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INTERVIEW/002: Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, zu Fukushima (SB)


Dr. Sebastian Pflugbeil, Gesellschaft für Strahlenschutz, auf der Pressekonferenz zu Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung in Japan am 15. August 2011 - Foto: © Xanthe Hall / IPPNW

Dr. Sebastian Pflugbeil, Gesellschaft für Strahlenschutz,
auf der Pressekonferenz zu Gefahren für die
Gesundheit der Bevölkerung in Japan am 15. August 2011
Foto: © Xanthe Hall / IPPNW

Telefoninterview mit Sebastian Pflugbeil am 19. August 2011 zur Fukushima-Katastrophe

Als am 11. März dieses Jahres das japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi von einem schweren Erdbeben und anschließenden Tsunami in weiten Teilen zerstört wurde, herrschte im In- und Ausland große Unsicherheit über die aktuelle Lage und die weitere Entwicklung vor. Nach wenigen Tagen des Schreckens gewann jedoch allmählich das Wunschdenken die Oberhand, daß das, was von Menschenhand geschaffen, auch durch Menschenhand wieder in den Griff zu bekommen sei.

Der Physiker Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, zählte von Anfang an zu den Mahnern, sprach bereits zu einer Zeit von einem Super-GAU in dem aus sechs Atommeilern und den ihnen zugeordneten Abklingbecken bestehenden Nuklearkomplex, als die japanische Regierung und die verantwortliche Betreibergesellschaft Tepco dies noch nicht anerkannten, und forderte eine Ausweitung der Evakuierungszone. Am vergangenen Freitag befragte der Schattenblick den Nuklearexperten zur aktuellen Lage in Fukushima und den Bemühungen der Bürgerinitiative CRMS (Citizens' Radioactivity Measuring Station), in allen 47 Präfekturen des Landes Stationen zur Messung der radioaktiven Verstrahlung von Lebensmitteln, anderen Waren und Personen einzurichten.


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Schattenblick: Sie haben am Montag, den 15. August, gemeinsam mit japanischen Vertretern der Bürgerinitiative CRMS - Citizens' Radioactivity Measuring Station - an einer Pressekonferenz im IALANA-Hauptstadtgebäude in Berlin teilgenommen. Könnten Sie unsere Leserschaft darüber in den Stand setzen, was diese Initiative vorhat und warum?

Sebastian Pflugbeil: Das ist eine Initiative aus der japanischen Stadt Fukushima, wo vor kurzem die erste von Bürgern betriebene Meßstelle für Radioaktivität eröffnet wurde. Das wurde notwendig, weil die Betreiber des havarierten Kernkraftwerks Fukushima Daiichi und auch der Staat nur ungenügend über die Lage informieren. Es werden sogar Wissenschaftler in die Region geschickt, welche die ganze Problematik verharmlosen sollen. Also kümmern sich die Bürger selber darum und haben sich Meßgeräte besorgt. Frau Aya Marumori und Herr Wataru Iwata waren nach Berlin gereist, weil sie auf der Suche nach Know-how sind und sich über Erfahrungen mit solchen bürgerbetriebenen Meßstellen erkundigen wollten. Solche waren auch in Deutschland in großem Umfang nach der Tschernobyl-Katastrophe eingerichtet worden. Wenn die Meßstelle in Fukushima über längere Zeit kontinuierlich arbeiten soll, dann entstehen laufende Kosten wie Gehälter oder Miete. Das übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der japanischen Bürgerinitiative. Da wollen wir versuchen zu helfen. Ich hoffe nun auf eine gute Zusammenarbeit.

SB: Wie zuverlässig sind eigentlich solche Strahlenmessungen? Angenommen, es würde im Eingangsbereich einer Schule in Fukushima keine erhöhte Radioaktivität gemessen und Entwarnung gegeben - kann es sein, daß in nur wenigen Metern Entfernung sehr wohl höhere Strahlenwerte meßbar wären?

SP: Speziell Schulen wurden besonders kontrolliert und einige auch zu dekontaminieren versucht. Das hat zweifellos die Situation etwas verbessert, aber auf den Schulhöfen, draußen in der Umgebung, kann man ernsthaft nichts an der Situation ändern. Da müßte man schon Böden austauschen und ähnliche Dinge machen. Das ist überhaupt nicht lösbar bei einem so großen kontaminierten Gebiet.

Die Bürgerinitiative hat das Ziel, im Laufe der Zeit in jeder der 47 Präfekturen Japans mindestens eine Meßstation aufzubauen. Ob das gelingt, wird auch davon abhängen, inwiefern dafür finanzielle Unterstützung in Japan und im Ausland mobil gemacht werden kann. Die Meßgeräte sind teuer, und man braucht entsprechend mehr ausgebildete Leute, die sich damit auskennen. Das ist also ein anspruchsvolles Ziel. Aber solange sich der Betreiber und die japanische Regierung sich so verhalten, wie sie es tun, ist das das einzige, was die Bürger machen können. Wir begrüßen das sehr.

SB: Existieren außerhalb der Haupt-Evakuierungszone noch immer sogenannte Hotspots, wie sie einst nach dem Tschernobyl-GAU als "Todeszone" bezeichnet wurden?

SP: Es liegen immer nur punktuelle Angaben vor. Zum Beispiel war mehr als 200 Kilometer südwestlich des Akw Fukushima eine ziemlich hohe Kontamination von Teeplantagen festgestellt worden. Die sind nur einen Steinwurf weit von Tokio entfernt. Auch in den Randbereichen der japanischen Hauptstadt wurden Strahlenwerte gemessen, die von der Größenordnung her denen in der Tschernobyl-Sperrzone entsprechen. Das ist beunruhigend. Leider lassen die bisher veröffentlichten Werte noch kein geschlossenes Bild zu. Es fehlt eine sorgfältige Kartierung. Die Regierung ist offenbar überfordert, das jetzt zu machen. Wobei man in Betracht ziehen muß, daß zur gleichen Zeit die Folgen des Tsunamis noch nicht beseitigt sind. Das erschwert natürlich die Situation immens.

SB: Zeigen die Einwohner in den Regionen mit radioaktivem Fallout bereits sichtbare Anzeichen von Verstrahlungen?

SP: Es gibt schon Beschwerden bei Kindern, die Schilddrüsenprobleme haben. Außerdem bekommen sie Nasenbluten, das nur schwer zu stillen ist. Es handelt sich um kein gewöhnliches Nasenbluten, wie das jeder mal gehabt hat, sondern es ist penetranter. Da platzen die kleinen Blutgefäße. Man kennt das Phänomen sowohl aus Atomtestgebieten als auch von der Tschernobyl-Katastrophe. Solche Dinge passieren jetzt, und es ist zu befürchten, daß in den nächsten Monaten eine erhöhte Säuglingssterblichkeit oder eine Zunahme von Behinderungen bei neugeborenen Kindern deutlich werden. Down-Syndrom war ja auch präzise neun Monate nach dem Fallout von Tschernobyl in Berlin und in Belorußland festgestellt worden. Ich befürchte, daß das in den nähergelegenen Gebieten um Fukushima auch der Fall sein wird.

SB: Wie gehen die Behörden damit um, wenn ein solcher Hotspot entdeckt wird? Was wird dann gemacht, wird das Gebiet evakuiert?

SP: Es gibt offiziell ausgewiesene Evakuierungsgebiete. Wer von dort wegzieht, erhält dafür eine gewisse finanzielle Unterstützung, was aber noch keiner Entschädigung gleichkommt. Allerdings weitet die Regierung diese Gebiete nur sehr zögerlich aus. Wenn also Bewohner aus anderen Bereichen wegziehen, die noch nicht als offizielle Evakuierungszone anerkannt sind, aber ebenso hohe Strahlenbelastungen aufweisen, müssen sie das aus eigener Tasche bezahlen und erhalten keinen Pfennig Unterstützung. Deshalb macht das praktisch niemand.

SB: Was wäre Ihrer Meinung nach vom Standpunkt eines uneingeschränkten Gesundheitsschutzes im Sinne der Bevölkerung als Maßnahme geboten?

SP: Man müßte das Gebiet wirklich flächendeckend vermessen, entsprechende Karten anlegen und dann sehr wahrscheinlich diese Evakuierungsgebiete ausdehnen und den Menschen helfen, da wegzukommen. Das praktisch umzusetzen ist schwierig angesichts der Nachwirkungen des Tsunamis. Vor allem müßte man die Lebensmittel in Japan flächendeckend kontrollieren, was sehr aufwendig und teuer ist. Anscheinend überfordert das die Regierung. Lebensmittel werden auf lange Zeit, das heißt für einige Jahre, die wesentliche Strahlenbelastung liefern. Deshalb muß man sie unbedingt kontrollieren. Der einzige Weg, der sich im Moment abzeichnet, ist, daß die Bürger das selber in die Hand nehmen.

SB: Werden solche Bürgerinitiativen vom Staat unterstützt?

SP: Unterstützung kommt da überhaupt keine. Wir können froh sein, wenn die nicht stark unter Druck gesetzt werden. Im Moment läßt man sie machen, es gibt ja nur diese eine Station. Wie das in Zukunft läuft, hängt auch ein bißchen davon ab, wie die Leute von der Bürgerinitiative von Fukushima Kontakt ins Ausland aufbauen. Wenn dort bekannt wird, daß von immer mehr Meßstellen solide Daten kommen und die dann auch noch von japanischen Bürgern, die sich um ihre Nahrungsmittel kümmern, abgefragt werden, dürfte es schwierig werden, den Leuten den Hahn abzudrehen. Das wird der Staat akzeptieren müssen.

SB: Das erweckt ein bißchen den Eindruck, als ob die Menschen teilweise von ihrer Regierung im Stich gelassen werden, dann die Initiative in die Hand nehmen, um herauszufinden, wie stark radioaktiv belastet ihre Lebensmittel sind und wo noch überall Verstrahlungen auftreten, und dann bei ihrem Engagement noch nicht einmal unterstützt werden. Woran könnte das liegen? Ist eine Regierung nicht eigentlich verantwortlich für ihre Bürger?

SP: Theoretisch ja, das ist aber kein rein japanisches Problem. In Deutschland würde es ganz genauso laufen. Das Problem ist mit der Kernenergienutzung verbunden. Kernkraftwerke kann man nur betreiben, wenn man die Bevölkerung beschummelt, und das passiert insbesondere nach solchen Katastrophen massiv. Das ist ja in Deutschland auch nicht anderes gewesen nach Tschernobyl.

Ältere Semester dürften sich noch daran erinnern, wie konfus damals die Regierungsäußerungen waren, egal ob das in der DDR war oder in der Bundesrepublik West, die haben sich da nicht viel genommen. Aus der Situation nach Tschernobyl wurde damals in Deutschland der Schluß gezogen, daß man solche unabhängigen Meßstellen nicht noch einmal haben wollte. Die einzigen Meßwerte, die bei der nächsten Katastrophe in Deutschland der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben werden, stammen vom Bundesamt für Strahlenschutz als Organ des Umweltministeriums. Es wird eine Art Monopol für Informationen in solchen Katastrophensituationen entstehen - wie das in der DDR auch war. Das hat den bundesrepublikanischen Behörden gefallen, wie das damals in der DDR lief. Bloß bestand die Folge darin, daß dort so gut wie überhaupt keine Informationen bekanntgegeben wurden. Weder gab es unabhängige Meßstellen noch lieferte die Regierung Informationen. Deshalb braucht man solche unabhängigen Bürgerkontrollen dringend.

SB: Geben die japanischen Medien, die sogenannte vierte Gewalt im Staate, den Strahlenopfern eine Stimme?

SP: Ich hoffe, daß das passiert, aber die Japaner sind sehr technikgläubig. Jahrzehntelang wurden sie atomfreundlich erzogen. Erst jetzt nach Fukushima fängt die Stimmung ein bißchen an zu bröckeln. Viele aus der sogenannten Intelligentia fangen an, nachdenklich zu werden. Bei den Bürgern wächst der Unmut über die unzulängliche Informationspolitik der Regierung. Aber, wie gesagt, diese Entwicklung hat gerade erst angefangen. Die Zahl derjenigen, die der Kernenergienutzung wirklich kritisch gegenüberstehen, ist überschaubar.

SB: In den hiesigen Medien wurde berichtet, daß in Japan ein großer Run auf den Reis aus dem vergangenen Jahr und aus der Zeit vor der Fukushima-Katastrophe eingesetzt hat. Sind Sie darüber informiert, ob es vielleicht schon zwei Preiskategorien gibt für garantiert unverstrahlte Lebensmittel und möglicherweise verstrahlte Lebensmittel?

SP: Das weiß ich nicht, aber es liegt nahe, daß so etwas passiert. Die Reisernte steht unmittelbar bevor und es treffen die ersten Nachrichten ein, daß bestimmte Reisfelder nicht geerntet werden dürfen. Man macht sich große Sorgen wegen der Versorgung. Reis ist ja ein Grundnahrungsmittel in Japan, eine Verstrahlung könnte also richtig ins Kontor hauen. Einen Überblick darüber gibt es aber noch nicht.

SB: Wie bewerten Sie die Anhebung der radioaktiven Grenzwerte für japanische Kinder auf nunmehr 20 Millisievert im Jahr, was den Grenzwerten der internationalen Strahlenschutzkommission für Nukleararbeiter entspricht?

SP: Das spottet jeder Beschreibung! Kinder sind die strahlenempfindlichsten Menschen, die man sich vorstellen kann, und da jetzt die zulässige Strahlendosis auf das 20fache anzuheben, das ist einfach völlig unverständlich. Man macht das, weil man ansonsten im Herbstschuljahr eine ganze Reihe von Schulen nicht hätte wiedereröffnen können. Also hat man das Problem kurzerhand auf diese Weise gelöst. Wir treffen hier auf eine typische Verhaltensweise bei solchen Unfällen: Da werden die Grenzwerte eben so festgelegt, wie man es meint, gerade noch einhalten zu können. Wenn man die Grenzwerte irgendwann nicht mehr einhalten kann, legt man kurzerhand neu fest. Die Anhebung ist völlig indiskutabel!

SB: Die Arbeiter in Atomkraftwerken sind ja wohl kaum strahlenresistenter als normale Erwachsene. Muß man da nicht zu dem Schluß kommen, daß die Grenzwerte für Nukleararbeiter, die ja deutlich höher liegen als bei anderen Erwachsenen, nur deshalb so hoch liegen, weil sonst niemand mehr in Atomkraftwerken arbeiten könnte?

SP: Ja, das ist schon richtig. Allerdings werden die Nukleararbeiter bei der Einstellung sorgfältig ärztlich durchgecheckt. Davon kann man ausgehen, hoffe ich zumindest. Es handelt sich um gesunde Personen, was man bei der Normalbevölkerung im Querschnitt nicht so einfach sagen kann. Da gibt es eben auch kranke, junge, Kinder, Alte, die andere Strahlenrisiken haben als erwachsene junge Männer. Dennoch, das ist auch so ein Punkt, der eigentlich nicht gerechtfertigt ist. Wenn man die Strahlengrenzwerte für Nukleararbeiter senken würde, müßten die Betreiber der Kernkraftwerke mehr Personal einstellen, welche die gleiche Arbeit und damit auch die Strahlenbelastung untereinander aufteilt.

SB: Das würde aber teurer werden.

SP: Das würde teurer werden, und unterm Strich bliebe die Anzahl der dadurch verursachten Krebsfälle wahrscheinlich gleich groß wie bei der gegenwärtigen Praxis.

SB: Treffen die Medienberichte bzw. Gerüchte zu, wonach Tepco, die Betreibergesellschaft des havarierten Atomkraftwerks, unqualifizierte Arbeiter, ärmere Menschen oder womöglich gar Obdachlose für die Aufräumarbeiten nach dem GAU eingesetzt hat oder noch einsetzt?

SP: Vieles spricht dafür. Leider wird das auch in westeuropäischen Ländern praktiziert. Für Reinigungsarbeiten und bestimmte Arbeiten während der Wartungsphasen werden Fremdarbeiter eingesetzt, die nicht zur Stammbelegschaft des Kernkraftwerks gehören. Wenn die ihre Dosis voll haben, nimmt man die nächsten und schickt erstere wieder nach Hause. Das ist ziemlich beunruhigend. Darüber hinaus bleiben die Dokumentationen über diese Leute eher dürftig. Es ist ganz schwierig, darüber etwas herauszufinden. Aber praktiziert wird das eindeutig in Frankreich, in Deutschland und sicher auch in anderen europäischen Ländern. Das ist der einzige Weg, um die hochqualifizierte und teure Belegschaft der Kernkraftwerke vor strahlenbelastenden Routinearbeiten zu schützen. Dafür holt man sich einfach die Leute vom Arbeitsamt!

SB: Wie kann man sich als Laie eine Kernschmelze vorstellen? Ist das ein Brand, der sich immer mehr "Nahrung" aus seiner Umgebung holt? Wann oder wo würde so eine Kernschmelze enden?

SP: Wenn in einem Kernkraftwerk die Kühlung aussetzt und das Wasser um die in der Regel mit angereichertem Uran befüllten Metallrohre verschwindet, heizen sich diese Stäbe so auf, daß die Hüllen zerstört werden und der radioaktive Inhalt freigesetzt wird. Der erhitzt sich dann so sehr, daß das Kernbrennmaterial schmilzt und runtertropft. Wenn es sehr heiß ist, frißt sich das durch den Stahlbehälter des Kernkraftwerks und anschließend auch durch den den Beton hindurch und kommt irgendwann mit dem Grundwasser in Berührung. Das ist der Alptraum der Reaktorbauer. Wenn das flüssige, glühende Metall mit Wasser in Berührung kommt, gibt es eine Dampfexplosion, die den Rest des Kernkraftwerks zerlegt. Das ist der Lehrbuchablauf für eine Kernschmelze. In Fukushima ist die Entwicklung offensichtlich so weit fortgeschritten, daß die Reaktordruckbehälter aus Stahl durchgefressen sind. Wie das jetzt weitergeht, weiß niemand, da kann man nur spekulieren.

SB: In den hiesigen Medien wird der Eindruck erweckt, daß der Fukushima-GAU eigentlich schon vorbei ist. Als ob im wesentlichen nur noch aufgeräumt werden müsse. Kann man also Entwarnung geben?

SP: Überhaupt nicht, es wird weiter improvisiert. Erst vor wenigen Tagen wurden horrende Dosisleistungen gemeldet. Zehn Sievert pro Stunde! Das ist unvorstellbar hoch. Man weiß nicht, wie das zustandekommt, und es ist schwierig, sich den verstrahlten Stellen zu nähern. Man verfügt nicht einemal über die geeigneten Meßgeräte für so hohe Dosisbereiche, was ein Skandal ist. Die Meßgeräte hören bei zehn Sievert pro Stunde auf. Wie stark die Verstrahlung an diesen Stellen wirklich war, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Möglicherweise lag sie wesentlich höher.

SB: Existieren solche Meßgeräte nicht, oder hat Tepco sie einfach nicht eingesetzt?

SP: Tepco hat sie offenbar nicht. Dabei hätte das Unternehmen nach Tschernobyl wissen können, daß solche extremen Strahlenbelastungen insbesondere in der Nähe von Kernkraftwerken und im Inneren der Gebäude zu erwarten sind. Die Russen haben damals geeignete Meßverfahren dafür entwickelt. Inzwischen ist genug Zeit verstrichen, daß in jedem Kernkraftwerk solche Geräte verfügbar sein könnten. In Japan gab es sie offenbar nicht, und ich bin mir nicht sicher, was für Deutschland gilt.

SB: Ende März haben das Umweltinstitut München und die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch von einer EU-Eilverordnung berichtet, derzufolge zwar die Lebensmittelimporte aus Japan stärker kontrolliert, aber zugleich die zulässigen Grenzwerte für Lebensmittelimporte aus Japan hinaufgesetzt werden sollten. Teilen Sie die Einschätzung von EU-Gesundheitskommissar John Dalli, wonach die Menschen in Europa durch diese Maßnahme potentiell keiner höheren Strahlenbelastung als zuvor ausgesetzt werden?

SP: Wenn das stimmen würde, dann hätte man diese Verordnung nicht in Gang setzen müssen.

SB: Richtig.

SP: Diese Schubladenverordnung war nach Tschernobyl für den Fall einer nächsten Kernkraftwerkskatastrophe entworfen worden. Da hat man nicht an Japan gedacht, sondern an den europäischen Raum. Nach Tschernobyl war in Westeuropa relativ viel Gemüse wegen der Strahlenbelastung vernichtet worden, und es entstanden Handelsprobleme. Diese wirtschaftlichen Probleme wollte man bei der nächsten Panne dadurch in den Griff bekommen, daß man einfach die Grenzwerte hochgesetzt hat, so daß gar keine Veranlassung mehr bestand, Nahrungsmittel zu vernichten.

Von der Sache her ist das natürlich fatal, weil dabei überhaupt nicht an die Gesundheit der Bevölkerung gedacht wird. Es wird beschlossen, daß die Bevölkerung von dem Moment an, wo diese Verordnung in Kraft gesetzt wird, Nahrungsmittel im Handel vorfinden kann, die um ein Vielfaches höher belastet sind, als das vorher üblich war. Das halte ich für sehr fragwürdig. Und jetzt so eine Verordnung in Gang zu setzen bei einem Unfall in Japan für die aus Japan nach Deutschland importierten Lebensmittel, dafür besteht überhaupt kein Grund. Es fällt uns doch hier kein Zacken aus der Krone, wenn wir ein paar Wochen keine japanischen Lebensmittel essen. Das ist nur ein ganz geringer Anteil in dem Lebensmittelwarenkorb, und man fragt sich, was in den Köpfen dieser Leute vorgeht.

SB: Das Bundesamt für Strahlenschutz versuchte ebenfalls, der Kritik an der Verhängung der Eilverordnung entgegenzutreten und erklärte, daß im Fall eines atomaren Unfalls die Höchstwerte an radioaktiver Belastung bis zu einer Grenze angehoben würden, die übers Jahr gerechnet noch als gesundheitlich vertretbar gelten. Möchten Sie, Herr Pflugbeil, etwas verzehren, das "übers Jahr gerechnet" "noch vertretbar" ist?

SP: Das ist vertretbar gerechnet für die Wirtschaft, aber doch nicht für die Gesundheit. Wir entwickeln zur Zeit Kriterien, was für die Gesundheit an radioaktiver Belastung vertretbar ist. Diese Nach-Tschernobyl-Grenzen, die jetzt nach Fukushima für die aus Japan importierten Lebensmittel gelten, sehen beispielsweise 500 Becquerel Cäsium 137 pro Kilogramm Lebensmittel vor. Wir haben aber ausgerechnet, daß, wenn man als Meßlatte nimmt, was in der deutschen Strahlenschutzverordnung für die Bevölkerung in der Umgebung von Kernkraftwerken ohne Panne festgelegt ist, Lebensmittel nicht mehr als vier Becquerel Cäsium 137 pro Kilogramm über einen längeren Zeitraum enthalten dürfen. Zwischen diesen beiden Werten liegen zwei Zehnerpotenzen. Das Festlegen von hohen Grenzwerten, wie das jetzt gemacht wurde, ist faktisch ein Beschluß von oben darüber, wieviele Tote und Kranke man zu billigen bereit ist. Das darf keine Behörde machen, keine Regierung darf so etwas festlegen. Das muß mit der Bevölkerung ausgehandelt werden.

SB: Sehen Sie da Parallelen zwischen dem Verhalten der EU-Administration zu dem der japanischen Regierung im Umgang mit Atomkraft und radioaktiven Strahlenbelastungen?

SP: Ja das ist international überall ähnlich. Das liegt nicht an den lokalen Regierungen oder an der Europäischen Kommission, sondern an den Kernkraftwerken. Wenn man Kernkraftwerke betreibt, dann ist man mehr oder weniger gezwungen, solche unpopulären Maßnahmen zu ergreifen, um sich irgendwie durchzuwurschteln. Aber das geht eindeutig auf Kosten der betroffenen Bevölkerung. Die ist einem erhöhten Erkrankungs- und Sterberisiko ausgesetzt. Zudem ist sie von wirtschaftlichen Verlusten bedroht, denn sie hat keinerlei Chance, irgendwelche Versicherungen für sich in Anspruch zu nehmen, da die sich zwar als empfehlenswert verkaufen, aber im Kleingedruckten stehen haben: Unsere Versicherung gilt nicht für Atomkatastrophen. Der ganze wirtschaftliche, materielle und gesundheitliche Schaden bleibt an der Bevölkerung hängen. Das einzige, was ungeschoren bleibt, ist die Wirtschaft.

SB: Vielen Dank, Herr Pflugbeil, für das ausführliche Gespräch.

22. August 2011