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ATOM/327: Strahlenunfall im französischen Akw Saint-Alban (SB)


Über den Irrtum der Behauptung "keine Gesundheitsgefahr"

15 Arbeiter lösten im französischen Kernkraftwerk bei Routinekontrolle Alarm aus


Radioaktive Strahlung sieht, schmeckt, hört und riecht man nicht. Auch vermag man sie nicht zu fühlen, sofern sie nicht besonders stark in Erscheinung tritt. Im heutigen Zeitalter der Nukleartechnologie könnte man es deshalb mit einiger Berechtigung als natürliches Defizit bezeichnen, daß den Menschen keinerlei Sinne offenbaren, ob sie einer radioaktiven Strahlung ausgesetzt sind oder nicht. Auch die gesundheitlichen Folgen einer radioaktiver Verstrahlung sind praktisch nicht festzustellen, es sei denn, es kam zu einer so starken Verstrahlung, daß sich bei einer Person akute Symptome wie Übelkeit und Mattigkeit oder gar Abschälen der Haut einstellen.

Am vergangenen Freitag wurden bei einem Unfall in dem französischen Kernkraftwerk Saint-Alban 15 Arbeiter radioaktiv verstrahlt. Der Vorfall ereignete sich bei Wartungsarbeiten, berichteten deutsche Medien unter Berufung auf die französische Tageszeitung "Le Figaro" vom 22. Juli 2008, die ihrerseits auf eine Meldung aus dem Lokalblatt "Le Dauphiné Libéré" zurückgegriffen hat. Die Gesundheit der Verstrahlten sei nicht geschädigt worden, behaupteten die Betreiber des bei Saint-Alban-du-Rhône im Département Isère, 50 Kilometer südlich von Lyon, gelegenen Meilers. Die Betroffenen erhielten demnach ein Hundertstel der jährlich erlaubten Dosis in Höhe von 20 Milli-Sievert. Nach einer gesundheitlichen Untersuchung innerhalb des Betriebs wurden die Betroffenen nach Hause geschickt und müssen auch nicht behandelt werden, so der französische Staatskonzern EDF (Électricité de France).

Nach den Bestimmungen in Deutschland wäre der Vorfall nicht meldepflichtig gewesen. Es kommt dies- und jenseits des Rheins regelmäßig zu solchen leichten Verstrahlungen. Dennoch, die Gewißheit, mit der in diesem und anderen Fällen Folgeschäden ausgeschlossen werden, mutet seltsam an. Sie gründet sich auf Statistik: Da die Strahlenbelastung der Personen gering war und bestimmte Grenzwerte nicht überschritten wurden, wird nicht davon ausgegangen, daß einer von ihnen gesundheitliche Schäden davonträgt.

Nun erlauben Statistiken prinzipiell keine Aussage zu Einzelereignissen. Es ist ein häufig begangener Irrtum, von Statistiken zurück auf Einzeldaten schließen zu wollen, auf denen sie beruhen. Das wird leicht ersichtlich, wenn man sich vor Augen hält, daß Statistiken im Grunde genommen Summen aus Tabellen mit vielen Einzelwerten sind. Ein Beispiel aus der Mathematik: Das Ergebnis "40" kann auf sehr viele Weise zustandekommen, eine einfache wäre 39 + 1. Wenn man aber nur die Zahl "40" kennt, weiß man nicht, was dahintersteckt, es könnte auch die Summe aus 38 + 1 + 1 gewesen sein.

Bezogen auf das Strahlenrisiko bedeutet dieses Bild, daß die Aussage, die Gesundheit der 15 Arbeiter sei nicht geschädigt worden, nicht zutrifft. Präzise wäre es zu sagen: Die Gesundheit der 15 Personen wurde vermutlich nicht geschädigt. Das klingt natürlich gar nicht gut, denn es offenbart die Unsicherheit der Nuklearexperten bei der Bewertung von Strahlenfolgen. Möglicherweise wollen selbst die Betroffenen es nicht so genau wissen. In diesem Fall hätte die Genauigkeit im Eingeständnis der Ungenauigkeit gelegen.

In wissenschaftlichen Experimenten wurde festgestellt, daß auch schwachradioaktive Strahlung die Gesundheit gefährden kann, weil, so lautet eine Vermutung, die Strahlung so schwach ist, daß sie die natürlichen Abwehrmechanismen des Körpers unterläuft. Dieser Vorstellung zufolge würde eine etwas stärkere Verstrahlung eher zu einer Beschädigung der Zelle führen, was den Abwehrapparat auf den Plan riefe. Die Folge: Die beschädigten Zellen würden entfernt, der Schaden damit behoben. Demgegenüber würde eine schwachradioaktive Strahlung keine sofortigen Schäden hervorrufen und somit auch keine Abwehr auslösen. Dennoch sei damit zu rechnen, daß es allmählich zu Beschädigungen des Zellgewebes kommt. Dann wäre es aber zu spät, das Abwehrsystem hätte keine Mittel an der Hand.

Zudem haben Wissenschaftler beobachtet, daß ein einziger Alpha-Zerfall eines beispielsweise über die Atemluft oder Nahrung aufgenommenen radioaktiven Partikels Krebs auslösen kann. Wohlgemerkt, auch das ist eine auf Statistiken beruhende Aussage. Niemand vermag vorauszusagen, ob oder wann ein solcher Fall eintritt. Das gilt selbstverständlich auch für die Bewertung der im Akw Saint-Alban verstrahlen Personen, die - statistisch gesehen - noch mal davongekommen sind.

23. Juli 2008