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ATOM/388: Die Fukushima-Katastrophe - strahlungsfreie Nahrung demnächst nur für Reiche? (SB)


Gesellschaftliche Konsequenzen einer möglichen Verstrahlung der gesamten Erde werden weitgehend ausgeblendet


Die Zerstörung des japanischen Kernkraftwerks Fukushima I am 11. März 2011 durch ein Erdbeben mit anschließendem Tsunami könnte die Weltgesellschaft stärker verändern als die 9/11-Anschläge vor knapp zehn Jahren. Wurden damals mit dem Globalen Krieg gegen den Terror die rechtlichen und ethischen Wertmaßstäbe, die den Menschen zumindest formal Schutz vor der Obrigkeit boten, verschoben, so daß auch die jahrelange Verschleppung und Folter von Gefangenen durch die US-Administration und ihre ausländischen Handlanger als angeblich unverzichtbare Sicherheitsmaßnahme der Staatsorgane ausgewiesen wurden [1], könnte im Rahmen der auf unabsehbare Zeit laufenden Strahlenkatastrophe von Fukushima eine weitere Werteverschiebung hinsichtlich des administrativen Umgangs mit größeren Bevölkerungsteilen etabliert werden.

So hat die EU-Kommission bereits eine Eilverordnung erlassen und den "atomaren Notall" ausgerufen, der eine stärkere Kontrolle der Lebensmittelimporte aus Japan vorsieht; gleichzeitig werden aber die Grenzwerte der radioaktiven Belastung für ausgewählte Lebensmittel aus Japan hinaufgesetzt, wie das unabhängige Umweltinstitut München und die Verbraucherorganisation foodwatch diese Woche meldeten. [2]

So wie die aus Fukushima I freigesetzte Radioaktivität in den nächsten Wochen und Monaten zunehmen wird, muß damit gerechnet werden, daß auch entsprechende administrative Maßnahmen verhängt werden. Sollte der schlimmste Fall eintreten und sich ein Strahlenmantel um die Erde legen, würde die EU den "atomaren Notfall" auf weitere Länder ausdehnen und beispielsweise Rindfleisch aus Südkorea oder Getreide aus China strenger überwachen, bei gleichzeitigem Anheben der zulässigen Strahlenbelastung. Oder aber den Import ganz und gar verbieten.

Da andere Regierungen ähnlich reagieren, könnte ein globaler Wettkampf um die noch nicht verstrahlten landwirtschaftlichen Produkte einsetzen, und das in einem Ausmaß, gegenüber dem das sogenannte Land-Grabbing, bei dem seit einigen Jahren wohlhabendere Staaten vorzugsweise auf dem "Hungerkontinent" Afrika Agrarflächen kaufen oder pachten, um dort Pflanzen zur Produktion von Lebensmitteln oder Treibstoff anzubauen, wie Peanuts erscheint.

Eine weiträumigere Verstrahlung würde die gegenwärtig sowieso hohen Weltmarktpreise für Getreide weiter nach oben treiben, so daß die devisenstarken und militärisch schlagkräftigeren Staaten gegenüber den ärmeren Vorteile besäßen. Bei einer besonders schwerwiegenden globalen Verstrahlung, zu der es kommen könnte, sollten in dem Akw Fukushima I weitere Explosionen erfolgen, bei denen beispielsweise auch die tonnenschweren nuklearen Zwischenlager - verharmlosend Abklingbecken genannt -, verdampfen, würde unverstrahlte Nahrung vermutlich so knapp, daß es selbst in einer relativ reichen Gesellschaft wie der deutschen zu Versorgungsengpässen käme.

Vorstellbar ist, daß Treibhäuser den radioaktiven Fallout abhalten, und wenn dann noch aufwendige Filter installiert werden, könnte die Strahlung weitgehend aus dem Wasser und der Luft für die Pflanzen herausgehalten werden. Auf solche in relativ strahlungssicheren Treibhäusern erzeugte Nahrung hätten aber nicht alle Menschen gleichermaßen Zugriff. Sie wäre auf jeden Fall sehr teuer. Vielleicht wäre strahlungsfreie Nahrung zukünftig sogar nur in Spezialgeschäften erhältlich, während der Supermarkt um die Ecke radioaktiv kontaminierte Ware anbietet - selbstverständlich amtlicherseits als gesundheitlich unbedenklich attestiert. Irgendwann verschwänden auch die Spezialläden von der Bildfläche. Dann würde strahlungsfreie Ware nur noch über den Versandhandel abgewickelt, so daß mit dem Schließen dieser Läden noch mehr aus dem öffentlichen Blick geriete, daß es Privilegierte und Nicht-Privilegierte gibt.

Mit dieser Entwicklung ginge eine laufende Qualifizierung der administrativen Verfügungsgewalt einher. Die Eilentscheidung zur Ausrufung des atomaren Notfalls durch die EU-Kommission steht womöglich am Beginn eines solchen Trends. Sollten in den nächsten Wochen vermehrt wissenschaftliche Studienergebnisse veröffentlicht werden, denen zufolge Menschen angeblich eine höhere Strahlenbelastung schadlos überstehen, als Experten bislang vermuteten, wäre das als deutliches Indiz zu werten, daß diese bislang potentielle Entwicklung konkret wird. Solche Studien dienten dann den Behörden zur "Präzisierung" der Grenzwerte, was nichts anderes bedeutet, als daß sie hinaufgesetzt werden, um die Nahrungsversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten - und auf diese Weise natürlich auch die öffentliche Ordnung.

Als Folge einer weltweiten Ausbreitung der Radionukleotide aus Japan könnte die heutige Ausdifferenzierung der menschlichen Gesellschaft über Einkommen bzw. den Besitz von Geld irgendwann von direkteren Formen der Verfügungsgewalt abgelöst werden. Das wäre dann eine gesellschaftliche Ordnung, in der den Mitgliedern Nahrung unmittelbar zugeteilt wird - stark Verstrahltes für die Arbeitslosen und Sozialleistungsempfänger, weniger Verstrahltes für die Dienstleister, unteren Beamten und Kommunalpolitiker, kaum Verstrahltes für die wichtigeren Berufszweige (Unternehmer, Landes- und Bundespolitiker, Anwälte, Ärzte, Kulturschaffende) und Unverstrahltes für das allerhöchste Establishment.

Das klingt wie Science-fiction, doch die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung sind grundsätzlich durch die Vergesellschaftung des Menschen, die solche Herrschaftformen überhaupt erst ermöglicht, angelegt. Zudem findet beispielsweise in Deutschland bereits eine behördliche Zuteilung von Sachleistungen statt, wozu selbstverständlich auch ihre Verweigerung gehört, nämlich für Asylbewerber und Alg-II-Empfänger. Und in den USA sind rund 40 Millionen Menschen auf eine amtliche Nahrungsversorgung angewiesen und erhalten Lebensmittelmarken (food stamps). Das läuft für die Betroffenen auf eine Einschränkung der Verfügbarkeit bestimmter Waren hinaus - später dürften dazu auch unverstrahlte Lebensmittel gehören.

An der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide haben wir die Reichen und Superreichen, die sich schon heute sehr viel gesünder ernähren können als andere und mit der modernen Apparatemedizin und Pharmazie über Mittel der Gesunderhaltung und Lebensverlängerung verfügen, auf die ärmere Menschen nicht annähernd im gleichen Maße Zugriff haben. Außerdem haben die Reichen eher die Möglichkeit, aus radioaktiv kontaminierten Regionen wegzuziehen. Medienmogule wie Ted Turner erwerben sogar Ländereien, die einen besonderen Wert aufgrund ihrer hohen Biodiversität besitzen. Aus solchen biologischen Hot Spots könnten regelrechte Überlebensfluchträume werden, zumindest so lange, wie nicht die Erde gleichmäßig hochradioaktiv verstrahlt wird.

Heute leben viele Reiche in Gated Communities, um ihr Eigentum vor dem Zugriff anderer gewaltsam zu verteidigen, bzw. verteidigen zu lassen. Bei einer umfangreicheren Verstrahlung der Erde würde das bloße Einzäunen nicht genügen. Dann müßten Wohn- und Siedlungsformen entwickelt werden, wie sie tatsächlich in Science-fiction-Romanen vorgedacht wurden, nämlich überdachte Stadtviertel, Glaskuppelbauten und eben umfangreiche Treibhäuser für die Privilegierten.


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Anmerkungen:

[1] Wie sagte es doch sinngemäß der diese Werteverschiebung treffend verkörpernde TV-Held Jack Bauer aus der amerikanischen Serie "24", bevor er zur Folter des Schurken ansetzte? Ich hasse dich dafür, daß du mich zwingst, dir das anzutun.

[2] Näheres dazu unter dem Index: ATOM/387: EU beschließt "atomaren Notfall" - Bevölkerung soll an Strahlenlast gewöhnt werden (SB)

1. April 2011