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STANDPUNKT/030: Atom-Lüge - Atom-Deal (Hans Fricke)


ATOM-LÜGE - ATOM-DEAL

Von Hans Fricke


Am Anfang des Atom-Deals der Bundesregierung in Komplizenschaft mit der Atomindustrie steht die Atom-Lüge. Sie baut sowohl auf Unkenntnis als auch auf von Politik und Medien gezielt geschürte Angst der Bevölkerung und reicht von "Ohne Atomstrom gehen die Lichter aus", über "Atomstrom ist billig, seine Herstellung gefahrlos und klimaschonend" bis hin zu "Uran ist für die Erzeugung von Atomstrom unbegrenzt vorhanden".

Und wenn Angela Merkel, die von immer mehr Menschen als Kanzlerin der Banken und Konzerne empfunden wird, als diplomierte Physikerin von der Atomenergie as "Brückenindustrie", faselt, die aus der Atomenergie-Ära in eine bessere Welt der Windräder und Solarzellen führen soll, dann hat sie den Worten von Joachim Petrik am 3.11.2010 zufolge "wider Besseres Physik- und Energiewissen, fern der Wahrheit, in den Wind geredet, damit niemand den unverfrorenen dreisten Oberton ihrer Lüge vernimmt".

In Wahrheit produzieren die vier grossen Stromerzeuger Eon, RWE, EnbW und Vattenfall seit 2002 mehr Strom als wir in Deutschland verbrauchen. Die Überproduktion entspricht der Leistung von acht Atomkraftwerken, die abgeschaltet werden könnten. Das erfolgt aber nicht, weil jeder Tag Laufzeit der Atom-Klientel der Bundesregierung pro Atommeiler einen Gewinn von einer Million Euro bringt - ein riesiges Geschäft, das sich die vier nicht vermasseln lassen wollen, getreu dem Motto: Der Strom fürs Ausland, der Gewinn für die Aktionäre und der atomare Dreck, die viele jahrtausende lange Strahlung, für die eigenen Bürger.

Nicht weniger verlogen ist das Märchen vom angeblich billigen Atomstrom, von dem sich Experten wie beispielsweise der Energiewissenschaftler Olaf Hohmeyer vom Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) ebenso distanzieren wie der Bundesverband Christliche Demokraten gegen Atomkraft (CDAK). Die Atomindustrie geniesse seit Jahrzehnten Subventionen und Privilegien wie kein anderer Industriezweig, kritisiert Hohmeyer weiter. "Kernenergie ist ohne Subvention in Deutschland gar nicht vorstellbar." Subventionen hatten die Atomenergie von der Stunde Null an begleitet. "Im Prinzip hat man politisch das gewollt", so Hohmeyer. Während die Energiekonzerne Milliarden mit der Atomkraft verdient hatten, seien die Kosten für die Forschung, Risikovorsorge und Entsorgung sozialisiert und auf den Verbraucher abgewälzt worden, kritisiert auch der energiepolitische Sprecher der Grünen im baden württembergischen Landtag, Franz Untersteiler. "Wenn Sie genauer hinschauen, dann stellen Sie fest: Die Gewinne streichen EnBW, RWE, Vattenfall und Eon ein - die Kosten der Kernenergienutzung zahlt der Steuerzahler", erklärte er gegenüber Frontal 21. So würden beispielsweise Betrieb und Stilllegung kerntechnischer Forschungsanlagen in Karlsruhe etwa vier Milliarden Euro kosten; Geld, das überwiegend der Staat bezahlt.

Auch für die grösste Investitionsruine der Atomwirtschaft, den so genannten Schnellen Brüter in Kalkar kam der Bund mit 2,177 Milliarden Euro auf. Die Steuerzahler haben einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DM) zufolge seit 1960 rund 80 Milliarden Euro Subventionen für die Kernenergie bezahlt, berichtete die Frankfurter Rundschau vom 9. November 2010. Im laufenden Betrieb profitiert die Atom-Klientel der Bundesregierung ebenfalls von atomfreundlichen Gesetzen, Henrik Paulitz von der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhinderung des Atomkrieges (IPPNW) beklagt auch die beispiellose Unterversicherung der Kraftwerksbetreiber.

Nach einer Hochrechnung, die die Bundesregierung bereits in den 90er Jahren in Auftrag gegeben hat, würde ein Atomunfall in einem Reaktor wie Biblis zu volkswirtschaftlichen Schäden in Höhe von mehr als 5.000 Milliarden Euro führen. Doch die Betreiber sind lediglich gegen Schaden bis zu 2,5 Milliarden Euro versichert. "Das sind weniger als 0,1 Prozent der zu erwartenden Schäden", sagt Paulitz. Kein anderer Industriezweig könne seine Haftungsrisiken derart vernachlässigen. "Diese Unterversicherung ist nichts anderes als eine massive Subventionierung der Atomindustrie", kritisiert er. "Würde man alle externen Kosten dem Atomstrom anlasten, dann käme man pro Kilowattstunde Atomstrom auf eine Grössenordnung von zwei Euro."

Dann wäre Atomstrom nicht mehr konkurrenzfähig. Im Gegenteil, er wäre nicht mehr verkäuflich. Petra Pauly, Pressesprecherin des Bundesverbandes Christliche Demokraten gegen Atomkraft erklärte dazu, am 28.10.2010: "So wird die körperliche Unversehrtheit von Menschen (Artikel 2 Grundgesetz) auf dem Altar der Profitinteressen einer verschwindend kleinen Minderheit von Betreibern nuklearer Anlagen geopfert. Wir als Atomkraftgegner in der Union wollen die Steuerzahler um sehr hohe Betrage entlasten, indem wir nukleare Schmarotzer dauerhaft kaltstellen. Das funktioniert durch die strikte Anwendung des Verursacherprinzips. Das heisst, wer partout Atomstrom will, der soll auch die vollen Kosten tragen. Die vom langjährigen Bürgermeister der Kur- und Bäderstadt Baden-Baden, Jörg Zwosta (CDU) geführte Mittelbadische Energiegenossenschaft hat kaufmännisch gerechnet fünf Euro pro Kilowattstunde ermittelt."

In Baden-Württemberg sind trotz eines hohen Anteils an Atomstrom die Strompreise mit am höchsten und steigen weiter. Die Kilowattstunde Strom würde ohne Subventionen drei Euro kosten. Kommt die Versicherung gegen Atomunfälle, für die die Steuerzahler aufkommen müssen, noch hinzu, sind es bereits fünf Euro, die eine Kilowattstunde kaufmännisch gerechnet kosten würde, wenn keine Subventionen von staatlicher Seite mehr fliessen.

Die Gefahr eines Reaktorunfalls ist für Paulitz keinesfalls nur theoretisch gegeben. Er hat sich für den IPPNW intensiv mit dem Atomkraftwerk Biblis B befasst. "Das AKW Biblis B befindet sich in einem katastrophalen sicherheitstechnischen Zustand, wir haben mehr als 150 Sicherheitsmängel für die Anlage nachgewiesen", erklärte er. Der IPPNW klagt deshalb derzeit auf die Stilllegung der zu RWE gehörenden Anlage. Die Unfallhäufigkeit bei den. Atomkraftwerken, bedingt durch ihre langen Betriebszeiten sind allgemein bekannt, ebenso die Entsorgungsprobleme in den bisherigen Salzstöcken Asse und Gorleben. Sie stellen ein grosses Gefahrenpotential dar. Die alten Kernkraftwerke, die von Brunsbüttel bis Grundremmingen in der Landschaft stehen, wirken heute wie betonierte Denkmäler einer grössenwahnsinnigen Epoche; ihre gewaltigen Energiemengen vergeuden sie grösstenteils, um Kühltürme und Flüsse aufzuheizen. Kaum jemand bestreitet noch, dass die Welt besser dran wäre, wenn sie die Atom-Milliarden rechtzeitig in Wind- und Sonnenstrom investiert hätte. Und dass Verantwortliche der Atomindustrie, die von den Kernkraftgegnern "Atommafia" genannt wurden, tatsächlich so kriminell gehandelt haben, wie ihre Widersacher behaupteten, darf inzwischen als bewiesen gelten, spätestens seit der Inhalt der illegalen Atommüllkippe Asse 2 ans Licht kommt. Die Beseitigung der dortigen katastrophalen Zustände kostet den Steuerzahlern weitere Milliarden Euro.

Bei all den Lügen bildet auch die Behauptung: "Atomkraft ist CO2 - frei und deshalb klimaschonend" keine Ausnahme. CO2 - frei ist nur der Vorgang der Stromerzeugung. Die dabei entstehende Wärme wird in Flüsse geleitet oder in die Atmosphäre geblasen, also verschwendet. Mit nur 2% Anteil am weltweiten Energieverbrauch ist die Atomkraft für den Klimaschutz unbedeutend. Ausserdem wird für die Gewinnung von Uran, die Beseitigung der alten Atomkraftwerke und den Transport der Castor-Behälter sehr viel Energie aufgewendet, was die Klimabilanz weiter verschlechtert. Schliesslich trifft auch die Aussage, Uran sei für die Erzeugung von Atomstrom unbegrenzt vorhanden, nicht zu, denn die Reichweite von abbaubarem Uran liegt unter Zugrundelegung des heutigen Verbrauchs bei höchstens 20 Jahren.

Den vielen Gegenargumenten muss die Erinnerung hinzugefügt werden, dass die deutsche Regierung offensichtlich auch deshalb für den Erhalt der Atomkraftwerke ist, um Ausgangsmaterial für den Bau von Atomwaffen in Reichweite zu haben. In der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague, einer Plutoniumfabrik, wie die Franzosen weniger verharmlosend sagen, wurden den dieser Tage gegen den Widerstand vieler Tausend Menschen in Castoren nach Gorleben transportierten abgebrannten Brennstäben Plutonium entzogen, das nun unter anderem für die Herstellung von Atomwaffen zur Verfügung steht. So kann Deutschland, dessen Kriegsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nach Ex-Bundespräsident Horst Köhler keine Skrupel hat, entgegen dem Grundgesetz von der Möglichkeit des Einsatzes der Bundeswehr zur weltweiten Begleitung der deutschen Wirtschaft zu schwadronieren und das sich seit Jahren um einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat bemüht, atomwaffenfrei dastehen und ist gleichzeitig für eine schnelle Wandlung in eine Atommacht gerüstet.

Seit Jahren wissen wir, nicht zuletzt durch Robert Junks Bestseller "Der Atomstaat", dass die friedliche Nutzung der Atomenergie "nur dazu dient, verdeckt, die militärische Nutzung der Atomenergie sponsorend durch die Verbraucherinnen wie steuerlich durch die Staaten der Welt subventioniert zu finanzieren". Aus alledem zieht Jörg Zwosta folgendes Fazit, mit dem er wohl allen verantwortungsbewussten Menschen aus dem Herzen spricht:

"Die Zukunft gehört allein den erneuerbaren Energieträgern wie Sonne, Wasserkraft, Windkraft, Biomasse, Geothermie und Meereswellenenergie. Diese Energieträger sind unendlich verfügbar, sauber, sicher und auch noch zum grossen Teil in der eigenen Region vorhanden. Mit den erneuerbaren Energieträgern, die aus der eigenen Region stammen, werden Arbeitsplatze geschaffen. Kapital muss nicht ins Ausland abfliessen, sondern bleibt hier und stärkt die Kaufkraft. Das ist regionale Wertschöpfung. Atomkraftwerke produzieren Überschüssigen Strom und sind damit überflüssig. Für ein modernes Stromnetz, das auf den erneuerbaren Energieträgern basiert, sind die Atomkraftwerke viel zu unflexibel und blockieren dadurch eine von Nachhaltigkeit und Ökologie geprägte Energieversorgung. Eine Energieversorgung mit den erneuerbaren Energieträgern zu 100% bis zum Jahr 2030 ist machbar, das haben zahlreiche Gutachten gerade in der jüngsten Zeit immer wieder belegt. Lassen wir uns also nicht irre machen. Den vier grossen Energieversorgern geht es ums Geschäft - ohne Rücksicht auf Sicherheit und Klimaschutz. Uns geht es um die Zukunft unserer Kinder und Enkel und um die Lebensqualität in unserer Region Deshalb arbeiten wir für die Energiewende."

Der Atomlüge folgt nun mit logischer Konsequenz der zwischen den die Energiepolitik unseres Landes bestimmenden mächtigen vier Energiekonzernen und der ausführenden Bundesregierung vereinbarte Atom-Deal, der eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke von im Schnitt 12 Jahren vorsieht und damit eine Aufkündigung des so genannten Atomkonsens von 2002 bedeutet.

Gleichzeitig plant die Bundesregierung offenbar eine deutliche Senkung des Schutzniveaus für Atomkraftwerke. Dem ARD-Magazin Monitor liegen interne Regierungsdokumente vor, in denen die Verpflichtung der AKW-Betreiber zur Nachrüstung, insbesondere auch der so genannten Altreaktoren, weitgehend abgeschafft werden soll. Anstelle von Verpflichtungen der Betreiber zu Nachrüstungen in sicherheitsrelevanten Bereichen, die dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, ist im bisher unveröffentlichten Gesetzentwurf des Bundesumweltministeriums (neuer Paragraph 7d) nur noch von einer "Sorgepflicht" die Rede. "Die Sorgepflicht begründet nur die Verpflichtung, sich zu bemühen. Sie verpflichtet nicht zu einem Erfolg. Das heisst, erste Aktivitäten reichen aus, um diese Pflicht zu erfüllen", kritisiert der Atomrechtsexperte Alexander Rollnagel die geplante Atomrechtsnovelle gegenüber Monitor.

"Im Zweifel reicht ein Bauzaun, mit dem man die Aktivitäten beginnt." Mit dem Gesetzentwurf soll auch das Klagerecht für Bürger eingeschränkt werden. Dies gilt für sämtliche Bereiche, die künftig dem so genannten "Restrisiko" zugeordnet werden sollen, darunter der Schutz vor Flugzeugabstürzen. Davon wäre das verfassungsmäßig garantierte Grundrecht der Bürger auf Leben und körperliche Unversehrtheit betroffen. Die Laufzeitverlängerung wird vom Bundesverband Erneuerbare Energie als Rückschritt kritisiert, da sie den notwendigen Ausbau erneuerbarer Energien behindere und deren wirtschaftliches Vorankommen gefährde. Für die Stadtwerke bedauert der Verband kommunaler Betriebe, dass sich die Bundesregierung einseitig auf die Seite der grollen Energiekonzerne gestellt habe, womit mittelständischen Unternehmen und kommunalen Betrieben viele Chancen auf eine sinnvolle Marktbeteiligung genommen werde.

Der Energiewissenschaftler Olaf Hohmeyer vom Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung weist darauf hin, dass eine Laufzeitenverlängerung angeblich helfen soll, die Energiepreise zu senken. Mit diesem Argument erlebe die Kernenergie-Debatte derzeit eine Renaissance. Alles falsch meint er gegenüber Frontal 21. Der Stromkunde werde von einer Laufzeitverlängerung nicht profitieren, "weil die Kosten in der Elektrizitätserzeugung nicht in die Preise transportiert werden". Denn schon heute sei die Stromerzeugung aus der Kernkraft für die Energieversorgungsunternehmen sehr billig. Dieser Vorteil werde von den Konzernen aber nicht weitergegeben. Dagegen würden die grossen Energieversorger durch eine Laufzeitverlängerung übermäßig profitieren, so Hohmeyer.

Seiner Überzeugung nach wäre eine Laufzeitverlängerung ein strategischer Fehler für die Energieversorgung von morgen. Man verzögere dadurch die Investitionen in notwendige Umbauten des Energiesystems hin zu regenerativen Energien, warnt er. Bereits am 16. September 2008 erklärte der Energiewirtschaftsexperte Felix Matthes vom Berliner Öko-Institut gegenüber Frontal 21, dass von der diskutierten Laufzeitverlängerung wieder nur die Industrie profitieren werde. Das Kernkraftwerk Biblis sei beispielsweise mindestens seit dem Jahr 2000 abgeschrieben, so Matthes. Bei den stark gestiegenen Strompreisen werde das Werk allein im Jahr 2009 voraussichtlich einen Zusatzprofit von einer Milliarde Euro realisieren. Allerdings nicht zum Vorteil des Kunden. "Bei dem kommt von diesen Zusatzprofiten nichts an." Insgesamt führen acht Jahre mehr Laufzeit nach Berechnungen von Matthes bei den Energiekonzernen zu Zusatzprofiten von etwa 80 Milliarden Euro.

Bezeichnend für das demokratische Selbstverständnis von schwarz-gelb sind Informationen, wonach in der Regierung bereits eine Vorentscheidungen darüber gefallen sei, dass der Bundesrat 'Kein Vetorecht bei der Verlängerung der Atomlaufzeiten erhalten soll. Das Gutachten des kürzlich ausgeschiedenen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, für das Umweltministerium geht dagegen von einer Zustimmungspflicht des Bundesrates aus. Sie leite sich laut Papier aus der Atomaufsicht ab, die die Länder im Auftrag des Bundes ausüben. "Weil der Bundesregierung die Verlängerung der AKW-Laufzeiten auf verfassungsmäßigem Wege nicht gelingt, will sie den Druck der Atomkonzerne nun am Bundesrat vorbeizocken", erklärte Grünen Parteichefin Claudia Roth. "Der Plan ist eine Kriegserklärung an die breite Mehrheit der Bevölkerung."

Es sei an dieser Stelle an die Worte des Bundesumweltministers Norbert Röttgen (CDU) erinnert: "Gegen die Mehrheit der Bevölkerung ist eine Laufzeitverlängerung nicht durchzusetzen." Für Angela Merkels Parteifreunde im Bundesverband Christlicher Demokraten gegen Atomkraft sind Laufzeitverlängerungen Ausdruck von politischer Idiotie.

Damit werde den atomaren "Besatzungsmächten EnbW, Eon, REW und Vattenfall" gestattet, mit unseren Lebens- und Zukunfts-Chancen russisches Roulett zu spielen. Mit ihrer Atompolitik handelt die schwarz-gelbe Regierungskoalition offenbar nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, regiert sich's prächtig ungeniert.

Selbst SPIEGEL Online vom 8.11.2010 meint, es gebe überhaupt keine guten Gründe, das Atomzeitalter in Deutschland um zwölf Jahre zu verlängern, und stellt gleichzeitig fest:"Die Proteste in Gorleben zeigen: Angela Merkel hat durch ihre Atompolitik in der Sache wenig gewonnen und politisch viel verloren. Die zwölf Jahre Laufzeitverlängerung werden sie noch teuer zu stehen kommen." Die kühle Physikerin habe die Leidenschaft und die kulturelle Breite und Tiefe der Anti-AKW-Bewegung im Westen Deutschlands unterschätzt, was ihr zum Verhängnis werde. "Politisch gesehen", so SPIEGEL weiter, "könnte Merkels Laufzeitverlängerung dereinst der Wendepunkt ihrer Kanzlerschaft gewesen sein. Die Wut gegen ihre Entscheidung baut sich erst auf, sie wird noch grösser werden."

Davon zeugt auch der Aufruf der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg zu einer Kundgebung am Endlagerbergwerk Gorleben bereits wenige Tage nach den Massenprotesten. Die Aktion richte sich dagegen, dass die niedersächsischen Bergbehörden wenige Stunden nach der Ankunft der Castor-Behälter im Zwischenlager den Sofortvollzug für die weitere Erkundung des Salzstocks Gorleben als Endlager für hochradioaktiven Atommüll angeordnet hatten, erklärte BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. Die AKW-Gegner befürchten, dass unter dem Deckmantel der Untersuchung bereits ein Endlager gebaut wird.

Union und FDP setzen bekanntlich allein auf den Salzstock Gorleben als potentielles Endlager für deutschen Atommüll. Über andere Standorte gebe es "keine Diskussion in der Regierungskoalition." Die Grünen dagegen behaupten, dass bereits unter der Ära Kohl wissenschaftliche Erkenntnisse wonach, der Salzstock Gorleben für die Endlagerung ungeeignet sei, unter den Teppich gekehrt worden.

Gorleben wurde in den 1970er Jahren lediglich wegen seiner Lage in Grenznähe zur DDR und der geringen Bevölkerungsdichte als Standort für ein "Entsorgungszentrum" ausgewählt. Einem Bericht der Linkszeitung vom 13.09.2010 zufolge "kamen im September 2009 Schreiben des Bundesforschungsministerium aus dem Jahr 1983 zu Tage, aus denen hervorgeht, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Helmut Kohl damals massiv Druck auf Wissenschaftler ausgeübt hat, um ein entscheidendes Gutachten zur Eignung des Gorlebener Salzstocks als Endlager für radioaktiven Müll in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Im Januar 2010 gelangten lange geheim gehaltene Kabinetts-Protokolle der früheren niedersächsischen Landesregierung unter Ernst Albrecht (CDU) ans Tageslicht, die belegen, dass in den entscheidenden Jahren 1976 und 1977 geologische Kriterien bei der Auswahl von Gorleben kaum eine Rolle spielten und fachliche Einwände der beteiligten Wissenschaftler vom Tisch gewischt wurden. Im April 2010 veröffentlichte Greenpeace mittlerweile zugängliche Akten, mit denen sich die Vorwürfe detailliert nachweisen lassen und die Geschichte der politischen Festlegung auf Gorleben nachgezeichnet werden kann.

Seit 1982 ist bekannt, dass es in Gorleben Gaslagerstätten gibt, die gegen ein Endlager sprechen. Noch schwerwiegender ist die Wechselwirkung zwischen dem eingelagerten Atommüll und dem Gas. Die Fässer, die an ihrer Oberfläche eine Temperatur von 200 Grad haben, würden zu einer Ausdehnung des Gases führen. Das Ergebnis beschreibt der Geologe Ulrich Schneider so: "Sie nehmen eine Gaskartusche, stellen die in den Backofen und drehen den Backofen auf 200 Grad. Was passiert? Das Haus ist weg!"

Für das Endlager bedeutet dies: Durch die Ausdehnung des Gases entsteht Druck, der zu Haarrissen im Salzstock fahrt. So entstehen kleine Spalten, durch die Radionuklide, Gase und Lösungen aus dem Endlager herausdringen können. Durch die zahlreichen kleinen Gaseinschlüsse werde das Satz von innen her zerklüftet; somit sei der einschlusswirksame Gebirgsbereich nicht mehr gegeben. Deshalb kommen sowohl Schneider als auch Edler zu dem Ergebnis, dass das geplante Endlager nicht als sicher gelten kann. Gorleben sei im wahrsten Sinne des Wortes verbrannt, so Edler. Bundesumweltminister Röttgen forderte er auf, den Standort Gorleben sofort aufzugeben und alle Akten von sich aus auf den Tisch zu legen. "Mann sollte die gefährlichsten Abfälle der Menschheit nicht auf einem Pulverfass lagern." Und trotzdem wird Gorleben nach dem Willen der Bundesregierung weiter "erkundet". 1,5 Milliarden Euro wurden bisher dafür ausgegeben - das reicht".

In Deutschland gibt es bereits tausende Tonnen hochradioaktiven Mülls. Sie haben eine Halbwertzeit von rund 100.000 Jahren oder weniger. Nach einer zehnfachen Zeit gilt die Strahlung als nicht mehr gefährlich. Das waren eine Million Jahre. Für Ende 2008 bezifferte das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) diese Menge auf knapp 2000 Kubikmeter. Weniger stark strahlenden Müll gibt das BfS mit etwa 122.000 Kubikmeter an. Um eine Vorstellung vom wachsenden Müllberg zu bekommen: Die deutschen KKW produzieren 450 Tonnen Müll im Jahr. Durch die nun beschlossene Laufzeitverlängerung könnte die Abfallmenge um rund 4.400 Tonnen wachsen, schätzen Experten.

Angesichts aller dieser zum Thema "Atom-Lüge - Atom-Deal" gehörenden skandalösen Sachverhalte ist es legitim, die folgenden Fragen zu stellen: Wie lässt sich eine solche unverantwortliche Kumpanei von Regierungsmitgliedern mit Stromkonzernen zum Nachteil der Bevölkerung mit ihrem Amtseid gemäß Artikel 56 Grundgesetz vereinbaren, in dem sie schwören, ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden, und ab wann ist das wiederholte Handeln von Regierungsmitgliedern bzw. einer Regierung gegen den erklärten Willen der überwiegenden Mehrheit des Volkes und seiner Lebensinteressen als kriminell zu bewerten?

Das Bezeichnende ist, dass Proteste und Widerstand gegen eine solche Politik bereits im Vorfeld gezielt kriminalisiert werden. So auch geschehen vor den Massenprotesten gegen die jüngsten Castor-Transporte im Wendland. Politik und Konzernmedien in der Bundesrepublik werden zunehmend nervöser. Es regiert die Hetze. Immer öfter reagiert die Bild-Zeitung mit Schaum vor dem Mund. Aus Kastanien werden Steine, aus Schülern und Rentnern "Extremisten" "Gewalttäter", "Chaoten".Offensichtlich sind die Regierenden bereit, die Konfrontation zuzuspitzen. Mehr als je zuvor konnten die Wendländer sehen, dass sie mit ihrem Protest gegen die Atompolitik nicht allein sind.

Aus Protest wurde Widerstand. Das war keine Latsch-Demo, sondern auf Strassen und Plätzen des Wendlands waren viele Tausende unterwegs, die sehr genau wussten, was sie wollten und was nicht. Dabei gleichen sich die Bilder: Die Prügelorgie hochgerüsteter Polizisten gegen Demonstranten am 30.September in Stuttgart wiederholte sich am 7.November an der Bahnstrecke kurz vor der Endstation des Castor-Transportes in Dannenberg, wobei die Demonstranten erstmals auch von ausländischen Polizisten attackiert wurden. Andere Mittel als den sofortigen Einsatz von Pfefferspray, Schlagstöcken und gepanzerten Fahrzeugen kennt das Regime nicht mehr, wenn sich grundlegende Ablehnung von Zuständen und politischen Entscheidungen auch nur punktuell Bahn bricht.

Dabei kommt neben der sprichwörtlichen "Peitsche" auch das "Zuckerbrot" zur Anwendung, denn es fällt auf, dass es ausgerechnet im Ort Gorleben selbst kaum Widerstand gegen die Castor-Transporte gibt. Das Dorf bekommt grosszügige Entschädigungszahlungen der Atom-Lobby, die es den 525 Einwohnern erlauben, in einer Art sozialem Schlaraffenland mit maximaler Infrastruktur zu leben. Mehrere Millionen Euro hat zum Beispiel der Bau eines Sport- und Freizeittempels gekostet, dem es an nichts fehlt. Die Gemeinde schwimmt in Geld. Und der mächtige Grosssponsor, der hinter dem atemberaubenden Wohlstand steckt, ist die Atomindustrie - die Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS) und das Brennelementelager Gorleben (BGL) "Kohle gegen Klappe halten." Das ist der Pakt, den die Atomindustrie mit Gorleben geschlossen hat. ("Gorleben im Wendland - das gekaufte Dorf" von Jörg Heuer in Hamburger Abendblatt Oktober 2001)

Die Bedeutung dieser vier Widerstandstage reicht weit über das Wendland hinaus. Dabei geht es um mehr als um den Atom-Deal der Bundesregierung. Wie in Stuttgart zeigt sich, das viele Menschen nicht mehr Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg wollen, dass sie genug haben von Geheimverträgen und Steuergeschenken an die Reichen, dass sie es nicht mehr hinnehmen wollen, wenn permanent gegen sie und ihre Interessen regiert wird. "Es liegt", wie Wolfgang Pomrehn in junge Welt vom 10.11.2010 zu Recht meint, "ein Kribbeln in der Luft, nicht nur in Stuttgart oder im Wendland."


Hans Fricke ist Autor des zur diesjährigen Leipziger Buchmesse im GNN-Verlag Schkeuditz erschienenen Buches "Eine feine Gesellschaft - Jubiläumsjahre und ihre Tücken", 250 Seiten, Preis 15.00 Euro, ISBN 978-3-89819-341-2


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2010