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BERICHT/121: Gitterrost und Permafrost - Küstenerosion ... (SB)


11. Internationale Permafrostkonferenz (ICOP) vom 20. bis 24. Juni 2016 in Potsdam

Aktueller Bericht von WWF Russia über extrem starke Erosion der Permafrostküste der Wiese-Insel


Manche Küsten in der Arktis sind weitreichenden Veränderungen unterworfen, die auf den Klimawandel zurückgeführt werden. Von Kivalina in Alaska über die Herschel-Insel in Kanada bis zu den Neusibirischen Inseln in Rußland beißt das Meer immer größere Stücke aus der Permafrostküste. Die Landmasse befindet sich vielerorts auf dem Rückzug, wie auf der 11. Internationalen Permafrostkonferenz (ICOP), die das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) vom 20. bis 24. Juni 2016 in Potsdam veranstaltet hat, berichtet wurde. Zahlreiche Vorträge und wissenschaftliche Poster waren mit der Problematik der erodierenden Küsten befaßt.


Azimutalprojektion des Arktischen Ozeans und umgebender Landmassen - Karte: Uwe Dedering, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons, bearbeitet von Schattenblick

Die Wiese-Insel (graue Sternmarkierung) liegt auf rund 79 Grad Nord.
Karte: Uwe Dedering, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons, bearbeitet von Schattenblick

War die Permafrost-Forschungsgemeinschaft bislang davon ausgegangen, daß die Neusibirischen Inseln Rekordhalter für die Geschwindigkeit der Küstenerosion sind, so könnte ihnen inzwischen durch die ebenfalls in der Karasee liegende Wiese-Insel der Rang abgelaufen worden sein. Vor kurzem meldete die Naturschutzorganisation WWF Russia, daß sich einige Küstenabschnitte der 288 km² großen Insel, die auf halber Strecke zwischen den arktischen Archipelen Franz-Josef-Land und Sewernaja Semlja liegt, in den vergangenen sieben Jahren um über 70 Meter zurückgezogen haben. Entdeckt hat dies der Glaziologe Alexander Aleynikov im Zuge der Beschaffung von Informationen zur Bildung eines staatlichen Naturschutzgebiets auf jener unbewohnten Insel, die zum Rajon (Verwaltungsgebiet) Taimyrski (Dolgano-Nenezki) der russischen Region Krasnojarsk zählt. [1]

Erodierende Küsten sind in dieser kalten, von Permafrost und Meereis geprägten Region nichts Neues. In den 50er Jahren berichteten Forscher von einem jährlich etwa 1,5 Meter starken Rückzug der Küste der Wiese-Insel, sagte Aleynikov. Jetzt aber zeigten Satellitenaufnahmen einen Schwund von bis zu 74 Metern im Verlauf des Zeitraums 2009 bis 2016.

Auf den Neusibirischen Inseln beträgt die Küstenerosion etwa 5 - 15 Meter pro Jahr, nach einem Sturm manchmal 20 Meter, ergänzte Oksana Lipka, Koordinatorin des Klima- und Energieprogramms bei WWF Russia. Sie vermutet, daß die Geschwindigkeit der Küstenzerstörung der Wiese-Insel sogar noch höher ausfällt. Als wesentlichen Faktor für den rapiden Landverlust wird der Klimawandel angesehen. Die Arktis erwärmt sich sowieso schon rund doppelt so schnell wie die übrige Erde, aber in diesem Jahr konnte man von einer regelrechten arktischen Hitzewelle sprechen. Die Luft nördlich der Wiese-Insel war drei bis sechs Grad wärmer als üblich.

Die Steigerung der Energiezufuhr sorgt dafür, daß die Küsten in der Arktis im Anschluß an die kalte Jahreszeit früher eisfrei werden und es immer länger dauert, bis daß das Meer von neuem zufriert. Während der Sommerzeit ist jedoch die Permafrostküste ungeschützt den Wellen ausgesetzt, so daß sie vor allem bei einem Sturm, der die Wogen an die Küste peitscht, erhebliche Massenverluste erfährt.

Die arktischen Inseln, die aufgrund des menschlichen Einflusses und des Klimawandels Veränderungen unterworfen sind, verlangen nach einer engen Beobachtung, sagte Ivan Mizin vom Barents Office des WWF Russia. Als ganzjähriges Habitat für Eisbär, Walroß und Elfenbeinmöwe bedürfe die Insel eines besonderen Schutzes. Die Insel läge an der Schnittstelle zweier Meere und verbände die Populationen jener Arten. Mizin fordert die Einrichtung eines Naturreservats und die Minimierung des menschlichen Einflusses.


Blick vom Meer auf einen Teil der stellenweise von Eis bedeckten, flachen Insel mit wenigen Gebäuden - Foto: Ansgar Walk, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Arktische Forschungsstation auf der Wiese-Insel, 2. September 2014.
Foto: Ansgar Walk, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Der letzte SB-Bericht (12.08.2016, [2]) mündete in die Frage, ob denn die Wissenschaft mit ihren Mitteln und Methoden überhaupt in der Lage ist, die Geschwindigkeit, mit der gegenwärtig eine Vielzahl von Vorgängen in den Ökosystemen der Erde ablaufen, adäquat zu erfassen. Zwar hätte es der aktuellen Meldung über die extreme Küstenerosion an der Wiese-Insel nicht bedurft, doch bestätigt dieses Beispiel, wie berechtigt die Frage ist.

Auf der Wiese-Insel steht inzwischen eine ehemalige Meteorologische Station, die sich noch vor zehn Jahren in sicherer Entfernung von der Küste befand, zur Hälfte über dem Abgrund. Nicht mehr lange, dann wird sich das Meer dieses Gebäude und vielleicht noch weitere Einrichtungen holen. Solche Verluste wären gering verglichen mit denen, wenn größere Infrastrukturen verloren gingen. Ein Phänomen, das weniger für Sibirien als für Nordamerika gilt.

Der von WWF Russia geforderte Schutz einer unbewohnten, maximal 22 Meter hohen Insel am Rande des Nordpolarmeeres dürfte nicht einfach sein. Viel teurer wäre es jedoch, müßte man ein ganzes Dorf verlegen. Da wären unter Umständen mit Kosten in Höhe von mehreren hundert Millionen Dollar zu rechnen, sagte Dr. Torre Jorgensen am Beispiel der von Küstenerosion und Klimawandel bedrohten Dörfer Alaskas auf der Potsdamer Permafrostkonferenz zum Schattenblick. [3]

Allein nur die entlegene Wiese-Insel zu erreichen, auf der allenfalls Wissenschaftler und vielleicht noch Militärs anzutreffen sind, ist schon aufwendig. Inwieweit die russische Administration überhaupt ein Interesse hat, das Eiland zu erhalten, ist ungewiß. Ein manchmal sehr starkes Motiv für Regierungen entfällt in diesem Fall: Rußland würde keine Rückverlegung seiner 200-Seemeilen-Zone erfahren, sollte die Insel eines Tages komplett erodiert werden.

Doch allein diese theoretische Möglichkeit in Verbindung mit Küstenerosion wirft weitergehende Fragen auf. Da im Verlauf der globalen Erwärmung die Küsten nicht nur abgetragen, sondern als Folge des Meeresspiegelanstiegs nach und nach in das bisherige Landesinnere verlegt werden, stellt sich die Frage, ob nicht nur die Seekarten neu gezeichnet, sondern auch die nationalen Ausschließlichen Wirtschaftszonen neu ausgemessen werden müssen. Da könnten wieder alte Konflikte aufbrechen.

Der WWF-Bericht über die extreme Abtragungsrate der Wiese-Insel fällt in eine Zeit der Klimarekorde und vermehrten Extremwetterereignisse. Manche Rekorde aus der ersten Jahreshälfte werden auf das sogenannte El-Niño-Phänomen zurückgeführt, bei dem sich ausgehend von einer Verlagerung des warmen äquatorialen Meeresstroms im Pazifik nach Osten die klimatischen Verhältnisse weltweit umkehren und sich Naturkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen mehren. In solchen Phasen gerät einiges durcheinander, was sich dann in der Statistik niederschlägt. Allerdings stellt das alle drei bis fünf Jahre auftretende El-Niño-Phänomen in diesem Jahr seinerseits einen Rekord hinsichtlich seiner Intensität dar, kann also wohl kaum als (beruhigende) Erklärung für die Extreme herhalten ...

Trotz der starken Landverluste der Wiese-Insel in den letzten Jahren ist mit einem völligen Verschwinden der gut zehn mal zwanzig Kilometer großen Insel nicht so bald zu rechnen. Die Bedeutung der Meldung von WWF Russia liegt allerdings nicht zuletzt im Symbolischen: Hier wird bestätigt, daß die Permafrostforschung ihren Fokus aus gutem Grund auf Entwicklungen gerichtet hat, die nicht auf die Arktis beschränkt bleiben. Wenn Permafrost taut, verändern sich ganze Landschaften grundlegend, auch wenn das Thermometer womöglich nur um ein einziges Grad gestiegen ist.


Dr. Jorgensen beim Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Wir haben eine Dichotomie von einigen sich sehr schnell und anderen sich sehr langsam verändernden Gebieten. Im zurückliegenden Jahrzehnt haben sich die Dinge jedoch auffällig anders entwickelt. Selbst mein Hinterhof in Fairbanks, die Gärten, Auffahrten, Straßen und Gebäude verändern sich in jüngster Zeit deutlich."
(Dr. Torre Jorgensen, 21. Juni 2016, Potsdam)
Foto: © 2016 by Schattenblick

Fußnoten:

[1] http://www.wwf.ru/resources/news/article/eng/14488

[2] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0120.html

[3] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0235.html


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT zur Permafrostkonferenz in Potsdam erschienen:

BERICHT/120: Gitterrost und Permafrost - Genaues weiß man eben nicht ... (SB)

INTERVIEW/227: Gitterrost und Permafrost - Zahlenspiele, Umweltziele ...    Prof. Hans-Wolfgang Hubberten im Gespräch (SB)
INTERVIEW/228: Gitterrost und Permafrost - Schrittmacher Menschenhand ...    Prof. Guido Grosse im Gespräch (SB)
INTERVIEW/229: Gitterrost und Permafrost - bedingt prognosesicher ...    Prof. Antoni Lewkowicz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/230: Gitterrost und Permafrost - zivile Katastrophen ...    Dr. Tingjun Zhang im Gespräch (SB)
INTERVIEW/234: Gitterrost und Permafrost - Flirt mit Ideen, Karriere mit konservativen Methoden ...    Dr. Anne Morgenstern im Gespräch (SB)
INTERVIEW/235: Gitterrost und Permafrost - nicht hören, nicht sehen ...    Dr. Torre Jorgenson im Gespräch (SB)
INTERVIEW/238: Gitterrost und Permafrost - maßstabslos ...    Prof. Duane Froese im Gespräch (SB)
INTERVIEW/239: Gitterrost und Permafrost - Pragmatik trifft Unberechenbarkeit ...    Prof. emer. Wilfried Haeberli im Gespräch (SB)
INTERVIEW/241: Gitterrost und Permafrost - terrestrische Wandlungen ...    Dr. Merritt Turetsky im Gespräch (SB)
INTERVIEW/242: Gitterrost und Permafrost - Am Beispiel Mars ...    Dr. Andreas Johnsson im Gespräch (SB)
INTERVIEW/244: Gitterrost und Permafrost - den Elementen Zivilisation abgewinnen ...    Dr. Nikolay Shiklomanov im Gespräch (SB)
INTERVIEW/245: Gitterrost und Permafrost - CO2 und Wiederkehr ...    Dr. Peter Köhler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/246: Gitterrost und Permafrost - Emissionsanstieg CO2 absehbar ...    Prof. Kevin Schaefer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/247: Gitterrost und Permafrost - normale Werte, Stolpersteine und Geduld ...    Prof. Torsten Sachs im Gespräch (SB)
INTERVIEW/248: Gitterrost und Permafrost - hochkomplex und doch eindeutig ...    Dr. Frans-Jan W. Parmentier im Gespräch (SB)


17. August 2016


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