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LAIRE/329: Müll - Angriff auf die Nahrungskette ... (SB)



Die Vermüllung der Weltmeere mit Mikroplastik hat ein noch größeres Ausmaß angenommen als vermutet. Durch den Einsatz besonders engmaschiger Fangnetze hat eine britisch-amerikanische Forschungsgruppe ein Mehrfaches an Mikroplastikteilchen (< 5 mm) aus dem Meer gefischt, als in den meisten früheren Studien nachgewiesen worden war. Nicht nur die Menge an winzig kleinen Plastikteilchen im Meer ist bislang wenig erforscht, auch die Schadensfolgen für Kleinstlebewesen und somit letztlich die gesamte Nahrungskette sind bisher nur partiell bekannt.

Dabei spielt nicht nur das Plastikmaterial an sich eine wesentliche Rolle, wenn es beispielsweise hormonell wirksame Substanzen absondert, auch die Giftstoffe, die sich an die Partikel heften und von Organismen aufgenommen werden, bilden eine Gefahr. Zumal Plastik praktisch nicht abgebaut wird und in immer kleinere Teile zerfällt, so daß die Plastikaufnahme auf allen Ebenen der biologischen Vielfalt stattfindet, von den großen Meeressäugern wie den Walen, die ganze Plastikreissäcke verschlucken, bis hinunter zum winzigen Zooplankton, das sich die ausgewaschenen Partikel der Fleecejacke einverleibt.

Forscherinnen und Forscher um Pennie Lindeque und Matthew Cole vom Plymouth Marine Laboratory (England), der University of Exeter, dem King's College London und dem Rozalia Project (USA) stellten sich die Frage, welchen Einfluß die Wahl der Maschengröße der Fangnetze auf die Menge an Mikroplastik hat. Daß man mit einem feinmaschigeren Netz mehr Teile fängt, war natürlich schon vorher klar, aber in welchem Ausmaß hat dann doch überrascht.

Die Vergleichsmessungen wurden mit Netzen mit einer Maschengröße von 100 Mikrometern (0,1 Millimeter) anstatt, wie ansonsten üblich, von 333 Mikrometern durchgeführt. Als drittes wurde noch ein gröberes Netz mit einer Maschengröße von 500 Mikrometern verwendet. Hochgerechnet auf einen Kubikmeter Meerwasser wurden mit dem feinsten Netz im Durchschnitt 3.700 Plastikpartikel gefangen. Das war das 2,5fache gegenüber dem Fang mit dem mittleren und das 10fache gegenüber dem mit dem grobmaschigsten Netz.

Die Untersuchungsergebnisse wurden im Journal Environmental Pollution unter dem Titel "Are we underestimating microplastic abundance in the marine environment? A comparison of microplastic capture with nets of different mesh-size." (z. Dt.: Unterschätzen wir die Verbreitung von Mikroplastik in der Meeresumwelt? Ein Vergleich des Mikroplastikfangs mit Netzen unterschiedlicher Maschengröße) veröffentlicht. [1]

Die Messungen wurden schon 2013 durchgeführt. In den letzten sieben Jahren dürfte die Menge an Plastikteilchen noch zugenommen haben. Mit dem Höhepunkt der Plastikvermüllung der Meere wird erst im nächsten Jahrhundert gerechnet.

Mehr als 90 Prozent der Studien zu Mikroplastik im Meer seien bislang mit Netzen der Maschengröße von 333 Mikrometern durchgeführt worden, berichtete die Studiengruppe. Das bedeute beispielsweise, daß 95 Prozent aller Mikroplastikkügelchen, wie sie von der Kosmetikindustrie verwendet werden, bislang durch die Lappen gegangen sind. Auch Mikrofasern sowie allgemein alle Plastikteilchen, die sich in der Meeresumwelt immer mehr zerlegen, wurden bislang nicht ausreichend erfaßt. Bemerkenswert ist außerdem, daß sich die Partikelzusammensetzungen an den beiden Meßstandorten in den Küstengewässern vor Maine, US-Ostküste, und im English Channel vor Plymouth glichen, sagte Co-Leitautorin Lindeque gegenüber "Newsweek". [2]

Küstengewässer wurden deshalb ausgewählt, weil dort die biologische Aktivität besonders groß ist. Das Erfassen der Menge und Art der Mikroplastikteilchen wird als erster Schritt für weitere Forschungen zu den Folgen der Vermüllung auf die Meeresfauna angesehen.

In früheren Studien zu Mikroplastik im Meer war unter anderem festgestellt worden, daß sich das Verhalten von Kleinstlebewesen, die Mikroplastik aufgenommen haben, verändert. Auch kann deren Fruchtbarkeit nachlassen. Plastikteilchen, die normalerweise leichter als Wasser sind, können mit Wind und Strömung sehr lange Strecken zurücklegen und dabei chemische Umweltgifte, aber auch toxische Algen transportieren. Außerdem können Sauerstoffmangel, Versauerung der Meere und andere Stressoren der marinen Umwelt die Schadeffekte durch Mikroplastik verstärken.

An den Akkumulationsfolgen von Giftstoffen, die mit dem Mikroplastik beispielsweise von Fischen, Muscheln, Krebsen oder auch dem Zooplankton aufgenommen werden, wird durchaus geforscht. Dabei trägt jede einzelne Studie sicherlich etwas zum Gesamtbild bei, aber genauso kann man fragen, ob dabei überhaupt jemals ein Gesamtbild herauskommt. Bei der Vermüllung handelt es sich um einen dynamischen Vorgang, der zeitlich und räumlich starken Veränderungen unterworfen ist.

In einem Kommentar des Medizinjournals "The Lancet" vom Juni 2020 [3] macht Barbara A Demeneix von der Université Paris-Sorbonne, Frankreich, auf den Zusammenhang zwischen Klimawandel, Verlust der Biodiversität und chemischer Verschmutzung, einschließlich der Plastikvermüllung, aufmerksam. Alle drei globalen Bedrohungen besäßen einen gemeinsamen Nenner: die fossile Energieindustrie. Dieser Zusammenhang sei in Politik und Öffentlichkeit noch nicht genügend angekommen.

Während Demeneix vor allem auf die Beschreibung chemischer, potentiell gesundheitsgefährdender Effekte abhebt, indem sie das Ausmaß der fossilen Energieträgerindustrie beschreibt und beispielsweise daran erinnert, daß auch Formulierungen wie Glyphosat (ein Herbizid), Neonicotinoide und Pyrethroide (beides Insektizide) aus fossilen Energieträgern hergestellt werden, sei hier abschließend auf den grundlegenden Einflußfaktor der vorherrschenden Produktionsweise verwiesen.

Die fossile Energiewirtschaft hat eine menschheitsgeschichtlich wohl einmalige Steigerung der Produktivkraftentwicklung ermöglicht. Die läuft nicht auf den emanzipatorischen Entwurf hinaus, die Menschen von ihrer Überlebensnot zu befreien, die sich gesellschaftlich unter anderem im Lohnarbeitszwang ausdrückt. Sondern sie richtet sich genau umgekehrt gegen die Lebensvoraussetzungen der Mehrheit der Menschen. Das zeigen sowohl die multiplen Krisen in den sogenannten Natursystemen - inklusive der Plastikvermüllung - als auch damit verkoppelt die gesellschaftlichen Entwicklungen mit ihrem gewaltregulativen Potential. Das droht sich aktuell mal wieder auf eine Weise zu entladen, die entweder auf eine kriegerische Auseinandersetzung oder die Qualifizierung der administrativen Verfügungsgewalt hinausläuft. Oder auf beides. Die fossile Energiewirtschaft wäre als Brandbeschleuniger dieser Entwicklungen zu bezeichnen, nicht jedoch als deren Ursprung. Ein Austausch der fossilen durch erneuerbare Energieträger, wie es Demeneix favorisiert, wäre bestenfalls ein Herumdoktern an den Symptomen.


Fußnoten:

[1] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0269749120310253

[2] https://www.newsweek.com/microplastics-ocean-vastly-underestimated-125-trillion-particles-floating-around-1505404

[3] https://www.thelancet.com/journals/landia/article/PIIS2213-8587(20)30116-9/fulltext#%20

26. Mai 2020


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