Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → MEINUNGEN

LAIRE/239: Schlupflochverhängnis (SB)


Ich bin dann mal so frei ...

Zum TTIP und anderen Erfindungen neoliberalen Räubertums



Weltweit wurden bereits mehrere hundert Freihandelsabkommen, die unser Leben bestimmen, weitgehend im geheimen ausgehandelt und viele weitere dieser Abkommen befinden sich zur Zeit in der Pipeline, lautet eines der Argumente gegen die weitverbreitete Kritik an den beiden geplanten Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit den USA (TTIP - Transatlantic Trade and Investment Partnership) und Kanada (CETA - Comprehensive Economic and Trade Agreement) [1].

Von einem neoliberalen Standpunkt aus betrachtet scheint das eine schlüssige Begründung zu sein: Warum gegen etwas protestieren, das längst Realität ist?

Doch genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Eben weil Freihandelsabkommen und andere neoliberale Mittel, mit denen nicht allein dem Handel und Rohstoffabbau, sondern in der Konsequenz allgemein der Verwertung von Arbeit der Weg geebnet wird, bereits die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen beherrschen, sollte der fortgesetzten Durchökonomisierung der Weltgesellschaft Einhalt geboten werden, wo es nur geht, und natürlich auch da, wo es angeblich nicht geht. Denn es sind die gleichen, die solche Behauptungen von der vermeintlichen Unabänderlichkeit der Verhältnisse in die Welt setzen, die genau davon profitieren. Nur weil die Mahnung, "wehret den Anfängen!", in Sachen Freihandel viel zu spät kommt, folgt daraus nicht zwangsläufig, daß das für die Menschheitsmehrheit vorgesehene Los Gültigkeit erlangen muß.

Wenn ein Staat von einem Unternehmen auf mehrere Milliarden Euro verklagt wird, weil er aufgrund neuer, hoch brisanter Sicherheitserkenntnisse aus der Atomenergieproduktion aussteigt, sollten dann nicht alle Anstrengungen unternommen werden, damit das Recht, über die Art der Energieproduktion entscheiden zu können, wieder in die eigenen Hände gelegt wird? Dem stehen TTIP und CETA im Wege. Würden sie umgesetzt, bliebe den Menschen kaum mehr die erforderliche Luft, um sich einen Platz zur Besinnung gegenüber den vorherrschenden Kräften zu erstreiten, nicht um in dem Schlupfloch zu bleiben, sondern um von da aus einen gänzlich anderen Kurs einzuschlagen. Wenn man jedoch den Widerstand auf einzelne Erscheinungsformen des Freihandels reduziert, geriete das Schlupfloch zum Verhängnis.

Mit dem Abschluß der beiden genannten Freihandelsabkommen und dem dritten im Bunde, TiSA, das "Trade in Services Agreement" ("Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen"), das zur Zeit von den USA, der EU und 21 weiteren Staaten ausgehandelt wird, würde dagegen die bisherige Entwicklung fortgeschrieben.

Es stimmt, die Freihandelsabkommen sind Teil der gesellschaftlichen Realität. Das ist ja gerade das Problem. Durch die Liberalisierung des Handels wurden und werden die Produktionsbedingungen weltweit immer mehr angeglichen, was auch zur Folge hat, daß beispielsweise ein Arbeiter bei Opel in Bochum mit einem Arbeiter bei GM in den USA konkurriert und, wenn er nicht gebraucht wird, der Arbeitslosigkeits-/Armutsverwaltung überantwortet wird. Hierdurch wird das Lohnniveau dies- und jenseits des Atlantiks gedrückt, ebenso wie Ansprüche auf Mindeststandards des Arbeitsschutzes, auf Sozialversicherung und Renten und allgemein eine lebenswerte Umwelt verringert werden. "Gevatter Frack" läßt grüßen - die kanadischen und US-amerikanischen Unternehmen, die auch in Deutschland mit der Methode des Frackings die letzten Reste an Erdöl und Erdgas aus dem Boden quetschen wollen, stehen nicht nur Gewehr bei Fuß, sie haben sich längst in Marsch gesetzt. Beispielsweise an der Ostsee. [2]

Der Import von Chlorhühnchen, Hormonfleisch und Produkten mit GVOs (gentechnisch veränderten Organismen) sowie die Fortsetzung der angeblich unverzichtbaren "Brückentechnologie" der Braunkohlegewinnung und -verstromung - von einzelnen Bundesländern möglicherweise in vorauseilendem Gehorsam gegenüber Unternehmen beschlossen, die bei einem Ausstieg aus der Braunkohle vor einem internationalen Schiedsgericht wegen der Vereitelung ihrer Gewinnaussichten klagen könnten - sind Begleitfolgen eines mörderischen Konflikts, dessen Wurzeln bis in die Zeit vor den ältesten Sklavenhaltergesellschaften zurückreichen und der bis heute nicht einen Jota weit überwunden ist.

Noch befinden wir uns im Zeitalter der Globalisierung, was bedeutet, daß der Druck auf den einzelnen erhöht werden kann. (Gäbe es Marsianer, die auf dem Mars Autos zusammenschrauben, würde irgendwann der Leistungsdruck zweier Planeten gegen den einzelnen in Stellung gebracht.) Die globalisierte Welt, obschon noch im Entstehen begriffen, wird allerdings teilweise schon überwunden, noch bevor sie vollendet ist, und von der nächsthöheren Ebene der Leistungsanforderung abgelöst. Inmitten eines der reichsten Länder der Welt, in einer Stadt mit den meisten Millionären jenes Landes, soll eine Art Zwangsarbeit eingeführt werden, der Null-Euro-Job. Testweise ab nächstem Jahr für 500 Personen in der Hansestadt Hamburg. [3]

Menschen sollen arbeiten, bloß um in dieser Gesellschaft existieren zu dürfen. Was wäre der administrativlogische nächste Schritt, sollten sich die derart Drangsalierten der Zwangsarbeit verweigern?

Ob das Mittel des Krieges eingesetzt wird wie zur Zeit in der Ukraine, in Libyen, Syrien und dem Gazastreifen oder das der Hungeradministration wie in Somalia, Kongo oder Indien oder das der Handelsliberalisierung wie im TTIP, CETA oder TISA, es handelt sich mithin um Varianten ein- und derselben Unterwerfungs- und Beteiligungsordnung, die, auf ihre einfachste soziale Funktionseinheit reduziert, bedeutet, daß ein Mensch befiehlt und ein anderer Befehle entgegennimmt.

Selbst wenn als vorläufiges Zugeständnis an die vielen Kritikerinnen und Kritiker der transatlantischen Wirtschaftspakte das Chlorhühnchen nicht kommt, das importierte Rindfleisch keine zusätzlichen Hormone enthält und die gentechnisch veränderten Lebensmittel verboten bleiben, würde dennoch das große Ganze durchgesetzt, wögen die absehbaren Folgen für diejenigen schwer, die ihr emanzipatorisches Anliegen nicht preiszugeben bereit sind.

Vermutlich gäbe es keine Spechte, wenn das Schlupfloch hielte, was sich die Made davon verspricht. Und es gäbe wohl auch keine Könige, wenn die Knechte sich nicht mit der ihnen zugeteilten Freiheit bescheiden würden. In dem Wort Freihandel steckt noch sehr viel von jenem Versprechen auf Freiheit, dabei bedeutet er doch nichts anderes, als daß einige wenige ihren Anspruch auf Wasser, Nahrung, Erze und andere Ressourcen zu Lasten der Mehrheit einschränkungslos durchsetzen und mit den Worten zugreifen können: Ich bin dann mal so frei ...


Fußnoten:

[1] Beispielsweise in einem Bericht von Zeit online:
http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-07/eu-freihandelsabkommen/komplettansicht

[2] Siehe dazu Bericht und Interviews unter anderem zu einer Demonstration am 24. Mai 2014 gegen die Förderung von Erdöl in Saal (Mecklenburg-Vorpommern) unter dem kategorischen Titel "Fracking nein danke" in den Pools
INFOPOOL → UMWELT → REPORT → BERICHT
und
INFOPOOL → UMWELT → REPORT → INTERVIEW.

[3] http://www.taz.de/!140919/

18. Juli 2014