Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION


ATOM/429: Waldbrände vor Tschernobyl gestoppt - dennoch erhöhte Strahlengefahr? (SB)


Akw-Ruine Tschernobyl bleibt Permanentgefahr für ganz Europa


Die schweren Waldbrände in der Ukraine konnten offenbar rechtzeitig gestoppt werden, bevor sie das Kernkraftwerk Tschernobyl erreichten. Die Feuer waren vor wenigen Tagen rund 20 Kilometer vom Nuklearstandort entfernt aus bislang unbekannter Ursache ausgebrochen und hatten sich ihm auf breiter Front genähert. 400 Hektar Wald wurden Opfer der Flammen. Die Brände halten sich nicht an die Sperrzone von Tschernobyl, im Gegenteil. Dort finden sie besonders viel Unterholz als Brennstoff.

Das Worst-case-Szenario hätte sicherlich darin bestanden, wenn die Brände über den Akw-Standort hinweggezogen wären und daraufhin der marode Sarkophag zusammengestürzt wäre. Kaum weniger verheerend als solch ein "Tschernobyl-GAU Nummer 2" wären die Folgen gewesen, wenn "nur" die gesamte Infrastruktur zur Vorbereitung des Baus einer weiteren Betonummantelung um den alten, maroden Sarkophag beschädigt worden wäre. Auch dann wären mit dem Rauch radioaktive Aerosole aufgewirbelt und vom Wind davongetragen worden.

Diese Gefahr scheint nun gebannt, eine andere dagegen droht weiterhin. Die als Sperrgebiet ausgewiesene, 3000 Quadratkilometer große, waldreiche Umgebung des havarierten Reaktors, in die der Waldbrand vorgedrungen war, wurde durch die Explosions- und Brandwolke nach dem GAU am 26. April 1986 teilweise stärker verstrahlt als das Akw-Gelände selbst.

Die radioaktiv kontaminierten Bäume sind gefällt und am Ort gelagert worden. Würden sie vom Feuer erfaßt, gelangten große Mengen an Strahlenpartikeln in die Atmosphäre. Auch wenn Isotope wie Strontium-90 und Cäsium-137 Halbwertszeiten von rund 28 bzw. 30 Jahren haben und inzwischen schon zur Hälfte zerfallen sind, bildet der Rest noch immer eine erhöhte Strahlengefahr. Zumal mit Plutonium-239 ein Bestandteil des Fallouts vorliegt, der eine Halbwertszeit von über 24.000 Jahren aufweist. Erst nach zehn Halbwertszeiten gilt ein kontaminiertes Gebiet als strahlungsfrei bzw. bedenkenlos betretbar.

Durch einen Waldbrand würden nicht nur die mit den gefällten Bäumen und dem Laub verbundenen Radionuklide aufgewirbelt, auch jüngere Bäume, Sträucher, Gräser und Pilze können die mit den Niederschlägen in den Boden eingebrachten Strahlenpartikel an die Oberfläche transportieren, so daß sie im Falle eines Waldbrands davongeweht werden. Ähnlich wie die ursprüngliche Strahlenwolke aus dem Tschernobyl-GAU auch über große Teile West- und Norddeutschlands hinwegzog, können sich die Rauchaerosole aus einem Waldbrand, je nach Windrichtung, beispielsweise in Richtung Deutschland auf den Weg machen. Das gilt im übrigen nicht nur für Waldbrände in der Ukraine, sondern auch für die in den Fallout-Regionen Weißrußlands und Rußlands.

Genau davor hat vor kurzem eine Wissenschaftlergruppe um Nikolaos Evangeliou vom Norwegischen Institut für Atmosphärenforschung gewarnt. Die Forscher hatten anhand von Satellitenaufnahmen Waldbrände aus den Jahren 2002, 2008 und 2010 untersucht und festgestellt, daß dabei Radionuklide aus der Sperrzone mit dem Wind bis nach Italien, Skandinavien und in die Türkei getragen wurden. "Zusammen entsprach die freigesetzte Menge von Cäsium-137 etwa acht Prozent des Fallouts unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe", schrieben die Forscher laut der Website Scinexx.de. [1]

Durch diese Brände sei die durchschnittliche Strahlenbelastung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew um rund zehn Millisievert gestiegen, was einem Prozent der erlaubten Jahresdosis entspricht. Die Forscher machten darauf aufmerksam, daß durch die Remobilisation der Radionuklide selbst Pflanzen und Waldpilze außerhalb der Sperrzone Strahlenpartikel aufnehmen. Menschen, die kontaminierte Nahrung essen, erhöhen damit unter anderem ihr Krebsrisiko.

Durch den Klimawandel verändert sich die Region um Tschernobyl, es wird trockener. Um so häufiger und intensiver werden Waldbrände auftreten. Die Folgen der - zusammen mit dem Dreifach-GAU 2011 in Fukushima - schwersten Katastrophe der zivilen Nutzung der Atomenergie sind noch lange nicht bewältigt. So sind Wildschweine in Deutschland fast 20mal so stark verstrahlt wie der zulässige Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm. [2]

Es gäbe sicherlich andere Gründe, den Verzehr von Wildschweinfleisch zu meiden, die hohe Strahlenbelastung fast drei Jahrzehnte nach dem Tschernobyl-Unglück ist jedoch einer davon. Am Mittwoch fand in London eine Geberkonferenz zur Finanzierung der neuen Betonabdeckung für den zerstörten Reaktor 3 von Tschernobyl statt. Der hier im Westen jahrelang erzeugte Eindruck, daß nur russische Reaktoren havarieren und man nun Unsummen dafür bezahlen müsse, kann seit dem Dreifach-GAU im japanischen Nuklearkomplex Fukushima Daiichi nicht aufrechterhalten werden. Atomenergie ist gefährlich und wäre eigentlich unbezahlbar, wenn die Schadenskosten nicht der Gesellschaft aufgedrückt würden.


Fußnoten:

[1] http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-18558-2015-02-12.html

[2] http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article139797061/Geheimsache-radioaktiv-verstrahlte-Wildsaeue.html

29. April 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang