Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → MEINUNGEN


LAIRE/303: Strahlen - allen voran die USA ... (SB)



Weder Tschernobyl noch Fukushima zählt zu den am stärksten verstrahlten Orten der Welt, die Marshall-Inseln sind ihnen in dieser finsteren Rangfolge weit voraus. Dort haben die USA zwischen 1946 und 1958 67 Kernwaffenversuche durchgeführt, und noch heute, weit mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem letzten Test, ist die Radioaktivität auf einigen Inseln dieses zentralpazifischen Archipels deutlich höher als an jenen beiden Orten mit den bislang schwersten Nuklearunfällen der zivilen Kernenergienutzung. Auf einem der Atolle des pazifischen Inselstaats wird die Strahlenbelastung von Fukushima und Tschernobyl sogar um das 1000fache übertroffen.

Das bekümmert die dafür verantwortlichen USA heute anscheinend so wenig wie damals. Denn sie modernisieren ihr Atomwaffenarsenal, sind auch aus dem Vertrag zur Begrenzung von Mittelstreckenraketen ausgestiegen und bedrohen andere Staaten massiv mit ihrer wirtschaftlichen und letztlich auch militärischen Macht. Der Einsatz von Kernwaffen und daraufhin ein Schlagabtausch mit den von der Menschheit bislang zerstörerischsten Waffen ist erheblich näher gerückt.

Auf den vier unbewohnten pazifischen Inseln Bikini, Enjebi und Runit sowie innerhalb des Rongelap-Atolls die Insel Naen, die alle zu den Marshall-Inseln gehören, ist die Radioaktivität am höchsten. Auf letztgenannter Insel wurde allerdings kein Kernwaffenversuch durchgeführt, sie liegt rund 150 Kilometer von den anderen Inseln entfernt. Die Chemieprofessorin Ivana Nikolic Hughes von der Universität von Columbia, Co-Autorin von drei aktuellen Beiträgen im Journal PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences) [1], stellt die These auf, daß das auf der Insel nachgewiesene Isotop Plutonium-238 möglicherweise nicht mit radioaktivem Fallout nach Naen kam, sondern daß es mit ungekennzeichnetem Nuklearabfall dorthin gebracht worden war. Solange diese offene Frage nicht geklärt und die Gefahr nicht behoben sei, sollte niemand auf dem Rongelap-Atoll leben, warnte die Wissenschaftlerin. [2]

Damit stellt sie sich gegen anderslautende Behauptungen, die seit Jahrzehnten von den wechselnden US-Regierungen vertreten und mit einem einzigen Wort treffend charakterisiert werden können: Täuschung. Beispielsweise brachten die USA am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll die Wasserstoffbombe Castle Bravo oberirdisch zur Explosion. Diese hatte die rund 1300fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Erst drei Tage später, nachdem eine hochradioaktive Wolke über Rongelap und Utirik hinweggezogen war, wurden die Menschen von dort evakuiert. Es war kein Schnee, der in dieser tropischen Region wundersamerweise vom Himmel fiel, wie viele dachten, sondern der gefährliche Fallout aus einer Explosion, die dreimal so stark war wie berechnet. Die Inselbevölkerung zeigte alle Symptome akuter Verstrahlung wie Übelkeit, Haarausfall, gereizte Haut, später auch Krebs und Tod.

Die erste Evakuierungsstation der verstrahlten Bevölkerung des Bikini-Atolls war 1946 das Rongerik-Atoll. Da gab es aber gar nichts zu essen, und so ging es weiter auf das Kwajalein-Atoll und von dort zur Kili-Insel, die ebenfalls zu den Marshall-Inseln gehört. Als die US-Regierung versicherte, daß Bikini und Rongelap wieder bewohnbar seien, kehrten die Menschen zurück. Sie wußten nicht, daß sie von der US-Regierung als die idealen Versuchskaninchen für die Ausbreitung von Radioaktivität in der Nahrungskette angesehen worden waren. Bald darauf stellten die Menschen fest, daß sie abermals getäuscht wurden. Die Strahlung war noch immer lebensgefährlich hoch, doch erst 1985 wurden sie zum zweiten Mal evakuiert. Diesmal von der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die sie zur Mejato-Insel brachte, wo viele von ihnen heute noch leben.

1992 erklärte die US-Regierung, daß eine Rückkehr nach Rongelap und auf andere radioaktiv kontaminierte Inseln dann möglich sein wird, wenn die Gesamtstrahlenbelastung auf unter 100 Millirem pro Jahr abgeklungen ist. Aber, so Ivana Nikolic Hughes, die US-Umweltbehörde EPA selber legt strengere Maßstäbe an. Die Menschen, die in der Nähe des (unter Obama aufgegebenen, aber unter Trump wieder ins Gespräch gebrachten) nuklearen Endlagerstandorts Yucca Mountain leben werden, dürfen 10.000 Jahre lang keiner höheren Radioaktivität als 15 Millirem pro Jahr ausgesetzt werden.

Die Lebensmitteluntersuchungen, die Ivana Nikolic Hughes und ihr Mann, der Teilchenphysiker Emlyn Hughes von der Universität von Columbia, auf den Inseln Bikini, Naen und Rongelap durchführten, zeigten einen Mix an unterschiedlichen Verstrahlungsgraden. So waren die Früchte teilweise stärker belastet, als es in Rußland, Weißrußland, Ukraine und Japan, also den Ländern, in denen es teils stark verstrahlte Gebiete gibt, zugelassen wäre, berichteten die beiden.

Vor einem Rätsel steht die Forschungsgruppe über ihren Befund, daß in Bodenproben auf der Insel Naen fast so hohe Strahlenwerte gemessen wurden wie in dem Krater der Explosion Castle Bravo in rund 150 Kilometer Entfernung. Terry Hamilton vom US-Energieministerium zweifelt an der Korrektheit der Meßergebnisse, zumindest was die Bodenproben von Naen betrifft. Hamilton ist im Energieministerium der leitende Wissenschaftler, der sich mit Strahlenfragen der Marshall-Inseln befaßt.

Nach all den üblen Erfahrungen, welche die Bevölkerung der Marshall-Inseln mit den Vereinigten Staaten gemacht hat, wäre es nicht verwunderlich, wenn sie Hamiltons Bedenken nicht als sachlich, sondern als interessengeleitet betrachten und vermuten würden, daß er entweder die Seite der Regierung vertritt, um weitere Entschädigungsansprüche abzuwehren, oder daß er sich persönlich gekränkt fühlt, daß andere und nicht er zu so hohen Meßergebnissen gelangt sind. Und sie könnten sich fragen: War es nicht schon immer eine beliebte Methode der Nuklearlobby, unbequeme Forschungsergebnisse durch den Verweis auf vermeintlich unsaubere wissenschaftliche Arbeit zu diskreditieren?

Die Übergriffigkeit in diesem Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika auf andere Menschen fängt schon mit dem Kernwaffentest an sich an und setzt sich in der Täuschungs- und Verschleierungspolitik über die vermeintlichen Kollateralschäden weiter fort. An der dahinterstehenden Denkweise, durch den Abwurf zweier Kernwaffen - als Machtdemonstration, aber auch zu Testzwecken - das Siechtum und Sterben von Hunderttausenden in Kauf zu nehmen, hat sich zu keinem Zeitpunkt seitdem etwas geändert. Davon zeugen die Kernwaffenversuche auf den pazifischen Inseln ebenso wie die aktuelle Aufrüstung des Kernwaffenarsenals sowie der Ausstieg aus internationalen Verträgen, die zumindest formal einen gewissen Schutz vor einem bewaffneten Konflikt geboten haben. Kernwaffenversuche und der Einsatz von Kernwaffen sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Umweltschäden sind immer Schäden an Leib und Leben von Menschen und diejenigen, die sie zu verantworten haben, wissen genau, was sie tun. Es mangelt prinzipiell nicht an Wissen darüber, was Radioaktivität mit Menschen anrichtet und wie lange sie sich in der Umwelt hält.


Fußnoten:

[1] https://www.pnas.org/content/pnas/early/2019/07/09/1903481116.full.pdf
https://www.pnas.org/content/pnas/early/2019/07/09/1903478116.full.pdf
https://www.pnas.org/content/pnas/early/2019/07/09/1903421116.full.pdf

[2] https://phys.org/news/2019-07-radioactivity-marshall-islands-higher-chernobyl.html

19. Juli 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang