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BERICHT/038: Down to Earth - Der ethische Imperativ (SB)


32. Weltkongreß der Geographie in Köln

Vortrag von Prof. Derek Gregory zu humangeographischen Fragen des Krieges



Geographie behandelt immer auch politische Fragen, Politik wiederum hat sehr viel mit Geographie zu tun. Das leugnen zu wollen hieße nicht zuletzt, einen Teil der deutschen Geschichte zu ignorieren. Geographen und Geopolitiker wie Karl Ernst Haushofer (27.8.1869 - 10.3.1946) und Friedrich Ratzel (30.8.1844 - 9.8.1904), sicherlich jeder für sich ein Kind seiner Zeit, trugen mit ihren Konzepten zum ideologischen Nährboden für den Imperialismus des Deutschen Reichs bei. In dem Anspruch auf Lebensraum, nicht zuletzt mit militärischen Mitteln vorgetragen und durchgesetzt, und in der Germanisierung der eroberten Gebiete durch das Nationalsozialistische Deutsche Reich ist auch die Handschrift geographischen Denkens zu erkennen.

Daß die raumgreifende Denkweise im 21. Jahrhundert keineswegs obsolet ist, davon zeugt der viel zitierte Ausspruch des früheren deutschen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD), demzufolge Deutschland auch am Hindukusch verteidigt wird. Lebensraum - damit sind nicht nur die Erdölvorkommen in der Ukraine und der Kartoffelacker an der Wolga gemeint, sondern sämtliche politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technologischen Sphären, in denen der eigene Einfluß zu Lasten des Einflusses anderer durchgesetzt wird. Das hat selbstverständlich mit Geographie zu tun.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Derek Gregory
Foto: © 2012 by Schattenblick

Um Lebensraum, Kriegführung, Informationen und Militärtechnik drehte sich auch die "Keynote Lecture" des Humangeographen Prof. Derek Gregory von der Universität von British Columbia am 30. August 2012, dem Abschlußtag des 32. Weltkongresses der Geographie (IGC 2012 - International Geographical Congress 2012). Zu dem fünftägigen Treffen an der Universität Köln, auf dem weit über 400 Vorträge aus dem breiten Spektrum schulischer und universitärer Lehre sowie der Forschung und Anwendung gehalten wurden, waren mehr als 2000 Geographinnen und Geographen aus der ganzen Welt angereist. Gregorys rund 40minütige Schlüsselrede trug den Titel "Deadly Embrace: War, distance and intimacy", also 'Tödliche Umarmung: Krieg, Distanz und Intimität'.

Eine der gefährlichsten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts, so der kanadische Professor, sei es, daß Krieg aus der Entfernung geführt werden könne. Die Fähigkeit dazu bestehe schon seit Jahrhunderten, deshalb sei eine Betrachtung der Geschichte wichtig, um Kriege zu verstehen. Ohne die Geographie ginge das nicht.

Um seine Schlußfolgerung an den Anfang zu stellen: Gregory bezeichnete es als "ethischen Imperativ" der kritischen Humangeographie, das Verhältnis von Krieg und Gewalt, die in unserem Namen geführt bzw. ausgeübt werden, und die multiplen Verbindungen "zwischen hier und dort" zu untersuchen. In einem Buch des Autors John France ("Perilous Glory: the rise of western military power", New Haven: Yale University press, 2011, Seite 15) stehe geschrieben, daß "entfernte Kriege an entfernten Orten die Angewohnheit haben, sich an uns heranzuschleichen". Und daß, wenn wir uns die Erforschung der Kriege ersparen wollen, "wir verschwinden werden - nicht als Geographen, sondern als die, die wir sind". Dann würden auch uns jene entfernten Kriege zerstören.

Eine Mahnung, die als Stellungnahme des Referenten gegen den Krieg zu deuten ist und die mit der in den USA und anderen westlichen Ländern verbreiteten Vorstellung aufräumt, man führe Krieg aus der Entfernung und bleibe in der Heimat davon verschont. Nicht zuletzt die weitreichenden Einschränkungen vormals als Grundrechte gehandelter Freiheiten in der Folge der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA, auf die der Referent allerdings nicht näher einging, sollten jedem klar vor Augen führen, daß der vermeintlich ferne Krieg sowohl vor als auch hinter der eigenen Haustür ausgetragen wird.

Ob allerdings die Geographie, wie sie sich auch hier wieder präsentiert hat, überhaupt das geeignete Instrumentarium bereithalten kann, um die Motive, Interessen und Ziele kriegführender Gruppen, Nationen oder Kulturen zu analysieren und anschließend, mit dem theoretischen Rüstzeug ausgestattet, Methoden und Mittel bereitzustellen, den Krieg aus der Welt schaffen, ist fraglich.

Der Vortrag war in drei Abschnitte aufgeteilt: 1. Information, 2. Logistik und 3. Waffen.

Wieso wissen wir davon, daß Kriege über Entfernungen geführt werden, insbesondere in unserem Namen, fragt Gregory und gibt sich selbst darauf die Antwort: Durch die Kriegsberichterstattung. Die begann mit dem Krimkrieg (1853 - 56) und wechselte im Laufe der Zeit ihre Ausdrucksform. Der erste Krieg, über den annähernd zeitgleich mit seinem Ablauf berichtet wurde, wird auch der "Telegraphenkrieg" genannt, dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 - 65). Damals druckten die Zeitungen Karten ab und verteilten Buntstifte, so daß die Leser das Vorrücken der Armee einzeichnen konnten.

Beim Französisch-Preußischen Krieg 1870/71 druckten die Zeitungen ebenfalls Karten ab. Doch hatten sich damals die Redaktionen verschätzt und nur eine Karte östlich des Rheins abgedruckt. Man hatte damit gerechnet, daß die Franzosen gewinnen. Es waren jedoch die Preußen, die das Zepter in der Hand behielten und gen Paris marschierten - sozusagen aus der Karte heraus.

Die Geschwindigkeit, mit der die Menschen über das Kriegsgeschehen erfuhren, nahm im Laufe der Geschichte weiter zu, und es kamen neue Medien wie Rundfunk und Fernsehen hinzu. Während des Zweiten Weltkrieg wurde Nachrichten sogar in den Kinos gezeigt. Informationen wurden den eigenen (propagandistischen) Absichten unterworfen. Bei Luftangriffen auf Hamburg während des Zweiten Weltkriegs wurden binnen einer Woche mehr als 12.000 Tonnen Bomben abgeworfen, und es starben 58.000 Einwohner.

Im Vereinigten Königreich seien die Berichte über Luftangriffe auf London "von unten" gekommen, wohingegen die Berichte über Luftangriffe auf Hamburg "von oben" ausgingen. So sei behauptet worden, daß in Hamburg nur militärische und militärisch wichtige Ziele, nicht aber, was Fakt war, die Zivilbevölkerung angegriffen würden. Als der Fotograf John G. Morris, der damals für das Magazin "Life" in London arbeitete, bei der Zensurbehörde Fotos von Leichenstapeln in Deutschland vorlegte, sei ihm freundlich aber bestimmt beschieden worden, daß die Bilder sehr interessant seien, er sie aber erst nach dem Krieg bringen könne. Die Bilder wurden eingezogen, so Gregory, für den dieses Ereignis ein weiteres Beispiel dafür ist, wie Information gemacht wird.

Der Vietnamkrieg (1957 - 75) sei der erste Television War, also Fernsehkrieg gewesen. Noch deutlicher habe die ironische Bezeichnung Livingroom War (Wohnzimmerkrieg) gezeigt, daß die Menschen nun von ihren Fernsehsesseln aus beobachten konnten, wie Bombenteppiche auf Vietnam abgeworfen wurden und Menschen bei lebendigem Leib verbrannten.

Heute werde es als selbstverständlich angenommen, daß über Kriege berichtet wird, aber 1914 seien noch britische Reporter an der Westfront vom Militär verhaftet und ins Vereinigte Königreich zurückgebracht worden. Inzwischen produziert das Militär die Nachrichten und - das wäre ergänzend zu Gregory zu sagen - es läßt Reporter keineswegs an jeden beliebigen Ort des Kriegsgeschehens zu. Die Berichterstatter werden eingebettet und sollen nur das zu sehen bekommen, was die Militärführung sie sehen lassen will.

Als weiteren Zusatz zum Vortrag sollte nicht unerwähnt bleiben, daß eine große Zahl an Kriegsberichterstattern umgebracht wird, auch von Seiten der "Guten", also den westlichen Militärs. Berühmt geworden ist in jüngster Zeit ein von der Bordkamera eines US-Kampfhubschraubers aufgenommenes Video, das die Tötung von zwei Reuters-Journalisten am 12. Juli 2007 in Bagdad zeigt. Durch solche Aktionen werden ebenfalls Informationen gemacht, und sei es dadurch, daß man sie gar nicht erst zustandekommen läßt.

Die Unterdrückung von unliebsamen Bildern gelänge nicht immer, erklärte der Referent. So berichteten Bürgerjournalisten mittels ihrer Fotohandys über Krieg, wie das Beispiel der irakischen Stadt Homs gezeigt habe. Heute würden Nachrichten mit einer Geschwindigkeit wie niemals zuvor verbreitet und noch während eines Ereignisses Aufnahmen auf Youtube hochgeladen. Allerdings kämen die Postings nicht mehr nur von Privatleuten, sondern vom Militär selbst. So betreibe die NATO eine eigene Website und sei auch auf Facebook und Twitter vertreten.

Zum Abschluß dieses ersten von drei Kapiteln seines Vortrags sagte Gregory, daß die Menschen zur Zeit des Französisch-Preußischen Kriegs 1870/71 sowie des Ersten und des Zweiten Weltkriegs die Informationen begierig aufgesogen hätten, und er fragte, ob das noch heute gelte oder ob Kriegsberichterstattung nicht aus Sensationslust wahrgenommen werde.

Prof. Gregory beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Um Kriege zu verstehen, braucht man die Geographie
Foto: © 2012 by Schattenblick

Teil zwei des Vortrag handelte von der Logistik im Krieg, die bis heute eine maßgebliche Rolle spiele. Im Ersten Weltkrieg sei die Eisenbahn ein innovatives Transportmittel gewesen und zu einem wichtigen Kriegbestandteil geworden. Damit konnten Menschen und Munition nunmehr in großer Zahl an die Fronten in Frankreich, Belgien und Deutschland gebracht werden. So seien die unvorstellbar hohen Opferzahlen entstanden. Die logistische Bürde habe auch im Zweiten Weltkrieg nicht abgenommen, berichtete der Referent, der sich an dieser Stelle auf den israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld berief. Im Zweiten Weltkrieg seien die Armeen aufgrund der Entwicklung benzinbetriebener Motoren beweglicher geworden. Außerdem wurden bereits damals private Unternehmen eingesetzt.

Gregory machte indes deutlich, daß auch in heutigen Kriegen enorme logistische Probleme auftreten. Im Afghanistan-Krieg lief bzw. läuft die Versorgung hauptsächlich via Pakistan, über die sogenannten Ground Lines of Communication. Im Jahr 2008 waren die Nachschubwege besonders häufig angegriffen worden, zudem hatte Pakistan seine Grenze zu Afghanistan zeitweilig geschlossen. Grund waren die Angriffe durch die USA auf pakistanisches Territorium. Als Antwort darauf und um die Truppen in Afghanistan aufzustocken (surge), richtete das Pentagon im Februar 2009 auf Anweisung des Oberbefehlshabers der US-Armee, Präsident Barack Obama, das Northern Distribution Network quer durch Europa und Zentralasien ein. Daraufhin nahm das Frachtvolumen und der Treibstoffverbrauch enorm zu. Wobei die Beförderung eines einzigen 20-Fuß-Containers durch Pakistan nach Afghanistan zwischen April und September vergangenen Jahres 6.700 Dollar gekostet hat. Über das nördliche Verteilungsnetzwerk jedoch 12.367 bis 14.410 Dollar.

In Ergänzung zu dem von ihm zitierten Autorengespann Halvard Buhaug und Niels Petter Gleditsch, die das Buch "The Death of Distance? The Globalization of Armed Conflict" (2006) geschrieben haben und nach wie vor in Transport und Logistik den begrenzenden Faktor der militärischen Reichweite von Armeen sehen, sagte Gregory, daß Entfernung keine rein physikalische Frage ist. Sie sei verbunden mit Politik und Wirtschaft.

So werde nicht nur der Transport von militärischen Gütern auf dem Landweg durch Pakistan nach Afghanistan und innerhalb des Landes von Privatunternehmen vorgenommen, sondern auch die Bewachung der Transporte. 6000 bis 8000 Lkw-Fahrten pro Monat, über die etwa 70 Prozent der Versorgung der US-Armee abgewickelt werde, müßten gesichert werden. Laut einem Kongreßbericht würden sogar Verträge mit Warlords abgeschlossen, damit sie den Job übernehmen. Deren Menschenrechtsstandards reichten nicht einmal an die der Taliban heran.

Es könne sogar vorkommen, daß die Bewacher ihre eigenen Transporte angreifen lassen, um sich auf diese Weise unverzichtbar zu machen, oder daß sie Schutzgelder an die Taliban bezahlen, um Attacken auf die Konvois zu entgehen. Auf diese Weise würden die Waffen sicher durch Talibangebiet gebracht, um sie vom Zielort aus gegen die Taliban einzusetzen.

Es sind solche Schilderungen, die Gregorys Vortrag eine belebende Note verliehen. Dennoch muß man sich fragen, ob das Aufzeigen von Widersprüchen innerhalb eines Krieges diesen ernsthaft in Frage zu stellen vermag. So trugen zwar das Buch Catch-22 (1961) von Joseph Heller und neun Jahre darauf die Verfilmung durch Mike Nichols den Ruf, gegen den Krieg zu sein, aber wer wollte ernsthaft behaupten, daß mit Spott und Ironie das Räderwerk einer Militärmaschinerie aufgehalten oder die politische Führung am Justieren der Stellschrauben des Krieges gehindert werden kann?

Gregorys Resümee für den zweiten Abschnitt seines Vortrags: Auch im 21. Jahrhundert ist die Welt nicht flach - sprich: auch für das US-Militär gibt es Hindernisse, die nur mit einigem Aufwand überwunden werden können.

Aus der Ferne zu töten, ist keine Erfindung der Neuzeit, leitete Gregory den dritten Teil seines Vortrags ein. Auch hierbei setzte er beim Ersten Weltkrieg an. Erstmals seien systematisch Flugzeuge, von denen aus Bomben abgeworfen wurden, eingesetzt worden. Das hätte dramatische Auswirkungen auf die Geographie des Krieges gehabt. Denn die Konfliktgebiete seien nun nicht mehr klar begrenzt gewesen.

Der Zweite Weltkrieg sei zunehmend aus der Distanz geführt worden, im Indochina-Krieg habe sich diese Entwicklung fortgesetzt. Heute verstärkten die USA den Drohnenkrieg. Dabei sitzen die Piloten womöglich in Florida. Gregory erklärte, daß mit den Drohnen keine Bombenteppiche gelegt, sondern Individuen ausgeschaltet werden.

An der Stelle wäre es vielleicht aufschlußreich gewesen, wäre der Referent mehr auf das Problem der weitgehenden Entgrenzung des Kriegs eingegangen, die mit dem "Global War on Terror" der Ära George W. Bushs einsetzte und durch die Administration von dessen Nachfolger Barack Obama durch "Overseas Contingency Operation" abgelöst wird. (An späterer Stelle kommt der Referent auf gesellschaftliche Aspekte der Entgrenzung zu sprechen, läßt aber auch dabei die Anpassung des Rechts an die kriegführenden Interessen unbeachtet.)

Offensichtlich gibt es keine höhere Instanz, vor der sich die Militärführung der USA für die extralegalen Liquidierungen mutmaßlicher feindlicher Kämpfer im Rahmen des Drohnenkriegs rechtfertigen muß, andernfalls würde die Mißachtung der nationalen Souveränität und der Menschenrechtsstandards geahndet werden. Ebenfalls im Namen des Rechts werden Menschen verschleppt, jahrelang gefangen gehalten, gefoltert oder eben per Mausklick von Florida oder einem Einsatzort aus getötet. Würden andere Staaten das gleiche mit US-Bürgern machen, wäre das ein Kriegsgrund.

Technologische Voraussetzung des Drohnenkriegs sind Highdefinition Video-Feeds. Wobei Hunderte von Personen in der logistischen Kette sitzen und unter anderem die Streams, die von Drohnen aufgenommen werden, anschauen. Gregory brachte dieses Beispiel, um zu verdeutlichen, daß der moderne Krieg nicht weniger personalaufwendig ist als der Krieg in früheren Zeiten.

Die Piloten der Drohnen beharrten darauf, daß sie nicht mehrere tausend Kilometer von ihrem Ziel entfernt sind, sondern nur 46 Zentimeter, nämlich die Strecke vom Auge zum Bildschirm. Ein solcher Drohnenpilot soll einmal gesagt haben: "Ich kenne die Leute da unten." Hier ist in den Schilderungen Gregorys eine Unstimmigkeit zu erkennen. Auf der einen Seite verdeutlicht er, daß die Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg und im Vietnamkrieg so weit von ihren Opfern entfernt sind, daß sie kein Mitgefühl entwickeln, auf der anderen Seite stellt er die These auf, daß die Drohnenkrieger von heute für ihre Opfer empfinden und regelrecht auf "die Intimität des Vorgangs" bestünden. Was denn nun, fragt sich da der unbedarfte Zuschauer.

Krieg, der aus der Ferne geführt werden kann, fände mit dem konzeptionellen Waffensystem Prompt Global Strike, mit dem die US-Streitkräfte jedes Ziel der Erde binnen einer Stunde erreichen wollen, seinen vorläufigen Höhepunkt. Und was sei mit dem Cyber Warfare, stellte der Referent eine Frage in den Raum. Das Computervirus Stuxnet, entwickelt von den USA und Israel, um das iranische Atomprogramm zu schädigen, sei ebenfalls als Fernwaffe einzustufen. Unsere Kriege gehen typischerweise über größere Distanzen. "Ihr" Krieg dagegen über kürzere Entfernungen. Unsere Kriege gelten als sauber, ihre dagegen als brutal. Gregory fragt: Ab wann ist Töten nicht mehr akzeptabel - ab 5000 Meilen, fünf Meilen oder ab drei Meter?

In Anlehnung an Frederic Megret erklärte er, daß Krieg nicht mehr an klare Grenzen, innerhalb derer er stattfindet, gebunden ist. Terroristische Angriffe seien inzwischen in die Strukturen des alltäglichen Lebens eingedrungen.

Damit sagt Gregory allerdings nichts wirklich Neues. Problematisch an dieser Sichtweise wäre es sogar, wenn sie darauf hinausliefe, die Historie wie auch den Faktor der Waffenungleichheit im Terrorkrieg zu unterschätzen. Der Krieg der Kulturen, der seinerseits hinter dem Terrorkrieg steht, auf den im Vortrag eingegangen wurde, hat seine Wurzeln im Kolonialismus, bei dem muslimisch geprägte Länder im Nahen und Mittleren Osten und darüber hinaus von den westlichen, christlich dominierten Staaten unterworfen wurden. Dabei war es zur Radikalisierung von widerständigen Teilen der muslimischen Bevölkerung gekommen. Der Krieg gegen den Terror ohne diesen geschichtlichen Hintergrund analysieren zu wollen, wäre somit zu dünn. Darüber hinaus sollte sich niemand durch die Bezeichnung des asymmetrischen Kriegs täuschen lassen: Es wird suggeriert, daß die Waffenungleichheit ins Gegenteil verkehrt wird. Das trifft nicht zu. Wenn also der Krieg in den Alltag einzudringen beginnt, wie der Referent ausführte, dann könnte das sehr viel mehr mit uns zu tun haben als mit denen, die versuchen, ihn in die westlichen Metropolen zu tragen.

Daß Gregory die irakische Bloggerin Riverbend zitiert, die ab dem 17. August 2003 einige Jahre lang den Blog Baghdad Burning betrieben hat, verlieh dem Vortrag eine authentische Note. Riverbend berichtete in ihrem Blog vom zweiten Irakkrieg, die Besatzung ihres Landes, die Nöte des alltäglichen Lebens, den Krieg der Religionen. An ihre Leser in der westlichen Welt gewandt schrieb sie: Was ihr als Ausland bezeichnet, ist da, wo Millionen Menschen leben. Ausland ist da, wo wir aufgewachsen sind und wo wir unsere Kinder großziehen wollen. Das ist euer Schauplatz des Krieges und des Terrors.

Hier bezieht Gregory deutlich Stellung: Es sei die Aufgabe der Geographie, das Verhältnis von Krieg und Gewalt, die in unserem Namen geführt bzw. verübt werden - häufig an weit entfernten Orten, während wir selbst in Sicherheit sind und komfortabel leben - zu erforschen. Eine der Herausforderungen für eine kritische Humangeographie sei es, die multiplen Verbindungen "zwischen hier und da" nicht einfach als eine theoretische oder technische Übung, sondern als politischen, ja, ethischen Imperativ zu begreifen. Andernfalls schlage dies auf uns zurück, und der Krieg werde uns einholen.

Indem der Referent den Krieg als ein Ereignis beschreibt, das angefangen hat, die Lebensverhältnisse zu durchdringen, aber im wesentlichen uns noch nicht erreicht hat, vernachlässigt er jenen Krieg, der permanent in der Phase des Friedens stattfindet und keine geringere Vernichtungsgewalt entfaltet als das eigentliche militärische Kriegsgeschehen. Eine Ahnung von der vernichtenden Wirkung des Friedens erhält man, wenn man sich vor Augen führt, daß weltweit mehr Menschen durch Arbeitsunfälle ums Leben kommen oder verstümmelt werden als durch bewaffnete Konflikte. Vorbehaltlich der Unsicherheit, die bei solchen statistischen Erhebungen immer auftreten, kann man sagen, daß weltweit jedes Jahr 2,2 Millionen Menschen durch Arbeitsunfälle oder berufsbedingte Krankheiten ums Leben kommen. Als Kriegsopfer werden dagegen, je nach Schätzung, 137.000 bis 378.000 verzeichnet.

Noch deutlicher wird der verbreitete Irrtum, daß Frieden der Gegenpol zu Krieg sei, wenn man sich die Zahl der jährlichen Hungertoten vor Augen führt. Auch hier weichen die Angaben je nach Definition stark voneinander ab, aber ein recht konservativer Wert wären zehn Millionen Hungertote jährlich.

Mit diesen Vergleichen soll Krieg nicht verharmlost werden. Doch es war Gregory selbst, der als Humangeograph das Anliegen vortrug, Kriege besser verstehen zu wollen. Da sollte es nicht verkehrt sein, den sogenannten Frieden und das, was beides, Krieg und Frieden, als Ausdrucksformen vorherrschender gesellschaftlicher Verhältnisse zusammenbindet, genauer unter die Lupe zu nehmen. Jedenfalls mag eine aus diesem Wechselspiel geborene Ethik von denen, die sie vortragen bzw. anwenden, noch so gut gemeint sein, am Ende wird sie ihre Funktion in der Bestätigung der bestehender Gewaltstrukturen erfüllen.


Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils versehen mit dem kategorischen Titel "Down to Earth", unter
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18. November 2012