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OFFENER BRIEF/005: Offener Brief an die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung (IPPNW)


IPPNW - Berlin, den 10. Mai 2011

Offener Brief

an die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung


Sehr geehrter Herr Prof. Töpfer,
Sehr geehrter Herr Prof. Kleiner,

- Den weiteren Mitgliedern der Ethikkommission bitte zur Kenntnis -

vor dem Hintergrund der nach Fukushima nochmals gefestigten mangelnden Akzeptanz der Bevölkerung für die Atomenergie-Nutzung mit entsprechenden Auswirkungen auf Wahlergebnisse soll die von Ihnen geleitete "Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung" eine Empfehlung abgeben, wie lange in Deutschland noch Atomkraftwerke betrieben werden sollen. Damit ist insbesondere seitens der derzeitigen Regierungsfraktionen - und der mit diesen verbundenen Kräften in der Wirtschaft - die Erwartung verbunden, mit medialer Hilfe einen breit akzeptierten Konsens herstellen zu können, der dem Thema Atomenergie seine wahlentscheidende Schärfe nimmt.

Im Verlauf der öffentlichen Sitzung bzw. Anhörung am 28. April zeichnete sich ab, dass die Kommission weniger einen breiten "gesellschaftlichen Konsens" sucht als vielmehr einen Konsens der Politik mit den Profiteuren des bisherigen Energiesystems: Im Gegenzug für ein frühzeitigeres Auslaufen der Atomenergienutzung soll die Marktmacht der großen Energiekonzerne mit Hilfe eines weiterhin zentralisierten und staatlich privilegierten Energiesystems gesichert werden, wobei der Focus auf eine drastische Anhebung der Strompreise sowie auf den Ausbau des Verbundstromnetzes in Verbindung mit neuen konventionellen Großkraftwerken und mit der Offshore-Windenergie gelegt wird. Für diese Strategie warb die Kommission intensiv um Unterstützung bei den mitgliederstarken Umweltverbänden, da insbesondere für den Bau neuer Stromtrassen und für erneut steigende Energiepreise die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt.

In den vergangenen Jahren haben Sie, Herr Töpfer, völlig zu Recht immer wieder die Bedeutung eines dezentralen Energiesystems nicht nur für Entwicklungsländer betont, da es sich - wie die Praxis zeigt - erheblich schneller realisieren lässt und weil praktisch die gesamte Bevölkerung direkt oder indirekt wirtschaftlich davon profitiert. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass es im Rahmen der Ethikkommission offenbar längst eine Vorfestlegung auf eine vornehmlich zentralisierte Energiewirtschaft zugunsten weniger Großkonzerne gibt. Das aber entspricht nicht den "gesellschaftlichen Erwartungen".

Auch hinsichtlich der Bewertung der Risiken der Atomenergie konnte man bei der Sitzung am 28. April nicht den Eindruck gewinnen, als ginge es vornehmlich um den Schutz der Bevölkerung. Zwar wird unter dem Eindruck von Fukushima und den Auswirkungen auf Wahlergebnisse nun endlich grundsätzlich dem Willen der Bevölkerung nach einem Ausstieg aus dieser Risikotechnologie entsprochen. Allerdings wird auch jetzt noch um einen jahrelangen Weiterbetrieb gefeilscht. Während der öffentlichen Anhörung loteten Mitglieder der Ethikkomission aus, bei welchen "Restlaufzeiten" noch mit der Akzeptanz seitens der Umweltverbände zu rechnen ist. Eine solche Vorgehensweise entspricht zwar eingeschränkt den Anforderungen einer Suche nach einem Kompromiss (zwischen einigen oppositionellen Verbänden und den großen Energiekonzernen), sie beantwortet aber nicht die Frage, ob die Zubilligung weiterer "Restlaufzeiten" ethisch verantwortbar ist.

Das aber sollte und muss die Lehre aus Fukushima sein: Es kann, ohne jede Vorankündigung, zu jeder beliebigen Zeit, an jedem beliebigen Ort zum Super-GAU kommen. Allzu gerne wird übersehen, dass es in den vergangenen Jahren wiederholt Vorkommnisse in Atomkraftwerken gab, die nach offiziellen Bewertungen in einer Katastrophe hätten enden können (u.a. Maanshan-1, Davis-Besse und Forsmark-1). Der Super-GAU ist kein wirklich seltenes Ereignis.

Im Rheingraben gab es zuletzt am 23. Dezember 2011 ein Erdbeben relevanter Stärke. Und es ist kein Geheimnis, dass die deutschen Atomkraftwerke in Relation zu den am jeweiligen Standort möglichen Erdbeben unzureichend geschützt sind. Mit einem nur kleinen Leck in einer Schweißnaht kann es zur Unfallauslösung und mit der gleichzeitigen Beschädigung der redundanten Kühlsysteme an nur wenigen Stellen zur Katastrophe kommen. Bei einem solchen Szenario mitten in Deutschland helfen auch keine Westwinde, die wenigstens einen Teil der Radionuklide aufs offene Meer treiben könnten.

Es gibt in diesem Zusammenhang ernstzunehmende Zweifel, ob die derzeit laufenden Sicherheitsüberprüfungen der deutschen Atomkraftwerke, deren Ergebnisse jedenfalls offiziell von der Ethikkommission berücksichtigt werden sollen, die von den Anlagen ausgehenden Risiken methodisch überhaupt erfassen können. Nach Auffassung von Herrn Erich Görgens, einem ausgewiesenen Spezialisten für erdbebensichere Halterungskonzepte (er war an der Planung und Errichtung der meisten deutschen Atomkraftwerke beteiligt), stellen die aktuellen Sicherheitschecks aus den folgenden Gründen keine realitätstauglichen Überprüfungen dar:

1. Der ehemalige Siemens/KWU-Chef Klaus Barthelt wollte Anfang der 1980er Jahre die deutschen Atomkraftwerke mit einer verbesserten, "momentfreien, auslenkenden" Stütztechnik für Rohrleitungen, Kühlpumpen etc. vor Erdbeben und Flugzeugabsturz schützen. Er konnte sich damit aber im Siemens-Konzern nicht durchsetzen.

2. Alle Atomkraftwerke sind daher schon durch relativ schwache Erdbeben, durch Flugzeugabsturz und bei ungünster Überlagerung von Lasten (inkl. Vorbelastungen) auch bereits durch thermische Belastungen, Schnellabschaltungen und dergleichen erheblich gefährdet.

Die Kühlsysteme im japanischen Katastrophenmeiler Fukushima wurden vermutlich nicht durch die "Stärke" des Erdbebens zerstört. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass es die besondere Charakteristik des Erdbebens war, die abweichend von der Modelltheorie, relative Verschiebungen zwischen den Abstützungen und so unzulässige Lasten verursachend, zu den großen Schäden in Japan führte.

3. Die herkömmlichen Befestigungskonzepte etwa für Rohrleitungen und Kühlwasserpumpen in Atomkraftwerken stehen sich bezüglich den Anforderungen zum Schutz vor Erdbeben und vor Flugzeugabstürzen diametral entgegen: Zum Schutz der durch Erdbeben ausgelösten mittelfrequenten Schwingungen setzt man auf starre Stützsysteme, die aber eine Gefahr bei Flugzeugabstürzen darstellen. Hochfrequente Schwingungen, wie sie schon beim Aufprall kleiner Flugzeuge auf ein Reaktorgebäude entstehen, erfordern hingegen eine sehr weiche, flexible Aufhängung.

4. Der u.a. bei Siemens/KWU einst diskutierte, in den Anlagen dann aber nicht realisierte Lösungsansatz beruht auf absoluter Momentfreiheit und/oder ausweichenden Widerlagern. Es handelt sich um ein stressfreies, frequenzunabhängiges Stützkonzept für mechanische Systeme. Es geht darum, relative Verschiebungen zwischen Stützpunkten momentfrei auslenken und dadurch sichern zu können.

Es muss garantiert werden, dass EVA- und/oder EVI-Lastfälle über passiv steuerbare Gelenkketten, frequenzunabhängig, ausweichend stützenden Elementen zur sicheren Lastableitung zugeführt werden. Derart ingenieurwissenschaftlich eindeutig und vollständig beschreibbare Stützkonfigurationen bestehen aus einwertigen Struts (gleich Stäben mit Gelenkenden). Letztere können auch zwei- oder dreiwertig wirkend angeordnet, klar definierbare Zug- und/oder Druckkräfte aufnehmen und/oder in die Stützstruktur ableiten bzw. daraus übernehmen.

In den USA hat man derartige Struts zwar eingesetzt, aber nicht optimal genutzt, so dass auch die dortigen Atomkraftwerke erheblich gefährdet sind.

5. Im Ergebnis liegen den so genannten "Stresstests" sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene grundlegend fehlerhafte Modellannahmen und Prüfkriterien zugrunde.

Diese Zusammenhänge finden an den verantwortlichen Stellen bislang offenbar nicht die erforderliche Beachtung. Es ist anzunehmen, dass eine tatsächliche Sicherheitsüberprüfung bezüglich Erdbeben, Flugzeugabsturz, thermischen Belastungen, Belastungen durch Schnellabschaltungen, Überlagerung von Belastungen inkl. zu unterstellenden Vorschädigungen etc. überhaupt nicht durchgeführt wird. Offenbar prüft man an den realen Gefahren vorbei.

Erschwerend kommt hinzu, dass die "Kernschmelzfestigkeit" der deutschen Atomkraftwerke katastrophal schlecht ist. Ein frühzeitiges und großflächiges Aufplatzen der Stahlcontainments in Folge etwa von Wasserstoff- oder Dampfexplosionen ist das wahrscheinliche Szenario. Die während der Anhörung der Ethikkommission erwähnten Wasserstoff-Rekombinatoren sind aufgrund von experimentellen Untersuchungen in Fachkreisen heftig umstritten, weil sie erwartungsgemäß nicht in hinreichendem Maße funktionieren und zudem die gefürchteten Explosionen geradezu auslösen können.

Vor dem Hintergrund der hier nur angedeuteten Risiken ergibt sich, dass ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke ethisch nicht zu verantworten ist.

Mit freundlichen Grüßen

Henrik Paulitz Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)

Tel. 030-69 80 74-0
Email: paulitz@ippnw.de
www.ippnw.de


Über die IPPNW:

Diese Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges engagieren sich seit 1982 für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg. 1985 wurden sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seit 1990 stehen zusätzlich gesundheitspolitische Themen (z.B. Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten) auf dem Programm des Vereins. In der IPPNW sind rund 7.000 ÄrztInnen und Medizinstudierende organisiert.


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Quelle:
Presseinformation der IPPNW - Deutsche Sektion der
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, 11.05.2011
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel.: 030-69 80 74-0, Fax: 030-69 38 166
E-Mail: ippnw[at]ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011