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ATOM/385: Verstrahlt und verschaukelt - Japans Bevölkerung wird Ordnungspolitik geopfert (SB)


Lage im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi spitzt sich zu

Regierung verschleppt Evakuierungsmaßnahmen


An einem Tag ist das Leitungswasser in Tokio so stark radioaktiv belastet, daß es für Babys ungenießbar war, am nächsten Tag wird Entwarnung gegeben. Bald darauf wird die nächste Hiobsbotschaft verbreitet, um kurz darauf wieder Hoffnung zu schüren. Durch das ständige Hin und Her in der Berichterstattung der japanischen Regierung und der Betreibergesellschaft Tepco über die Folgen der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wird die Bevölkerung in Unsicherheit gehalten und allmählich daran gewöhnt, mit einer radioaktiven Verstrahlung zu leben.

Wenn nun der japanische Regierungssprecher Yukio Edano der Bevölkerung im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern um die sechs havarierten Kraftwerksblöcke herum nahelegt, sich freiwillig aus der Region zu entfernen, aber umgekehrt beteuert, daß es sich um keine Evakuierungsanordnung handelt, dann drängt sich der Verdacht auf, daß die Regierung mehr Sorge um die Wahrung der öffentlichen Ordnung als um die Wahrung der Gesundheit der Bevölkerung hat. [1] Im übrigen wird die Region bereits nicht mehr ausreichend mit Lebensmitteln und anderen wichtigen Dingen des Lebens und Überlebens versorgt, da die Händler bzw. Lastwagenfahrer sich weigern, in die verstrahlte Zone zu fahren. [2] Auch aus diesem Grund bleibt den Einwohnern wohl kaum etwas anderes übrig, als die Evakuierungszone zu verlassen.

Zwar hat das Militär Waren in die Region geliefert, wie Edano erklärte, aber die Ungenauigkeit seiner Angaben läßt befürchten, daß die Versorgung mengenmäßig und zeitlich recht begrenzt war. Dieser letztlich von der Regierung verursachte Versorgungsmangel könnte demnächst als Begründung herhalten, um die gesamte 30-Kilometer-Zone zu räumen. Einen entsprechenden Schritt kündigte Edano bereits an, allerdings umschrieb er dies mit den Worten: Die Nukleare Sicherheitskommission Japans erwäge, ob eine Evakuierungsanordnung auf der Grundlage der Lebensumstände und nicht der Sicherheitsbedenken ausgesprochen werden soll. [1]

So wird von Tag zu Tag verschleiert, daß schon heute Teile Japans radioaktiv verstrahlt sind und die verstrahlte Zone wächst. Offensichtlich hat sich die Regierung nicht dem Schutz der Menschen, sondern der Sicherheit der öffentlichen Ordnung verpflichtet. Wer nach der jüngsten "Empfehlung" in der Strahlenzone bleibt, dürfte später, wenn sich bei ihm erste körperliche Strahlenschäden einstellen, bezichtigt werden, nicht auf die Regierung gehört zu haben. Eine Evakuierung wird behördlicherseits so lange wie möglich hinausgezögert, weil das eine Panik auslösen könnte. Die wäre dann nicht zu kontrollieren. Denn was geschähe, wenn die gesamte Bevölkerung Nordjapans nach Süden wanderte? Nicht einmal Tokio ist sicher, auch dessen Einwohner dürften verstrahlt werden - falls sie es noch nicht sind.

Seit zwei Wochen gibt das Akw Fukushima Daiichi Radioaktivität an die Umwelt ab. Insgesamt vier Wasserstoffexplosionen beschleunigten den Vorgang. Die schweren Strahlenschäden, die sich drei Arbeiter zuzogen, nachdem ihnen am Donnerstag im Turbinenhaus von Reaktor 3 Wasser um die Beine floß, lassen vermuten, daß der Druckbehälter defekt ist und hochgradig radioaktiv belastetes Wasser in die Umwelt gelangt. Auch in den Turbinenhäusern der Reaktoren 1 und 2 wurde stark verstrahltes Wasser nachgewiesen. [3]

Zur Erinnerung: Reaktor 3 ist derjenige Meiler, der mit MOX-Brennstäben bestückt ist. Das bedeutet, daß bereits die frisch eingebrachten Brennelemente stark strahlende Elemente wie Plutonium und andere Transurane enthielten. Plutonium zählt zu den gefährlichsten Stoffen der Welt. Es entsteht erst in Atomkraftwerken, natürlicherseits kommt es nicht vor.

Mit der Empfehlung der japanischen Regierung an die Einwohner einer Zone im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern um das Kernkraftwerk herum wegzugehen - ein 20-Kilometer-Umkreis wurde bereits evakuiert -, wird dieses Gebiet faktisch zu einer Art Todeszone erklärt. Die US-Regierung rät ihren Bürgern sogar dazu, sich dem havarierten Atomkraftwerk nicht mehr als bis auf 80 Kilometer zu nähern. Und das, nachdem erst zwei Wochen seit Beginn der Katastrophe verstrichen sind!

Sowohl die amerikanische als auch die japanische Regierung dürften in Kürze ihre Angaben korrigieren und die Schutzgebiete erweitern. Denn daß schon vor einigen Tagen eine Strahlung von 5,7 Mikrosievert pro Stunde in einer Entfernung von rund 58 Kilometern vom zerstörten Atomkraftwerk entfernt gemessen wurde, bedeutet, daß eine Person, die sich dort im Falle einer gleichbleibenden Strahlenbelastung sieben Tage aufhält, langfristig mit Gesundheitsschäden rechnen muß. [4] In sechs Präfekturen werden immer wieder die Grenzwerte der radioaktiven Belastung von Trinkwasser überschritten. Wer wollte in einer solchen Region wohnen bleiben?

Sollte auch nur in einem der sechs Reaktoren eine Kernschmelze eintreten, dann müßten die Arbeiter den Bereich verlassen oder sterben. Dann würde es wahrscheinlich auch in den fünf anderen Anlagen zu Kernschmelzen kommen, kündigt der japanische Nuklearexperte und Autor Hirose Takashi in der Online-Publikation Counterpunch an. [5] Und wenn das geschähe, drohe auch das in der Nähe stehende Atomkraftwerk Fukushima Daini mit seinen vier Reaktoren außer Kontrolle zu geraten. Die Chance, daß dieses Worst-case-Szenario eintritt, hält Takashi für "nicht gering". Ganz Japan würde in kurzer Zeit verstrahlt, sollte schließlich ein Taifun mit einer Windgeschwindigkeit von zwei Metern in der Sekunde über die vollends havarierten Reaktoren hinwegfahren und Richtung Süden blasen, so seine Befürchtung.

Der Stand der Entwicklung in dem Atomkraftwerk Fukushima I: In den Meilern 1, 2 und 3 ist die Kühlfunktion ausgefallen, es kam jeweils zu einer Teilschmelze der Brennelemente. Darüber hinaus ist auch die Kühlfunktion der Abklingbecken dieser drei Reaktoren sowie die des Abklingbeckens des Reaktors 4, in dem sämtliche Brennelemente aus diesem lagern, ausgefallen. In allen vier Reaktoren hat es Explosionen gegeben. Im Abklingbecken von Nr. 4 hat es gebrannt. Schwarzer Rauch aus Reaktor 3 läßt nun auf ein Leck im Containment, der letzten Schutzhülle gegen die Verbreitung der Strahlenpartikel, schließen. Experten sprechen bereits von einem Super-GAU, also einem außer Kontrolle geratenen Nuklearunfall.

Das Bundesamt für Strahlenschutz gab am Freitag bekannt, daß erstmals auch in Deutschland "Spuren von Radioaktivität in der Atmosphäre" gemessen wurden, "die aufgrund der Zusammensetzung der gemessenen Stoffe auf den Reaktorunfall in Fukushima in Japan zurückgeführt werden können". [6]

Bei zwei nach China eingereisten Japanern wurden "hohe radioaktive Werte" festgestellt, die "deutlich über dem Grenzwert" lagen. "Eine Gefahr für ihre Umwelt stellten die beiden jedoch nicht dar", schrieb Reuters. [7] Soll damit durch die Blume gesagt werden, daß die beiden zwar keine Gefahr für die Umwelt bilden, aber daß sie selbst einer gesundheitsgefährlich hohen Strahlendosis ausgesetzt wurden?

Werden künftig nicht nur verstrahlte Lebensmittel und andere Güter aus Japan aufgehalten, sondern auch Menschen? Wie würde die internationale Staatengemeinschaft reagieren, sollten demnächst viele Millionen verstrahlte Japaner ihr Heil in der Flucht suchen, weil das weiter oben von Hirose Takashi entworfene Worst-case-Szenario eingetreten ist? Werden die Menschen zurückgeschickt, weil das Strahlenproblem als nicht mehr bewältigbar angesehen wird? Das Angebot der russischen Regierung, die Japaner könnten nach Sibirien ziehen, denn dort sei genügend Platz, klingt mit jedem Tag, an dem Radioaktivität aus Fukushima entweicht, generöser.


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Anmerkungen:

[1] "Gov't asks people within 20-30 km of nuke plant to leave voluntarily", Kyodo News, 25. März 2011
http://english.kyodonews.jp/news/2011/03/80957.html

[2] "People may be urged to move further from nuclear plant for convenience", Kyodo News, 24. März 2011
http://english.kyodonews.jp/news/2011/03/80777.html

[3] "High-level radiation suspected to be leaking from No. 3 reactor's core", Kyodo News, 25. März
http://english.kyodonews.jp/news/2011/03/81048.html

[4] "Japan Hohe Radioaktivitätswerte außerhalb der Evakuierungszone", Zeit online, 21. März 2011
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-03/japan-akw-strahlung

[5] "What They're Covering Up at Fukushima", Hirose Takashi, Counterpunch, 22. März 2011
http://www.counterpunch.org/takashi03222011.html

[6] "Spuren von Radioaktivität in Deutschland stellen keine gesundheitliche Gefährdung dar", Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Pressemitteilung 003, 25. März 2011
http://www.bfs.de/de/bfs/presse/pr11/pm03.html

[7] "Lage in Fukushimas Reaktorblock 3 verschärft sich", Reuters, 25. März 2011
http://de.reuters.com/article/topNews/idDEBEE72O08I20110325

25. März 2011