Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → MEINUNGEN


LAIRE/252: Anthropozän oder Kapitalozän? Zu Elmar Altvaters Beitrag in der "jungen Welt" (SB)


Kritik von links am Begriff des Anthropozäns


Die vielfältigen Aktivitäten der menschlichen Spezies hinterlassen inzwischen weltweit geologische Spuren. Ungefähr ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurden langlebige Radionuklide (durch oberirdische Kernwaffenversuche) in die erosionsbedingten Sedimente eingebracht; der Meeresboden und viele Strände rund um den Globus weisen einen hohen Anteil an feinem Plastikmüll auf; im Zuge der Industrialisierung und der vermehrten Emissionen von Kohlenstoffdioxid aus der Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl und Erdgas) setzte eine Versauerung der Ozeane ein, die so schnell stattfindet, daß den kalkbildenden Meeresbewohnern nicht die erforderliche Zeit bleibt, sich an ihre veränderte Umgebung anzupassen.

Drei Beispiele für menschliche Einflüsse, die sich mehr und mehr aus den geologischen Schichten weltweit ablesen lassen. Die in London ansässige Internationale Stratigraphie-Kommission (International Commission on Stratigraphy) hat deshalb eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die einen Vorschlag für die offizielle Aufnahme eines sogenannten Anthropozäns, eines menschengemachten neuen Zeitalters, als Nachfolge zum gegenwärtigen geologischen Zeitalter Holozän ausarbeiten soll. Im Herbst dieses Jahres soll darüber abgestimmt werden.

Doch bereits an der Namenswahl "Anthropozän", die auf den Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen zurückgeht - der allerdings nicht der erste war, der dem menschlichen Einfluß einen geologischen Niederschlag zugesprochen hat -, wird Kritik geübt. Stellvertretend sei hier das Buch "Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism" (London 2016) genannt, herausgegeben wurde es von dem historischen Geographen Jason Moore. Darin wird darüber diskutiert, ob das neue Zeitalter nicht treffender beispielsweise "Kapitalozän" genannt werden sollte, weil es die destruktiven Produktivkräfte der kapitalistisch orientierten, einem permanenten Wachstumszwang unterliegenden Wirtschaft waren und sind, die sich geologisch niederschlagen.

Unter anderem auf dieses Buch, zu dem er selbst einen Beitrag geliefert hat, bezieht sich Elmar Altvater, emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, in dem Artikel "Rationale Naturzerstörung. Der Mensch lebt im 'Anthropozän' - oder eher im 'Kapitalozän'? Zum Streit um einen Namen für das Zeitalter eines kaputten Planeten" in der "jungen Welt". Es sei nicht der Mensch, "der die Unbill von Klimawandel und Naturzerstörung zu verantworten hat, sondern der Mensch in der kapitalistischen Produktionsweise, im Kapitalozän", schreibt Altvater. Dieses gelte es zu überwinden, "durch den radikalen Ausstieg aus der fossilen, imperialen Produktions- und Lebensweise". [1]

Daß sich bereits an der stratigraphischen Namenswahl eine Debatte entzündet hat, ist nachvollziehbar, werden doch durch den Begriff "Anthropozän" bestimmte gesellschaftliche Interessen befördert und andere verschleiert. Der Begriff Kapitalozän ist eindeutig positioniert, er beansprucht von vornherein nicht jene übergeordnete "Neutralität", mit der seit eh und je in der Wissenschaft davon abgelenkt wird, daß sie vor allem Herrschaftswissenschaft ist. Altvater deutet den Unterschied zwischen Anthropozän und Kapitalozän so:

"Nennen wir das neue Erdzeitalter Anthropozän, dann ist der Mensch, der Anthropos, individuell oder kollektiv, im Großen wie im Kleinen für die Lösung der auf Erden von ihm als gesellschaftlichem Wesen angerichteten Probleme verantwortlich. Dann kann der zerstörerischen 'imperialen Lebensweise' mit Konsumverzicht begegnet werden. Der individuelle oder kollektiv organisierte Verzicht setzt immer eine Entscheidung voraus, und verzichten kann man, auch ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen. Zur Bewältigung der ökologischen Probleme beim Übergang vom Holozän zum Anthropozän trägt die nette Geste des Verzichts allerdings so gut wie nichts bei."

Es ist Altvater zunächst beizupflichten, wenn er darauf aufmerksam macht, daß in vielen Vorschlägen zur Bewältigung der globalen Klima- und Umweltkrisen die gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgespart werden. Anders gesagt, der gesellschaftliche Widerspruch, der mit dem keineswegs obsoleten Begriff "Klassenkampf" bezeichnet werden könnte, müßte gelöst werden, damit nicht "individueller Verzicht" wiederum zu Zügel und Zaumzeug der administrativen Mangelkontrolle wird. Denn die hat bereits im Rahmen der heutigen, kapitalistisch ausgerichteten Weltordnung zu milliardenfacher Armut, Hunger und, von der ersten bis zur vierten Welt, Heerscharen ihre Arbeitskraft zu Markte tragender Lohnsklaven geführt, die unter dem Druck der globalen Konkurrenz bereit sind, immer stärkeren Leistungsabforderungen Genüge zu tun.

Ob etwas Ähnliches nicht auch für frühere nicht-kapitalistische Wirtschaftsformen galt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Nur soviel: Beispielsweise zeichnete sich der Realsozialismus durch eine enorme Technikgläubigkeit aus, mit der Konsequenz, daß unter seiner Hegemonie die Sphären Luft, Wasser und Boden in keinem geringeren Ausmaß lebensfeindlich gemacht wurden als unter der des Kapitalismus.

Es spräche also einiges dafür, das individuelle, vermeintlich neutrale Anthropozän durch ein anderes "...zän" zu ersetzen. Doch ist Kapitalozän geeigneter? Gegen diesen Begriff spricht, daß er zwar die hegemoniale Wirtschaftsform beim Namen nennt, aber hinfällig wäre, sobald der Kapitalismus zurückgelassen wird - wobei die "green economy" den Kapitalismus in der "grünen" Variante lediglich fortschreiben würde und sogar von manchen als vorübergehende Rettung des krisenanfälligen Kapitalismus angesehen wird.

So dominierend der Kapitalismus auch ist, er bleibt ein Mittel zum Zweck, letzten Endes menschliche Arbeitskraft zu verwerten, und dieses Mittel könnte von einer direkteren Verwertungsform, zum Beispiel einer profit- und währungslosen Gesellschaft, abgelöst werden. In ihr würden Menschen für Lohn, aber nicht in Form von Geld, sondern in Form direkter Zuwendungen dessen, was für sie unverzichtbar zum Leben ist - Nahrung, Energie, Wohnung - ihre Arbeitskraft "verkaufen". So würde sich die administrative Verfügungsgewalt enorm qualifizieren und das Zuchtmittel Kapitalismus hinter sich zurücklassen.

Geographisch könnte das auf eine Gesellschaftsform hinauslaufen, in der die Privilegierten in abgeschotteten, klimatisch günstigen und nicht vom Meeresspiegelanstieg bedrohten Regionen leben, während im übrigen Land, das nach wie vor überwacht würde, alle anderen Menschen - wahrscheinlich mit unterschiedlichen Privilegien ausgestattet, um sie besser gegeneinander ausspielen und sie somit besser beherrschen zu können - mehr oder weniger um ihr tägliches Überleben kämpfen.

Solche Lebensverhältnisse sind nicht so fern, wie man meinen könnte. "Gated Communities" sind ja bereits ein alter Hut. Aber es ist nicht nur die Europäische Union, in der zur Zeit wieder Grenzbefestigungen errichtet werden, um Menschen davon abzuhalten, aus den Elends- und Konflikt- in die Regionen relativen Wohlstands abzuwandern. Weltweit werden Grenzregime aufgebaut, gleichzeitig nimmt die Schärfe und das Ausmaß an Konflikten zur Sicherung und Ausweitung der eigenen, im wesentlichen noch national orientierten Hegemonie zu.

Wenn aber die menschliche Gesellschaft zu wirksameren Verfügungsverhältnissen übergeht, als sie der Kapitalismus bereithält, und folglich ein "Kapitalozän" endet, würde damit nicht automatisch die extrem destruktive Naturverwertung, wie sie die heutigen Produktions- und Lebensverhältnisse bestimmt, enden. Allein die wachsende Weltbevölkerung und globale Verbreitung der menschlichen Spezies selbst in die unwirtlichsten Lebensräume hinein würde auch in einem postkapitalistischen Zeitalter eine gegenüber den meisten anderen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten um vielfach höhere Produktivität an den Tag legen und ihre Umwelt massiv umformen.

Ein Kapitalozän wäre somit ein bestimmter Abschnitt innerhalb des von Menschen beeinflußten Erdzeitalters. Dafür gibt es keine Vorbilder, sondern bestenfalls Annäherungen. So bezeichnet die Geologie sechs rasche Erwärmungsphasen innerhalb der letzten 60.000 Jahre als "Heinrich-Ereignisse" (benannt nach dem deutschen Meeresgeologen und Klimatologen Hartmut Heinrich, Direktor am Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg). Die Heinrich-Ereignisse, die eine klimabedingte, verstärkte Gletscherschmelze und damit einhergehend vermehrte Sediment- und Süßwassereinträge markieren, dauerten rund 750 Jahre und endeten innerhalb weniger Jahre.

Anthropozän wäre somit eher ein Oberbegriff zu Kapitalozän, und es könnte die Aufgabe von Politikwissenschaftlern wie Altvater, Journalisten und anderen, die sich dazu aufgerufen fühlen, sein, auf den Zusammenhang zwischen den vorherrschenden gesellschaftlichen Produktionsbedingungen und den für das Leben und Überleben der Mehrheit der Menschen zerstörerischen Umweltveränderungen aufmerksam zu machen. Wobei wir die Gegenüberstellung Anthropozän versus Kapitalozän als ziemlich problematisch ansehen. Zunächst einmal ist es nur eine Behauptung Altvaters, wenn er sagt: "Nennen wir das neue Erdzeitalter Anthropozän, dann ist der Mensch, der Anthropos, individuell oder kollektiv, im Großen wie im Kleinen für die Lösung der auf Erden von ihm als gesellschaftlichem Wesen angerichteten Probleme verantwortlich. Dann kann der zerstörerischen 'imperialen Lebensweise' mit Konsumverzicht begegnet werden." Hier macht Altvater einen Sprung in der Argumentation. Konsumverzicht als Antwort auf die "imperiale Lebensweise" ergibt sich nicht zwingend daraus, wenn man das neue Erdzeitalter Anthropozän nennt. Anstatt auf eine individuelle oder kollektive Verhaltenskorrektur zu setzen, könnte man auch unter dem Titel des Anthropozäns die Frage nach dem vorherrschenden Gesellschaftssystem aufwerfen.

Im übrigen teilen wir von Altvaters folgender Aussage nur den ersten Teil: "In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft haben nicht nur wir Menschen, wir Herren (und Damen) der Schöpfung, uns verändert, wir haben auch den Planeten in einem Maße umgewandelt, das in der viereinhalb Milliarden Jahre zählenden Geschichte dieses Himmelskörpers bisher nicht vorgekommen ist, jedenfalls nicht durch das Werk seiner Bewohner. Die bisherigen großen Katastrophen der Erdgeschichte wurden durch Einschläge von Meteoriten verursacht."

Eine der größten Katastrophen haben vor rund 2,4 Milliarden Jahren die Ahnen der heutigen Cyanobakterien ausgelöst, indem sie große Mengen an Sauerstoff freisetzen. In der Fachwelt wird dies auch als die "Große Sauerstoffkatastrophe" (englisch: great oxygenation event, GOE) bezeichnet. Für anaerobe Mikroorganismen war dies ein tödliches Ereignis; konsequenterweise wird diese Phase als erdgeschichtliches Massensterben bezeichnet. Uns sauerstoffatmende Menschen gäbe es nicht - jedenfalls nicht in der gegenwärtigen Gestalt - ohne diese Katastrophe.

Es gibt gewichtige Gründe gegen den 2006 von Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen in die Diskussion geworfenen Vorschlag (den im übrigen bereits dreißig Jahre zuvor der russische Wissenschaftler Michail Budyko formuliert hatte), mit Hilfe von Schwefelinjektionen in der Stratosphäre die Wärmeeinstrahlung der Sonne zu verringern und damit der globalen Erwärmung entgegenzuwirken. Aber Altvater übertreibt, wenn er ohne weitere Erklärungen behauptet, "die Sonne könnte verdunkelt werden". Den Berechnungen Crutzens zufolge wären die Schwefelinjektionen mengenmäßig zwei bis vier Prozent dessen, was derzeit weltweit über Abgase an Schwefel in die Atmosphäre gepustet wird; und der Abschattungseffekt wäre so gering, daß man ihn nicht erkennen könnte.

Auch die Vorstellung Altvaters, daß man bei der umstrittenen Technologie des Carbon capturing and storage (CCS), also der Kohlenstoffabscheidung und -lagerung, das Kohlendioxid aus den "oberen Schichten der Atmosphäre" wieder "einfängt", um es in Kavernen zu pressen, "die wir beim Brechen der Kohlenflöze oder beim Abpumpen von Öl und Gas in den Böden hinterlassen haben", entspricht nur sehr bedingt den Vorstellungen der Apologeten des CCS. Vielmehr ist daran gedacht, das CO2 bereits in den Kraftwerken und Industrieanlagen abzufangen, bevor es in die Atmosphäre entlassen wird.

Dessen ungeachtet sind Altvaters Bedenken, daß ausgerechnet mit Geoengineering und CCS "die Technologien des Kapitalismus, mit denen Treibhauseffekt und andere ökologische Probleme verursacht wurden (...) das auf dem Planeten Erde angerichtete Unheil wiedergutmachen" sollen, nachvollziehbar. Der Kapitalismus versucht sozusagen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Das wird nicht funktionieren.

Worauf sich die Geologen im kommenden Herbst auch immer einigen werden: Bereits die Diskussion über Anthropozän und Kapitalozän könnte sich als nützlich erweisen, wenn dadurch Fragen hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktionsvoraussetzungen und ihrer verheerenden Konsequenzen für die Mehrheit der Weltbevölkerung aufgeworfen werden.


Fußnote:

[1] http://www.jungewelt.de/2016/02-01/052.php

4. Februar 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang