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ATOM/322: EU-Energiekommissar fordert mehr Kompetenzen für Brüssel (SB)


Brüssel strebt Erweiterung seines Einflusses in Kernenergiefragen an

Einheitliche Nuklear-Sicherheitsstandards per Dekret sind schlechter Ersatz für sachbezogene Maßgaben


Eigentlich war die Europäische Union mit der Zusage gegründet worden, daß die Nationalstaaten nur auf wenigen Gebieten Kompetenzen an die supranationale Einrichtung abtreten müßten und daß diese nur zur Unterstützung der Einzelstaaten geschaffen werde. Skeptiker haben von Anfang an zu bedenken gegeben, daß es naiv wäre zu glauben, daß dieses Konzept funktioniert. Tatsächlich hat sich die EU in den letzten Jahren nicht nur territorial ausgedehnt, sondern ihren Einfluß auch nach innen immer weiter ausgebaut. Es findet eine Aushöhlung der nationalen Souveränität statt.

Bis jetzt ist noch kein Ende dieser Entwicklung in Sicht, wie der nach 2002 und 2004 abermalige Versuch Brüssels, sich nukleare Kompetenzen anzueignen, beweist. Gegenüber der Internetseite EUobserver (http://euobserver.com/9/26196) sagte EU-Energiekommissar Andris Piebalgs am vergangenen Donnerstag, es sei "eine absolute Notwendigkeit", daß in der Europäischen Union einheitliche nukleare Sicherheitsstandards sowie eine vereinheitlichte Regelung, wie mit nuklearem Abfall umgegangen wird, herrschten. Die Regierungen der Unionsmitglieder sollten ihren Widerstand aufgeben, zu Unrecht befürchteten sie, daß die Kommission zu große Macht gewänne.

Zur Begründung seiner Forderung führte Piebalgs das Beispiel der slowakischen Regierung an, die am Standort Mochovce zwei neue Reaktoren errichten will, aber seit Juli 2007 auf eine Zusage der Kommission wartet. Das dauere so lange, weil nicht entschieden werden könne, nach welchen Maßgaben - denen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) oder denen, die allgemein als nützlich angesehen werden - vorzugehen sei. Bei einheitlichen Standards fiele die Entscheidung leichter, meinte Piebalgs.

Es trifft zwar zu, daß der Unterschied gravierend ist - die IAEA verlangt keine zusätzliche Ummantelung aus Beton und Stahl, wohingegen dies international als bestmöglicher Schutz für die Reaktoren gilt -, aber deswegen benötigt niemand die von der EU-Kommission angestrebte Kompetenzverlagerung. Das Problem könnte ja auch so gelöst werden, daß man die Standards der IAEA dahingehend verändert, daß künftig auch diese in Wien ansässige Organisation Beton-Stahl-Ummantelungen zur Pflicht erklärt ... von einer solchen Lösung des Widerspruchs geht Piebalgs natürlich nicht aus.

Eine weitreichende Vereinheitlichung müßte sich mit der Zeit allein schon aus den technischen Sicherheitserfordernissen einstellen. Wenn aber die EU-Kommission auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit und der Endlagerung radioaktiven Abfalls das Sagen hat, kann es geschehen, daß der höchst umstrittene Endlagerstandort Gorleben per Dekret aus Brüssel durchgesetzt wird und daß dann in Niedersachsen womöglich sogar auch aus anderen Ländern Nuklearmüll eingelagert wird. Diese Option wirkt nur auf den ersten Blick wenig wahrscheinlich. Bereits vor sechs Jahren hatte die damalige EU-Energiekommissarin Loyola de Palacio aus Spanien erstens mehr nukleare Kompetenzen ihrer Institution verlangt und zweitens erklärt, daß sie Gorleben als einen geeigneten Endlagerstandort für radioaktives Material nicht nur aus Deutschland betrachtet.

Zudem gibt es unter Experten eine Diskussion darüber, ob nicht internationale Endlager für radioaktives Material aus Gründen des globalen Umweltschutzes sinnvoller wären als viele einzelne Endlager. Gegenwärtig produzieren 15 der 27 EU-Mitgliedsländer Nuklearstrom in rund 150 Reaktoren. Es gibt eine Reihe von nationalen Endlagerkonzepten, häufig stößt die jeweilige Regierung auf Widerstand in der eigenen Bevölkerung.

EU-Kommissar Piebalgs hütet sich, zum gegenwärtigen Zeitpunkt über so brisante Themen wie die Standortfrage für radioaktive Endlager zu spekulieren. Denn er muß - noch - mit dem Widerstand auch der nationalen Regierungen rechnen. Mit jedem Schritt aber, den diese Kompetenzen nach Brüssel übertragen, werden sich ihre Möglichkeiten, Einfluß auf nukleare Sicherheitsfragen auszuüben, verringern.

Ein Endlagerstandort Gorleben per Dekret aus Brüssel steht zur Zeit nicht zur Debatte. Es könnte jedoch nach der nächsten Bundestagswahl zu einer Konstellation kommen, in der eine unionsgeführte Bundesregierung mit der EU-Kommission d'accord geht und sie gemeinsam den Endlagerstandort Gorleben gegen den Willen des Bundeslands Niedersachsen und gegen die Bevölkerung durchzusetzen versuchen.

26. Mai 2008