Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION


ATOM/459: Reaktorwirtschaftsneustart - soziale Folgen der Zukunft ... (SB)



Durch die Coronaviruspandemie werden absehbar große Teile der Wirtschaft neu organisiert. Nun versucht sich eine Lobbyorganisation der Atomenergie, die französische Gesellschaft für Kernenergie (SFEN), zu positionieren, um nach der Krise auf der Seite der Gewinner zu stehen. Die Institution schlägt den Bau von weiteren sechs Akws in Frankreich vor. Das würde die heimische Wirtschaft insgesamt beleben, heißt es in einem vor kurzem erschienenen Positionspapier. [1]

Unterschlagen wird jedoch, daß die "Belebung der Wirtschaft" zu Lasten sowohl der Bevölkerung in den Uranabbaugebieten Nigers erfolgt, die dort seit jeher in Armut lebt, als auch zukünftiger Generationen, denen das Erbe der Strahlenlast aufgedrückt wird.

Laut der Website world-nuclear.org generiert Frankreich rund 17 Prozent seiner elektrischen Energie durch wiederaufbereitete Brennelemente und recyceltes Plutonium. [2] Bei der Behauptung, durch die Wiederaufbereitung die Menge an Nuklearabfall zu verringern, wird vernachlässigt, daß dadurch erst große Mengen an Transuranen wie beispielsweise Plutonium entstehen, die zu schützen und aufzubewahren ungleich mehr Sicherheitsaufwand erfordert, als sowieso schon für unbenutzte und abgebrannte Uranbrennstäbe notwendig ist.

Frankreich deckt seinen elektrischen Strombedarf zu rund 75 Prozent durch seine 57 Atomkraftwerke ab. Laut Beschluß der französischen Regierung soll dieser Anteil bis 2035 auf 50 Prozent verringert werden. SFEN versucht offenbar, die Atombranche vor dem schleichenden Niedergang zu retten. So greift die Gesellschaft mit ihrem Vorschlag die Anfrage des französischen Umwelt- und des Wirtschaftsministeriums vom Oktober 2019 an den Betreiber EDF zum Erstellen einer Studie für den Bau von drei Akws zu je zwei Meilern auf.

Aufgrund der Pandemie, die in Frankreich einen schweren Verlauf genommen hat, hofft man, einerseits an den milliardenschweren Finanzspritzen, die Frankreichs Regierung zur Belebung der Wirtschaft angekündigt hat, zu partizipieren. Begründet wird dies unter anderem damit, daß die Kernenergie angeblich alle drei Kriterien, die von der Regierung für die Erholung der Wirtschaft aufgestellt worden seien, erfüllt: Investitionen sollten klimafreundlich und resilient sein und hoheitliche Industrien fördern. Andererseits strebt die SFEN an, daß von den jährlich vier Milliarden Euro, die der staatliche Stromkonzern EDF ab 2008 in dem Grand Carénage genannten Investitionsprogramm aufgelegt hat, nicht nur die bestehenden 57 Akws im Land, sondern auch der Akw-Neubau gefördert werden sollten.

Des weiteren möchte die SFEN an die im Januar dieses Jahres vom französischen Umweltministerium aufgelegte Initiative "pluriannuelle de l'énergie" über die Zukunft der Energieversorgung von 2019 bis 2028, zu der öffentliche Anhörungen stattfinden, ankoppeln. Das Auflegen eines Programms zum Bau neuer Kernreaktoren sei eine effektive Maßnahme zur wirtschaftlichen und sozialen Erholung ab 2021, heißt es. Die Atomindustrie sei bereit, ihren Teil an dieser Aufgabe zu mobilisieren.

Mit der Normandy (Akw Penly), Hauts de France (Gravelines) und Auvergne Rhône-Alpes stünden drei Regionen für den Bau von jeweils zwei Meilern bereit. Die jährlichen Investitionskosten beliefen sich auf zwei Milliarden Euro. Für erneuerbare Energien dagegen würden fünf Milliarden Euro an staatlichen Zuschüssen pro Jahr veranschlagt.

Von den vielen haarsträubenden Vergleichen der SFEN sei nur eben dieser aufgegriffen und es sei darauf verwiesen, daß mit erneuerbaren Energieträgern bereits vom ersten Jahr ihrer Installation an elektrischer Strom produziert wird und daß ihr Anteil am Strommix von Jahr zu Jahr wächst. Wohingegen für den Bau eines Atomkraftwerks Jahre verstreichen, ohne daß auch nur eine einzige Kilowattstunde Strom produziert würde. Im Gegenteil, zunächst einmal würde Energie verbraucht, sogar sehr viel Energie, denn Zement, Edelstahl, Eisen, die Urananreicherung und vieles mehr erfordert den Einsatz riesiger Mengen an Energie.

Nimmt man den seit 2008 im Aufbau befindlichen Europäischen Druckwasserreaktor EPR am Standort Flamanville als Beispiel, der frühestens 2023 und damit elf Jahre später als geplant fertiggestellt werden soll, würde ein, sagen wir "optimistisch", bereits im kommenden Jahr begonnener Akw-Neubau nicht vor dem Jahr 2036 abgeschlossen sein. Da sich die Baukosten des EPR Flamanville voraussichtlich auf 12,4 Mrd. Euro belaufen werden, was fast dem Vierfachen der ursprünglichen Summe entspricht, müßte der französische Fiskus auch bei jedem weiteren Neubau mit solchen Kostenexplosionen rechnen, auch wenn SFEN verheißt, daß die Kosten gesenkt werden könnten.

Angenommen, im Jahr 2036 wäre es dann soweit, daß die sechs neuen EPR-Meiler ihren kommerziellen Betrieb aufnehmen. Eine Energiewende hätte bis dahin nicht stattgefunden, Frankreich wäre weiterhin von Uranimporten abhängig und hätte auf eine Technologie gesetzt, die in Zeiten des Klimawandels kaum noch zu gebrauchen ist. Ausgerechnet während der Hitzewelle 2019, als das Land große Energiemengen zur Kühlung benötigte, mußten in Frankreich Akws abgeschaltet werden, weil nicht mehr ausreichend kaltes Kühlwasser zur Verfügung stand. Betroffen waren zwei Reaktoren des Akw Central Golfech, zwei des Akw Saint-Alban im Département Isère und einer im Akw Bugey im Département Ain. Weitere Akws mußten gedrosselt werden.

Die Klimaprojektionen gehen von häufigeren, intensiveren und längeren Hitzewellen in Westeuropa aus. Allein deshalb sind Akws, die erst in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts ihren Betrieb aufnehmen, nicht zukunftstauglich.

Weil vom Standpunkt der Profiteure der vorherrschenden Gesellschaftsordnung ein Menschenleben in den Uranabbaugebieten beispielsweise Nigers keinen Wert hat und die Atomindustrie auch nicht für die medizinische Behandlung von Erkrankten aufkommen muß, erscheint die Nuklearenergie in den Berechnungen der SFEN vorteilhaft. Ebenfalls keinen Eingang in die Berechnungen der Wirtschaftlichkeit gefunden haben die Kosten der Atomenergie für zukünftige Generationen, denen das strahlende Erbe aufgedrückt wird. Eine Wahl, ob sie das toxische Erbe annehmen wollen, wird ihnen nicht gelassen.

SFEN wirbt damit, daß Akws dazu beitragen könnten, das europäische Klimaschutzziel, bis 2050 netto keine Treibhausgase zu emittieren, zu erreichen. Diese Spekulation erweist sich bei genauerer Betrachtung als haltlos. Wie oben erwähnt, würden die Akw-Neubauten die Hälfte der Zeit bis 2050 Energie benötigen. Es würden also Treibhausgase in einer Zeit produziert, in der es darauf ankommt, rasche Erfolge zu erzielen. Die nächsten zehn Jahre dürften entscheidend sein, wie die Weichen gestellt werden. Zusätzliche Treibhausgasemissionen (nicht nur in Frankreich allein) könnten die globale Erwärmung über ein oder mehrere Schwellenwerte in den Natursystemen heben. Dann würden Entwicklungen angestoßen, die für eine sehr lange Zeit nicht mehr zu stoppen sein werden. Diese Gefahr ist real, in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten wäre sie da.

Naheliegend wäre zum Beispiel ein Abschmelzen des Westantarktischen Eisschilds und auch der Verlust des grönländischen Eispanzers. Beides würde das globale Klima durcheinanderwirbeln und einen beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels einleiten, der am Ende acht bis neun Meter höher läge als heute. Auch wenn bis zum kompletten Eisverlust eher in Jahrhunderten als in Jahrzehnten gerechnet wird, stellt der Weg dorthin die Menschheit schon vor gewaltige Probleme. Beispielsweise müßten küstennahe Atomkraftwerke zurückgebaut werden. Wie die schwere Nuklearkatastrophe 2011 im japanischen Akw Fukushima Daiichi gezeigt hat, sind solche am Meer gelegenen Anlagen auch in der heutigen Zeit bereits durch Überflutungen gefährdet.


Fußnoten:

[1] https://new.sfen.org/wp-content/uploads/2020/05/SFEN-Avis-Le-nouveau-nucl%C3%A9aire-doit-faire-partie-du-plan-de-relance-de-l%E2%80%99%C3%A9conomie-fran%C3%A7aise-2.pdf

[2] https://www.world-nuclear.org/information-library/country-profiles/countries-a-f/france.aspx

19. Mai 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang