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ATOM/406: Fukushima-Havarie - Tepco spielt aktuelle Kernspaltung herunter (SB)


Deutliche Hinweise auf aktuelle Kernspaltungsvorgänge im Akw Fukushima Daiichi


Der Imageschaden der Atomtechnologie durch den multiplen GAU im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi fiele noch beträchtlich größer aus, wenn nicht die japanische Regierung jede Hiobsbotschaft zu verharmlosen versuchte und in Watte verpackte. Dadurch ist der Eindruck entstanden, daß die Havarie gebändigt, der Schaden überschaubar und die Ursache ein Schicksalsschlag sei. Wie grausam muß es jedoch für die Bevölkerung sein, nicht über die realen Strahlengefahren informiert zu werden und vor allem nicht ausreichend vor radioaktiven Kontaminationen geschützt zu sein.

Der Nachweis von Xenon-133 und -135, die eine sehr kurze Halbwertszeit haben, am Dienstag und Mittwoch im Reaktor 2 von Fukushima Daiichi deutet auf einen aktuellen Kernspaltungsvorgang und wirft sofort die Frage auf, ob es zu einer unkontrollierten nuklearen Kettenreaktion kommen kann und ob davon nicht auch die anderen Reaktoren und Abklingbecken für Brennstäbe in dem Akw einbezogen werden könnten. Zumal die teils weitgehend zerstörten Reaktoren nach wie vor einsturzgefährdet sind und die Region immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird.

Doch Junichi Matsumoto, Sprecher des Akw-Betreiberunternehmens Tepco (Tokyo Electric Power Co) wiegelt ab. Es sei lediglich zu einer "spontanen" Spaltung gekommen, nicht zu einem "kritischen" Vorgang. [1] Unternehmenssprecherin Chie Hosoda ergänzt, daß die Xenon-Konzentration nur ein Zehntausendstel dessen betragen habe, was bei einer kritischen Reaktion zu erwarten gewesen wäre.

Worauf sich die Zuversicht der Angestellten des Nuklearkonzerns gründet, ist unklar - sieht man einmal davon ab, daß es ihr Job ist, so zu reden. Bislang weiß man wenig, was sich im Innern der Reaktoren abspielt, und ist auf Mutmaßungen auf der Basis der Meßergebnisse einiger technischer Geräte anwiesen. Auf jeden Fall belegt der Xenon-Nachweis, daß die Kernschmelze nicht zum Stillstand gekommen ist. Ausgerechnet jene "Spontaneität", die der Nuklearexperte Matsumoto der "Kritikalität" gegenüberstellt, ist Ausdruck der Unsicherheit, steht doch ein spontanes Ereignis typischerweise am Beginn einer nuklearen Kettenreaktion.

Die schwammige Wortwahl der Tepco-Vertreter deckt sich mit den verschleiernden Begriffen, die seit Beginn der Katastrophe von der japanischen Regierung verbreitet werden. "Wir glauben, daß dies kein Fall von Kritikalität ist", erklärte nun Hosoda, die damit offenläßt, daß sie sich auch getäuscht haben könnte.

Unsicherheit herrscht zudem über den genauen Zeitpunkt vor, an dem das Akw Fukushima außer Kontrolle geraten ist. Womöglich ereignete sich die Katastrophe nicht wegen der außergewöhnlichen Umstände, bei dem ein besonders schweres Erdbeben und ein besonders hoher Tsunami aufeinanderfolgten, dem das Akw dann nicht mehr gewachsen war (was man bei so viel "Besonderheit" selbstverständlich anerkennen muß ...), sondern bereits in der rund einen Stunde zwischen Erdbeben und Eintreffen des Tsunamis. Da in Japan und nicht nur dort eine ganze Reihe von Atomkraftwerken in erdbebengefährdeten Gebieten aufgestellt sind, haben die Betreibergesellschaft und die Regierung wiederholt die vermeintliche Sondersituation der Katastrophe betont.

Vor kurzem vertrat ein internationales Wissenschaftlerteam unter Leitung des norwegischen Instituts für Luftuntersuchung (Nilu) in der Fachzeitschrift "Atmospheric Chemistry and Physics" [2] zwei für die Atomlobby in Japan unbequeme Thesen: Erstens havarierte das Akw Fukushima Daiichi möglicherweise bereits vor dem Tsunami, und zweitens könnte bei der Katastrophe doppelt so viel Radioaktivität in die Umwelt entwichen sein, wie die Regierung behauptet.

Darüber hinaus beschreibt ein aktueller Bericht [3] des staatlichen französischen Strahlenschutzinstituts IRSN (Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléair) die Verseuchung des Meeres laut einem Bericht der taz [4] als "wichtigste Punkteinlagerung künstlicher Radionukleide, die jemals in der marinen Umgebung beobachtet wurde".

Die allgemeine Berichterstattung über die anhaltende Fukushima-Katastrophe ist sicherlich auch deshalb abgeflaut, weil mit dem NATO-Krieg gegen Gaddafi-Libyen und den schweren finanzpolitischen und wirtschaftlichen Erschütterungen im Euro-Raum zwei hochbrisante Entwicklungen die nukleare Verseuchung Japans als weniger bedeutend erscheinen lassen. Das ist sie für die Betroffenen vor Ort jedoch nicht. In den nächsten Jahren, teils vielleicht erst in Jahrzehnten, wird man anhand der Gesundheitsstatistiken ablesen können, was man eigentlich schon heute weiß: Es müßten viel mehr Menschen aus den Hot Spots evakuiert werden; die Reinigungsarbeiten sind unter Hochdruck voranzutreiben; die medizinische Versorgung der Strahlenopfer ist zu verbessern. Darüber hinaus sollte Japan schnellstens aus der Atomenergie aussteigen.

Die Atomenergie ist weder ökonomisch noch ökologisch alternativlos. Aber sie bietet natürlich eine Reihe von Vorwänden, beispielsweise für die Etablierung einer zentralistischen Energieversorgung, die a) den Konzernen hohe Einnahmen in die Kassen spült und b) durch die die administrative Verfügungsgewalt qualifiziert wird - abgesehen davon, daß die Beherrschung der Atomtechnologie Voraussetzung für den Bau einer eigenen Atombombe ist, was von jeher die Begehrlichkeiten der Militärs geweckt hat.


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Fußnoten:

[1] http://www.terradaily.com/reports/No_uncontrolled_reaction_at_Fukushima_operator_999.html

[2] http://www.atmos-chem-phys-discuss.net/11/28319/2011/acpd-11-28319-2011.pdf

[3] http://www.irsn.fr/FR/Actualites_presse/Actualites/Documents/IRSN-NI-Impact_accident_Fukushima_sur_milieu_marin_11072011.pdf

[4] http://taz.de/Strahlung-in-und-um-Fukushima/!81157/

3. November 2011