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LAIRE/267: Forscher beschreiben "Über-Konsum" als Nahrungsverlust (SB)


Soll die Nahrungsbeschaffung dem einzelnen aus der Hand genommen werden?


Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich im politischen Weltbild globale Sichtweisen durchgesetzt, in denen ergänzend zur nationalstaatlichen Ordnung von der "internationalen Gemeinschaft" oder der "Menschheit" gesprochen wurde. Die Gründung der Vereinten Nationen, der erstmalige Blick aus dem All auf den blauen Planeten mit seiner empfindlich dünnen Atmosphäre und auch Bücher wie "Die Grenzen des Wachstums" und "Global 2000" beförderten das Problematisieren in planetaren Größenordnungen. Neben Themen wie weltweites Artensterben, Klimawandel und globale Erwärmung betraf das auch die Ernährung. Es wurde angefangen, vom globalen Hunger zu sprechen, und es wurden Vorschläge diskutiert und umgesetzt, die auf die weltweite Beseitigung des Nahrungsmangels zielten.

Doch alles, was bislang dazu geleistet wurde, ist weitgehend gescheitert. Die grüne Revolution der sechziger Jahre hat viele neue Probleme geschaffen. Die spätere Umorientierung des Agrarsektors in den ärmeren Ländern auf "cash crops", also auf landwirtschaftliche Produkte, die für den Export produziert werden, so daß die Staaten mit den Deviseneinnahmen auf dem Weltmarkt die Grundnahrungsmittel kaufen, die sie nicht mehr selber anbauen, hat die Armut nicht behoben, sondern verstärkt. Auch gentechnisch veränderte Nahrungs- und Futtermittel sind den Beweis schuldig geblieben, daß sie die Lösung des weltweiten Hungerproblems sind.

Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt werden von der internationalen Staatengemeinschaft neue Versprechungen gemacht wie, daß die Zahl der Hungernden halbiert wird (dieses im Jahr 2000 beschlossene Millenniumsziel wurde 2015 nicht erfüllt) oder daß der Hunger gar vollständig aus der Welt geschafft wird (Nachhaltigkeitsziel bis 2030).

Neben Luft und Wasser ist Nahrung für Menschen unverzichtbar. Wenn heute 800 Millionen Menschen akut hungern und weitere zwei Milliarden mangelernährt sind, da ihnen wichtige Nährstoffe fehlen, dann haben die bisherigen Globalkonzepte zur Nahrungsproduktion versagt. Hier nun kommt eine neue Studie ins Spiel, in der das Wegwerfen von Nahrungsmitteln mit der Fleischproduktion und dem angeblichen unnötigen "Über-Konsum" (over-consumption) in einen Topf geworfen werden.

Forscher unter anderem der University of Edinburgh haben das globale Ernährungssystem unter die Lupe genommen, indem sie Statistiken der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen auswerteten. Demnach geht fast die Hälfte der weltweiten Ernte von Getreide durch übermäßigen Konsum, Wegwerfen von Nahrung und ineffektive Produktionsprozesse verloren. Zu letzterem gehört das Verfüttern von Pflanzen zur Herstellung von Fleisch und anderen tierischen Produkten. Hier sehen die Forscher die größte Verschwendung und zugleich die größten ökologischen Folgeschäden.

Jedoch soll hier von den vielen Zahlenangaben in der Studie nur eine besonders hervorgehoben werden. Die Forscher haben ausgerechnet, daß die Weltbevölkerung rund zehn Prozent mehr Nahrung verzehrt, als angeblich nötig wäre. Dabei erkennen sie an, daß es problematisch ist, die verschiedenen Stufen des Ernährungssystems miteinander zu vergleichen. Auch gestehen sie zu, daß der Nahrungsbedarf der Menschen sehr verschieden ist. Dennoch bemühen sie sich, vergleichbar zu machen, was, bildlich gesprochen, zuvor Äpfel und Birnen waren. Entscheidend ist deshalb nicht so sehr, was in der Studie herausgefunden wurde, sondern daß der vermeintliche "Über-Konsum" überhaupt in Rechnung gestellt wird. Hier wird zu bestimmen versucht, was ein Mensch durchschnittlich an Kalorien und Nährstoffen benötigt. Was darüber liegt, ist dann in dieser Rechnung "überflüssig".

Diese Rechnung hat offensichtlich politische Konsequenzen. Heißt es doch abschließend in der Untersuchung, die im Journal "Agricultural Systems" veröffentlicht wurde: "Die Ergebnisse zeigen, daß die Systemverluste durch zu hohen Verbrauch von Nahrung mindestens so substantiell sind wie die Verluste, bei denen die Verbraucher Essen wegwerfen. (...) Veränderungen zur Beeinflussung des Verbraucherverhaltens, beispielsweise daß sie weniger tierische Produkte essen, Essensabfälle vermeiden und pro Kopf weniger verzehren, um dichter an den Nährstofferfordernissen zu sein, werden allesamt helfen, einer wachsenden Weltbevölkerung nachhaltige Ernährungssicherheit zukommen zu lassen." [1]

Die Zählbarkeit von Nahrung, die in einzelne Nährstoffe aufgeteilt wird, um dadurch einen tieferen Zugriff auch auf ihre Bestandteile zu erhalten, und demgegenüber die Festlegung des vermeintlichen Nahrungs- und Nährstoffbedarfs des Menschen bilden die wissenschaftlichen Voraussetzungen für globaladministrative Zuteilungsformen jeglicher Art. Werden solche Maßstäbe etabliert, sind sie kaum mehr aus der Welt zu schaffen, und der einzelne sieht sich einer Verfügungsgewalt gegenüber, die zum Wohle der Weltbevölkerung Nahrung zuteilt oder vorenthält. Die Nahrungsbeschaffung wird dem einzelnen aus der Hand genommen.


Fußnoten:

[1] tinyurl.com/h64349c

3. März 2017


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