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INTERVIEW/001: Sérgio Dialetachi, brasilianischer Energieexperte, zum Bau des Akw Angra 3 (SB)


Telefoninterview mit dem brasilianischen Energieexperten Sérgio Dialetachi am 8. Juli 2011

Sérgio Dialetachi - © 2011 by Regine Richter

Sérgio Dialetachi
© 2011 by Regine Richter

Brasilien verfügt über zwei kommerziell betriebene Atomkraftwerke. Der Druckwasserreaktor Angra 1 mit einer installierten elektrischen Leistung von 626 MW ging 1982 ans Netz, Angra 2 (1275 MW) folgte im Jahr 2000. Seit 1975 bestehen Pläne zum Bau eines dritten Reaktors, doch wurde das Projekt 1986 nach nur zwei Jahren Bauzeit abgebrochen. Die bereits erworbenen Technologie für Angra 3 liegt eingemottet in einer Halle und erfordert jährlich rund vierzehn Millionen Euro Lagerkosten.

Ein Vierteljahrhundert später hat der brasilianische Präsident Luiz Inázio Lula da Silva das Projekt wieder angeschoben. Angra 3 soll zu Ende gebaut werden, und die deutsche Bundesregierung könnte daran maßgeblichen Anteil haben. Denn sie hat einen Grundsatzentscheid zur Gewährung einer Hermes-Bürgschaft in Höhe von 1,3 Mrd. Euro getroffen und muß noch darüber befinden, ob die Bürgschaft zurückgezogen oder genehmigt werden soll.

Vergangene Woche war der Energieexperte und Atomkraftgegner Sérgio Dialetachi aus Brasilien nach Berlin gereist, um die Kampagne der Nichtregierungsorganisation urgewald für eine Rücknahme der Hermes-Bürgschaft zu unterstützen. Der Schattenblick führte am Freitag, dem 8. Juli 2011, ein Telefoninterview mit Herrn Dialetachi. Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte durch die SB-Redaktion.


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Schattenblick: Würden Sie unseren Leserinnen und Lesern kurz die Atompolitik Ihrer Regierung darstellen und erklären, warum Ihrer Ansicht nach das Atomkraftwerk Angra 3 nicht weitergebaut werden sollte?

Sérgio Dialetachi: Brasilien braucht keine Kernenergie. Die vorhandenen beiden Meiler decken nicht einmal drei Prozent unserer gesamten elektrischen Energieerzeugung ab. Angra 3 brächte nur rund 1,2 Prozent mehr. Es wäre also eine riesige Investition für einen ziemlich geringen Anteil an der Stromproduktion.

Wir haben drei Hauptprobleme mit Angra 3. Das erste betrifft den radioaktiven Abfall, für den es in Brasilien keine Lösung gibt. Es existiert hier nicht einmal ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente. Die werden zur Zeit in Becken innerhalb des Reaktorkomplexes untergebracht und erreichen ihre Füllgrenze. Das Problem kommt also in Zukunft auf uns zu. Zudem liegt kein offizieller Endlagerplan vor. Es wird zwar behauptet, daß ein nukleares Endlager gebaut werden soll, aber bis heute wird weder über Genehmigungen verhandelt noch sind der Öffentlichkeit Namen des geplanten Endlagerstandorts noch irgendwelche geologischen Erkundungen bekannt. Auch wurden keine öffentlichen Anhörungen durchgeführt - nichts dergleichen, bis heute nicht. Es würde somit viele Jahre dauern, um das Problem zu lösen.

SB: Ja.

SD: Das zweite Problem betrifft die Finanzierung von Angra 3. Die jüngste Kostenabschätzung, die im April veröffentlicht wurde, lautet, daß das Kraftwerk zehn Milliarden Reais, das sind rund 4,7 Milliarden Euro, kosten wird. Unserer nationalen Entwicklungsbank, der BNDES, wurde gestattet, einen Teil davon zu finanzieren - ich glaube, es sind 4,3 Milliarden Reais, also knapp 1,7 Milliarden Euro -, und wir haben natürlich herauszufinden versucht, woher der Rest der Gelder stammen soll.

Es gibt ein innerbrasilianisches Ringen um Gelder zwischen der BNDES, privaten Initiativen und privaten Banken. Sie alle sind an der Fußball-Weltmeisterschaft, den Olympischen Spielen und der Infrastruktur für die Agrarwirtschaft beteiligt. Brasilien hat das wirklich dringende Problem, Straßen, Häfen und Flughäfen für die Agrowirtschaft zu bauen, das hat Priorität. Deshalb muß das Geld für Angra 3 von außerhalb kommen. Da gibt es nun Paribas sowie Société Générale in Frankreich. Beide warten auf die deutsche Position hinsichtlich der Hermes-Bürgschaften und wollen wissen, wie die Deutschen mit Kernkraftwerken außerhalb ihrer Landesgrenzen umgehen werden.

SB: Ja.

SD: Das dritte Problem betrifft die Evakuierungsmaßnahmen, den Notfallplan. Es ist schwer zu verstehen, wie allein in Angra dos Reis 150.000 Einwohner evakuiert werden sollen. Von den anderen Städten in der Umgebung ganz zu schweigen. Der aktuelle Evakuierungsplan Brasiliens gilt nur für einen Umkreis von fünf Kilometern um den Standort herum. Eigentlich betrifft er nur das Dorf, in dem die Kernenergieingenieure wohnen. Sie evakuieren also faktisch nur ihre eigenen Leute.

SB: Das ist deutlich.

SD: Aber inzwischen hat sich unsere Situation in Brasilien erheblich verbessert. So hat vergangene Woche der frühere brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso an seinem achtzigsten Geburtstag eine Rede gehalten und auf die Frage, was zu seinen größten Sorgen um das Land zähle, geantwortet, daß ohne eine breite Zustimmung so viel Geld in den Bau von Angra 3 gesteckt wird. Es wurden zwar Anhörungen abgehalten, aber die fanden in kleinen Dörfern mit rund hundert Fischern statt und ähnliche Dinge mehr. Er forderte eine breitere Diskussion über das Nuklearprogramm.

Nach der Zeit der Militärdiktatur wurde eine Bilanz der Auslandsschulden Brasiliens aufgestellt. Ein Drittel entfiel auf die Nuklearenergie. Und wo wir schon beim Thema Schulden sind: Die größte Tageszeitung, Folha de São Paulo, brachte am Sonntag die Schlagzeile, daß unsere Auslandsschulden in den letzten beiden Jahren um 43 Prozent gestiegen sind! Angesichts solcher Zahlen dürfte es ebenfalls schwierig werden, im Ausland Finanzmittel aufzutreiben.

Wie Sie vielleicht wissen, steht BNDES unter gehörigem Druck wegen ihrer Beteiligung an einigen trickreichen Geschäften mit Supermärkten, beispielsweise mit Carrefour, das eine Supermarktkette in Brasilien übernehmen will. Zudem ist BNDES unter Druck geraten, weil die Öffentlichkeit keine gute Meinung davon hat, wie die Bank mit Steuergeldern umgeht und worin sie investiert. BNDES finanziert auch schmutzige Projekte in Afrika und anderen lateinamerikanischen Ländern, Projekte, die in Brasilien wegen der gesetzlichen Bestimmungen niemals finanziert würden. Die Bank tätigt also Geschäfte im Ausland, die wir hier bei uns nicht haben wollen! Das erinnert an unsere Klagen über das, was die Weltbank mit uns gemacht hat. Und nun betreiben wir die gleichen üblichen Geschäfte mit anderen Ländern: Nur nach Profiten streben, ohne sich beispielsweise um Umwelt- oder soziale Standards zu scheren.

SB: Sie verwiesen bei der Frage der Finanzierung von Angra 3 auf die Hermes-Bürgschaften. Hat die deutsche Bundesregierung in irgendeiner Weise auf die Proteste Ihrer Kampagne reagiert?

SD: Wir haben unter anderem mit einigen Vertretern auf mittlerer Ebene des Bundeswirtschaftsministerium gesprochen. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, daß sie unseren Forderungen gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Man muß begreifen, daß es Probleme beim Bau von Angra 3 geben wird. Beispielsweise hat am vergangenen Dienstag die nationale brasilianische Anwaltsvereinigung OAB - Ordem dos Advogados do Brasil -, die über großen Einfluß verfügt und an den bedeutendsten politischen Momenten unserer jüngeren Geschichte beteiligt war, das Oberste Gericht aufgefordert, den Bau von Angra 3 zu stoppen. Begründet wurde die Klage damit, daß das Projekt nicht auf das Jahr 1975 als Anlage von Electronuclear zurückgeht, sondern daß es vor mehr als 20 Jahren endete und deshalb inzwischen den Bestimmungen der 1988 beschlossenen Verfassung unterworfen ist. Die verlangt, daß in Brasilien jedes einzelne Nuklearprojekt vom Nationalkongreß abgesegnet werden muß.

SB: Okay.

SD: Falls das Oberste Gericht der Klage stattgibt, bedeutet das, daß allein für die parlamentarischen Debatten weitere zwei bis drei Jahre verstreichen werden. Es wird also Verzögerungen geben. Ich erinnere mich, daß für die Fertigstellung von Angra 2, das exakt das gleiche Modell wie Angra 3 ist, rund zwanzig Jahre gebraucht wurden. Es wird also Probleme geben, und vielleicht werden die Steuerzahler in Deutschland einen Teil der Rechnung bezahlen.

Gruppenbild mit Dialetachi beim Besuch der grünen Bundestagsabgeordneten Ute Koczy - © 2011 by Regine Richter

Sérgio Dialetachi (rechts) beim Besuch der Bundestagsabgeordneten
der Grünen Ute Koczy in Brasilien © 2011 by Regine Richter

SB: Welche Unternehmen sind hauptsächlich am Bau von Angra 3 beteiligt?

SD: Im wesentlichen ist das ein deutsches Unternehmen, Siemens, mittels Areva. Offiziell behaupten alle, Siemens sei nicht mehr daran beteiligt, aber etwas anderes sagt der Direktor Arevas in Rio de Janeiro, der Deutsche Johannes Höbart, der für Siemens arbeitet. Ihn habe ich viele Male bei Diskussionen über die Förderung von Nuklearenergie in Brasilien getroffen.

SB: Wie steht die brasilianische Öffentlichkeit zur Atomenergie? Hat sich die Einstellung nach dem Nuklearunfall im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi gewandelt?

SD: Ja. Es wurde eine weltweite Meinungsumfrage durchgeführt von Global Wing, das ist ein Zusammenschluß von Meinungsforschungsinstituten wie Gallup, Ernst & Young und anderen. An der Umfrage nahmen Institute aus 47 Ländern teil. In allen wurden die gleichen Fragen gestellt. In Brasilien sprachen sich 54 Prozent der Befragten gegen die Nutzung der Nuklearenergie aus. Das bedeutet, daß selbst die bestehenden Atomkraftwerke geschlossen werden müssen. Die Menschen wollen kein einziges Kernkraftwerk in Brasilien. 57 Prozent der Brasilianer machen sich Sorgen darüber, daß es am Nuklearstandort in Angra dos Reis zu einem Unfall kommen könnte. 41 Prozent unserer Bevölkerung haben kein Vertrauen in die Sicherheitsmaßnahmen, die von den offiziellen Institutionen ergriffen wurden.

SB: Vor dem Unfall in Fukushima behauptete Ihr früherer Präsident Lula da Silva, in Brasilien werde es niemals einen Unfall wie in Tschernobyl geben. Beharrt er noch immer auf seiner Meinung?

SD: Wir hatten einige Atomkraftwerksunfälle. So wurden im vergangenen Jahr sechs Arbeiter im Innern eines Reaktorgebäudes verstrahlt. Es handelte sich nicht um technisches Personal, sondern um geringbezahlte Personen, die beim Putzen im Reaktorgebäude aufgrund einer Art Bedienfehler kontaminiert wurden. Die Strahlendosis war zwar gering, aber das Beispiel zeigt, daß es Probleme gibt. Ich erinnere mich, daß in den neunziger Jahren Angra 1 aufgrund einer richterlicher Anweisung wegen mangelhafter Sicherheitmaßnahmen für ein ganzes Jahr nicht laufen durfte.

Unsere Hauptbefürchtung ist nicht, daß der Angra-Standort durch Erdbeben zerstört wird, denn die gibt es in Brasilien nicht, oder durch einen Tsunami. Aber wir sorgen uns wegen der schweren Regenfälle, weil das Gelände bereits zweimal von Überschwemmungen betroffen war. Und die Straßen, die für den Fall einer Evakuierung gebraucht würden - beispielsweise Rio-santos, die Straße, die nach Rio de Janeiro City führt -, sie war im Januar sechs Mal blockiert und jedes Mal für zwei oder drei Tage. Stellen Sie sich vor, sie haben einen Unfall oder eine Notfallsituation während des Sommers im Januar, wenn sich abgesehen von den 150.000 Einwohnern weitere 400.000 Touristen in der Gegend aufhalten. Die ist ein Touristenziel mit vielen Ferieneinrichtungen, großen Hotels und dreihundert Inseln rundherum. Selbst wenn als Antwort auf unsere Aktionen hier in Deutschland die Straße verbreitert wird, wäre es immer noch sehr schwierig, unverzüglich jeden Einwohner und Touristen zu mobilisieren und die Stadt innerhalb weniger Stunden zu evakuieren.

SB: Wie einflußreich ist die Anti-Atombewegung in Brasilien, kann man sie mit den europäischen vergleichen?

SD: Nein, das würde ich nicht sagen. Man darf sich nichts vormachen, in Brasilien herrscht gewissermaßen ein Mangel an Kritikbereitschaft vor. Die Brasilianer träumen zur Zeit davon, daß es dem Land besser geht mit einer starken Wirtschaft, jeder oder jede erhält Geld, die Wirtschaft floriert, das Land entwickelt sich. Die Brasilianer sind zur Zeit ein wenig abgehoben beziehungsweise auf die Probleme, die auf sie zukommen, nicht ansprechbar.

Aber nach Fukushima kam es zu einem Wiedererstarken der Anti-Atombewegung. Wie ich schon sagte, sprach Fernando Henrique Cardoso von seiner Sorge, Abgeordnete brachten Gesetzesvorschläge ein, und ich habe den Eindruck, daß auch die Presse das Thema inzwischen anders behandelt. Es gibt ein Wiedererstarken, aber derzeit kann in Brasilien für überhaupt kein Thema mobilisiert werden, nicht einmal für Gesundheit, Bildung, Sicherheit im Straßenverkehr oder gegen Gewalt. Im Augenblick wäre es in Brasilien schwierig, Tausende von Teilnehmern für eine Demonstration zusammenzubekommen.

Aber im vergangenen Monat kam es in der kleinen Stadt Caetité im Zentrum des Bundesstaats Bahia, dem Standort einer Uranmine, zu einer beispiellosen Demonstration von Bauern. Die einfachen Leute aus dem gesamten Bergbaugebiet kamen zusammen und begaben sich zu der Straße, welche die Stadt mit der Landeshauptstadt Salvador verbindet und blockierten sie. Dadurch wurde ein Atommüllkonvoi aufgehalten, der sich auf dem Weg zur Mine befand. Das bedeutet, daß radioaktives Material von anderen Bundesstaaten in die Bergbauregion gebracht wird, um es dort zu lagern. Die Bauern versammelten sich also auf der Straße und blockierten sie für drei oder vier Tage, bis sie mit dem Betreiber der Mine eine Einigung erzielten. Nun hat selbst unsere nationale Umweltbehörde eine Klage gegen den Betreiber eingereicht, da dieser, wie die Kläger behaupten, nicht die Bedingungen der Einigung erfüllt hat.

Ein weiteres Problem: Die ganze Nuklearwirtschaft wird in einem unsicheren Umfeld betrieben. Beispielsweise liegt für Angra 2 keine ordnungsgemäße Betriebsgenehmigung vor. Das Atomkraftwerk wurde die ganze Zeit mit einer provisorischen Genehmigung betrieben. Die sollte nicht mehr als einmal verlängert werden, doch wurde sie Jahr für Jahr auf illegale Weise erneuert. Das gleiche geschah in der Bergbauregion von Bahia. Der Minenbetreiber dort steht im Bundesstaat Bahia, was gerichtliche Klagen betrifft, einsam an der Spitze. Kein anderes Unternehmen hat so viele Klagen auf sich gezogen.

Wir hegen den Verdacht, daß einige Stellen radioaktiv verseucht sind und Arbeiter kontaminiert wurden. Darüber hinaus haben wir festgestellt, daß in einigen Gebieten das Grundwasser und das Erdreich radioaktiv belastet sind. Das wurde von unabhängigen Instituten wie zum Beispiel Universitäten bestätigt. In Brasilien gibt es also viele Probleme. Beispielsweise wird Yellow Cake zwecks Anreicherung nach Kanada gebracht und auch zu Urenco in Europa. Es wird durch Salvador transportiert, eine Stadt mit zweieinhalb Millionen Einwohnern. Das wäre so, als wenn man mit einer Ladung radioaktiven Materials quer durch Berlin fahren würde.

SB: Die brasilianische Regierung begründet den Weiterbau von Angra 3 mit der Notwendigkeit, die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Landes fortsetzen zu wollen. Was halten Sie von dem Argument und welche alternativen Energiequellen schlagen Sie vor?

SD: Nun, sprechen wir über die Notwendigkeit von Angra 3 und das Nuklearprogramm. Unserer Meinung nach handelt es sich um ein Projekt der Hegemonie. Man will Stärke demonstrieren. Angra 3 wird nur gebaut, um den Umfang der künftigen brasilianischen Industrie zu rechtfertigen. Um die Expansion des Bergbaus zu begründen, wird eine Fabrik für Ultrazentrifugen, wird eine Anreicherungsanlage, errichtet. Für brasilianische Verhältnisse ist das eine riesige Investition. Um das alles zu rechtfertigen, setzt man bestimmte Dimensionen voraus. Wenn es hingegen nur um die Belieferung von zwei Kernreaktoren mit Brennstoff ginge, bräuchten wir diese ganze nukleare Infrastruktur in Brasilien nicht. Wir könnten so fortfahren wie bisher und unser Uran exportieren.

Es geht hier jedoch um Stärke, um das Ringen nach Macht, verbunden mit der Frage nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Es ist somit eigentlich ein regional-hegemonisches Projekt. Man will zeigen, daß Brasilien eine Führungsmacht und ein Schwergewicht ist. Nicht um die Bombe zu bauen, aber um nahe an die dafür erforderliche Technologie heranzukommen. Ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Der heutige Präsident von Elektronuclear, Admiral Othon Luiz Pinheiro da Silva, war der Vater unseres geheimen militärischen Nuklearprogramms während der Militärdiktatur. Er ist derjenige, der die Bombe in Brasilien entwickelt hat. Er hat das Testgebiet im Bundesstaat Pará aufgebaut - der Skandal wurde vor 20 Jahren entdeckt. Nun leitet er die beiden Atomkraftwerke in Angra dos Reis.

Hinter der gesamten Forschung auf diesem Gebiet steckt die brasilianische Marine, sie hat auch den Anreicherungsprozeß entwickelt. Gegenwärtig betreibt sie keinen Reaktor, doch nach Angra 3 hatte sie den Bau von acht weiteren Reaktoren geplant. Die Marine hat die neuen Reaktoren entwickelt, sie steckt hinter der Nuklearforschung, nicht die Universitäten, nicht zivile Einrichtungen. Und erneut haben wir es mit einem Mangel an Transparenz und Geheimhaltung zu tun, wie man es von der Nuklearindustrie überall auf der ganzen Welt kennt.

Um noch einmal darauf zurückzukommen, warum ich es als ein hegemonisches Projekt bezeichne: Das läßt sich auch daran ablesen, daß die heutige Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, als Ministerin für Bergbau und Energie während des Weltsozialforums 2005 in Porto Allegre eine öffentliche Rede hielt, in der sie erklärte, daß, wenn wir ein neues Kernkraftwerk in Brasilien bauen, denn nicht der Energiegewinnung wegen. Das können Sie verstehen, wie Sie wollen, aber ich ziehe es vor, das so zu verstehen, daß bestimmte Kräfte hierzulande über sensitive Technologie verfügen wollen, um davon Gebrauch zu machen und mit ihr als Faustpfand mit dem Rest der Welt in Verhandlungen zu treten.

SB: Gehen Sie davon aus, daß das zivile Atomprogramm Brasiliens betrieben wird, um die Schwelle des Breakouts zu erreichen?

SD: Ja, genau. Kehren wir noch einmal zu unseren Möglichkeiten zurück: Dilma Rousseff hat ebenfalls als Ministerin für Bergbau und Energie ein Gutachten zur potentiellen Nutzung der Windenergie Brasiliens erstellen lassen. Einbezogen waren sämtliche Bundesstaaten. Es wurde eine veraltete Bewertungsmethode verwendet, nach der Brasilien ein Windenergiepotential von 80.000 Megawatt hat. Das ist etwas weniger als unser gegenwärtiger Gesamtenergieverbrauch. Brasilien hat bereits jetzt die Fähigkeit, 120.000 Megawatt Energie zu produzieren, und wir verbrauchen gegenwärtig knapp 90.000 Megawatt. Es gibt also noch reichlich Kapazität, um zu wachsen, ohne daß das Risiko von Stromabschaltungen besteht.

Es sind zur Zeit einige größere Wasserkraftwerke im Bau. Die sind vielleicht kontrovers, da sie im Amazonas-Regenwald gebaut werden und die indigene Bevölkerung betreffen, worüber man diskutieren kann. Aber ungeachtet dessen gibt es noch viel Raum für Biogas, Wind, solarthermische Kraftwerke - nicht für Solar-Paneele, es existieren in Brasilien bereits viele kleine und mittlere Unternehmen, die Solarzellen produzieren -, um Wasser zu erhitzen. Das größte Problem auf diesem Gebiet besteht darin, daß das Stromnetz dafür ausgelegt sein muß, wenn all die elektrisch betriebenen Duschen um 18.00 Uhr angeschaltet werden. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Brasilianer gewöhnlich nach Hause kommen und sich heiß duschen wollen. Wenn man diese elektrischen Duschen abschaffen würde, lebten die Menschen viel sicherer. Und man hat viel Zeit, Alternativen zu entwickeln.

Allmählich gewinnt in Brasilien auch die Windenergie an Bedeutung. Sie hat noch einen Anteil von unter einem Prozent an der gesamten erzeugten Strommenge, aber es gibt eine Vielzahl von Investoren, und es werden immer mehr Windräder aufgestellt. Auch Biogas ist wichtig. Es existiert eine starke Ethanolindustrie, und wir haben die Biomasse aus der Ethanolproduktion. Die Biomasse kann in Kraftwerken verbrannt werden, um Hitze zu erzeugen, welche die Destillerie benötigt, um den Alkohol und hinterher auch die Elektrizität herzustellen. Also ein doppelter Nutzen.

SB: Eine Frage zum Abschluß: Wie sind Sie dazu gekommen, sich der Anti-Atomkraftbewegung anzuschließen?

SD: Als ich vierzehn war - ich bin heute 52 - wurde als Bestandteil der deutsch-brasilianischen Abkommen zu Nuklearfragen ein Handelsvertrag abgeschlossen, der den Bau von acht Kernkraftwerken vorsah. Zu denen zählten Angra 2 und Angra 3. Die übrigen sechs Reaktoren hätten in meiner Heimatregion, dem Bundesstaat São Paulo, gebaut werden sollen. Dort gibt es heute das größte und besterhaltene Gebiet mit atlantischen Regenwald, der artenreichsten Region im Land. Es sollten also im Rahmen der deutsch-brasilianischen Nuklearabkommen sechs Kernreaktoren errichtet werden. Aber wir haben dagegen gekämpft und gewonnen. Das Projekt wurde nicht fortgesetzt, sie strichen ihre Pläne, dort Reaktoren zu bauen. Seitdem kämpfe ich gegen die Kernreaktoren in Brasilien und gegen die gesamte Nuklearindustrie - aber nicht nur in Brasilien. Wir sind gegen Kernkraftwerke auf der ganzen Welt, auch in Europa.

SB: Herr Dialetachi, herzlichen Dank für das Gespräch.

Sérgio Dialetachi mit T-Shirt gegen militärische und zivile Atomkraft - © 2011 by Regine Richter

"Angra 3 - No!" Streitbar im Kampf
gegen militärische und zivile Atomkraft
© 2011 by Regine Richter

11. Juli 2011