Außerdem sollen Deiche zurückverlegt werden, um die natürlichen Überschwemmungsflächen wieder zu vergrößern. Dazu wirbt der WWF in der Region für Unterstützung. Ein WWF-Ziel ist der Ankauf ökologisch wichtiger Grundstücke entlang der Ammer, um sie großflächig zu renaturieren - als Modell auch für andere Wildflüsse. Derzeit entwickelt der WWF zusammen mit 18 Partnern das Projekt "Alpenflusslandschaften: Vielfalt leben von Ammersee bis Zugspitze", das neben der Ammer auch den Lech, die Isar und die Loisach einbezieht. Dort sollen die Menschen die biologische Vielfalt ihrer Region besser kennen- und schätzen lernen und die Möglichkeit bekommen, sich aktiv für ihren Erhalt einzusetzen.


Errungenschaften verteidigen

Wie wird es in ganz Deutschland mit dem Flächenschutz weitergehen? WWF-Urgestein Thomas Neumann wagt eine Prognose: "Die Flächen für den Biotop- und Artenschutz werden sich noch mehr verknappen. Von den großflächigen Agrarflächen ist die ehemalige Artenvielfalt so gut wie verschwunden. Die Agrarlandpreise sind exorbitant gestiegen, allein wegen des großen Flächenbedarfs für Energiepflanzen, besonders durch den Maisanbau für Agrargas-Anlagen. Die Devise für uns lautet also: Das Errungene mit allen Mitteln verteidigen und - wo sinnvoll - Flächen ankaufen, um großartige Naturräume und damit 'Wildnis von morgen' zu entwickeln und zu sichern. Von den Eigentumsflächen der öffentlichen Hand müssen mehr Naturschutzleistungen eingefordert werden. Und im Verbund mit allen weitsichtigen Bürgern muss die EU zu einer umweltschonenden Agrarpolitik gedrängt werden."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Wieder daheim - Die Kegelrobben sind ins Wattenmeer und an die Ostseeküste zurückgekehrt.

Wildnis im Fluss - Freiraum für mehr Vielfalt an der oberbayerischen Ammer

Alles im Blick - Die Auenschlucht ist das Revier des Uhus.

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Quelle:
WWF Magazin, Ausgabe 1/2013, S. 12 - 18
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Die Zeitschrift für Mitglieder und Freunde der

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2013