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INTERVIEW/060: Fukushima - Der unverstellte Blick, Umweltjournalist Alexander Neureuter im Gespräch - 1. Teil (SB)


Interview mit Alexander Neureuter am 7. November 2013 in Heide/Holstein

Über die Möglichkeiten, radioaktive Strahlung in Bilder umzusetzen



Die Anti Atomkraft Gruppe Dithmarschen hatte am 7. November 2013 den Umweltjournalisten Alexander Neureuter ins Bürgerhaus in Heide eingeladen, seinen Vortrag "Fukushima 360 Grad" interessierten Dithmarschern vorzustellen. [1] Vor der Veranstaltung nahm der Schattenblick die Gelegenheit zu einem Gespräch wahr, das wir nicht nur aufgrund des schwer verdaulichen und gerade in diesen Tagen wieder hochaktuellen Inhalts, sondern auch, weil die beiden Schwerpunkte seiner Arbeit, brisante Umweltproblematiken künstlerisch zu vermitteln, dies nahelegen, in zwei Teilen veröffentlichen.

Alexander Neureuter in der Enoteca da Michele in Heide - Foto: © 2013 by Schattenblick

Umweltjournalist Alexander Neureuter
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Neureuter, Sie haben im Mai und Oktober 2011 zwei Wochen lang in der evakuierten Sperrzone von Tschernobyl recherchiert, im Mai 2013 reisten Sie für drei Wochen in die japanische Provinz Fukushima. Auch an anderen Orten der nuklearen Infrastruktur waren Sie schon anzutreffen - da könnte man auf den Gedanken kommen, Sie liebten das Risiko. Schätzen Sie sich auch so ein?

Alexander Neureuter (AN): Das Risiko ist ein unabdingbarer Bestandteil der Arbeit, die ich als Umweltjournalist mache. Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich mich sehr genau informiert habe, wie sich das Strahlenrisiko möglichst gering halten läßt. Meine Motivation liegt aber darin begründet, daß ich aus dem Wendland komme, aus Lüchow-Dannenberg, wo ich seit 1983 aktiv im Atomwiderstand bin, was Gorleben und auch die Castor-Transporte angeht. Insofern war für mich vollkommen klar, wenn man hinten an dem Atommüll etwas ändern will, muß man verstehen, wie das Ganze weiter vorne in der Atomwertschöpfungskette aussieht, und das ist auch die Antwort, warum ich dort unterwegs gewesen bin.

SB: Wissen Sie, ob Sie durch Ihre Reise nach Japan die effektive Dosis der Strahlenexposition von einem Millisievert für dieses Kalenderjahr erreicht haben, oder liegt noch mehr drin?

AN: Ja, ich hatte ein Personendosimeter dabei, das die ganze Zeit über gelaufen ist, auch schon während des Flugs. Die Höhenverstrahlung, die es dabei aufgezeichnet hat, ist allerdings auch bereits ein großer Brocken gewesen. Von den 1,3 Millisievert, die ich insgesamt in diesen drei Wochen abbekommen habe, gehen allein ein Viertel beziehungsweise 30 Prozent allein auf den Flug. Also die Jahresdosis ist damit ausgeschöpft.

SB: Was möchten Sie mit Ihren Bildern erreichen? Möchten Sie eine bestimmte Resonanz, die Ihnen am Herzen liegt, erzielen?

AN: Je mehr ich mich mit dem Thema Umwelt auseinandersetzte, desto deutlicher sehe ich, daß die Worte "Ungerechtigkeit" und "Verschweigen" ein zentrales Thema werden. Was Fukushima angeht, möchte ich ganz klar diesen medialen Nebel des Schweigens, der über diesem Land der aufgehenden Sonne liegt, durchtrennen. Ab und zu gibt es vielleicht noch einmal sechs oder zehn Zeilen in der Tagespresse zu diesem Thema, und das war es dann meistens. Ganz besonders am Herzen liegen mir aber die 360.000 Kinder, die dort unter ungewöhnlich schlimmen Strahlenbedingungen leben müssen. Ich würde gerne dazu beitragen, daß deren Geschichte vom Rest der Welt wenigstens ein bißchen wahrgenommen und verstanden wird.

Die Baumwipfel werden in Fukushima abgeschlagen, weil diese Teile vom Baum am stärksten radioaktiv kontaminiert sein sollen - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Eingefangenes radioaktives Unbehagen

Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

SB: Sie nannten gerade die Begriffe "Ungerechtigkeit" und "Verschweigen". Schließen sie damit an die Worte einer alten Japanerin an, die Sie auf Ihrer Webseite [2] mit den Worten zitieren, daß Lug und Trug mit der Nutzung der Kernkraft einhergeht?

AN: Das ist ein Zitat von einer Atombomben-Überlebenden aus Hiroshima, die gesagt hat, Atomwaffen und Kernenergie seien immer unmittelbar mit Verschweigen, Geheimhaltung und Unrecht verbunden.

SB: Haben Sie da konkrete Beispiele aus jüngster Zeit?

AN: Ich zeige in meinem Vortrag zwei Beispiele, die Tepco leider nicht vertuschen konnte. In dem einen werden Wassertanks gezeigt, die leckgeschlagen sind. Auf einem Meßgerät läßt sich die Strahlenbelastung von hundert Millisievert pro Stunde ablesen und ab einer Strahlenbelastung von ungefähr 3.000 Millisievert, also dem 30fachen, setzt bei Menschen die akute Strahlenkrankheit ein. [3] Also, das war schon ein sehr hoher Wert. Und die Welt hielt entsprechend den Atem an und sagte, "O Gott, was für ein hoher Wert!". Und sieben Tage, nein, neun Tage später mußte Tepco diesen Wert nach oben korrigieren. Plötzlich waren es 2.200 Millisievert pro Stunde an der gleichen Stelle. Also eineinhalb Stunden hätten dort ausgereicht, um einen Menschen tödlich zu verstrahlen.

Die Lösung des Ganzen: Im ersten Fall wurde ein digitales Meßgerät eingesetzt, das eine maximale Meßobergrenze von hundert Millisievert pro Stunde hatte und somit gar nicht mehr anzeigen konnte. Obwohl die Strahlung schon weit über hundert Millisievert lag, behauptete Tepco, sie hätten hundert Millisievert gemessen, ohne zu erwähnen, daß bei ihrem Meßgerät bereits der Meßbereich ausgereizt war und der reale Wert darüber liegen mußte. Es war das falsche. Das ist ein typisches Beispiel von Lug und Trug.

Und in dem zweiten typischen Beispiel, auf das ich eingehen werde, wird deutlich, wie die Strahlenbelastung direkt am Meer vor dem Kernkraftwerk gemessen und in einem Diagramm abgetragen wurde. Der Anstieg der Kurve, die dort zu sehen ist, legt nahe, daß sich die Strahlenbelastung vielleicht knapp verdoppelt hat. Und die wenigsten werden erkennen, daß man hierfür eine logarithmische Skala verwendet hat, mit der sich logarithmische Funktionen linear darstellen lassen. Das heißt, wenn man die Werte auf den Koordinaten entsprechend auseinanderzieht, dann wachsen die Zahlen exponentiell an: ein, zehn, hundert, tausend und so weiter. Was ich im Vortrag zeigen werde, ist, daß sich der Wert auf der Kurve nicht verdoppelt, sondern versechzigfacht hat.

Grafik: Public domain via Wikimedia Commons

Ein Beispiel, wie der Betrachter getäuscht wird, wenn er das Kleingedruckte nicht berücksichtigt:
Auf der normalen Skala nur ein kleines rotes Dreieck...
Grafik: Public domain via Wikimedia Commons

Grafik: Public domain via Wikimedia Commons

... wirkt in der logarithmischen Darstellung auf den unkritischen Betrachter viel größer.
Grafik: Public domain via Wikimedia Commons

Das ist ein Beispiel dafür, wie Menschen, angefangen von Reportern, die das nicht wissen können, bis hin zu den Lesern, die das nicht weiter hinterfragen, auf diese Art der Darstellung hereinfallen.

SB: Radioaktivität ist eine schwer erfaßbare und nachvollziehbare Größe, die sich eigentlich nur indirekt in der Wirkung auf ionisierende Substanzen oder eben direkt in tödlicher, sterilisierender Wirkung zeigt. Etwas, das genau genommen in der Bedrohung gar nicht sichtbar ist, in Bildern zu dokumentieren, ist auf jeden Fall eine Herausforderung.

AN: Ja.

SB: Wie gehen Sie vor, um die Situation vor Ort so festzuhalten, daß sie einem größeren Publikum etwas sagt?

AN: Es gibt einen japanischen Künstler, der es geschafft hat, ionisierende Strahlung direkt darzustellen. Dafür habe ich ihn immer beneidet. Er ist in sein Elternhaus in die Sperrzone zurückgegangen und hat dort einige Kilogramm Gartenerde mitgenommen. Die hat er in seinem Atelier zu Hause auf etwa ein Quadratmeter große Backformen ganz dünn ausgebreitet und einen Röntgenfilm in der gleichen Größe draufgelegt und hat dann das Ganze 48 Stunden einwirken lassen.

Als die Filme dann entwickelt wurden, fanden sich Unmengen von kleinen, weißen Punkten darauf, Abbilder der sogenannten Hot Particles. Cäsium und anderes radioaktives Material aus diesem Heimatboden haben den Röntgenfilm an diesen Punkten belichtet. Diese Filme sind so wunderschön anzusehen, verschieden große und kleine Punkte wunderbar angeordnet wie Sternenhimmel beinahe, und es ist tödliche Strahlung.

Bei meiner Reportage aus der Zone um Tschernobyl, wo keine Menschen mehr leben, wollte ich zeigen, wie eine Kulturlandschaft nach 27 Jahren aussieht, die überstürzt verlassen wurde. Ich habe ein Buch dazu herausgebracht [2]. Es enthält klassische Beispiele wie etwa eine verwitterte Puppe, die in einem Kindergarten zurückblieb, der plötzlich evakuiert werden mußte. Das Kind hat vielleicht noch schnell einen Schleier oder ein Halstuch um sie herum gewickelt, bevor es sie zurückließ. Ansonsten wird sie von Asbeststaub, der von der Decke rieselt, überzogen. Nach siebenundzwanzig Jahren sieht das Ganze dann so aus. Oder zum Beispiel auch diese kleinen Kinderschuhe, die hier liegen. Die Frage, die sich dem Betrachter aufdrängt, ist natürlich, wie mag das Kind aussehen, das damals vor 27 Jahren in diesen Schuhen herumgelaufen ist. In einem Schuh war ein Name, und ich habe alles versucht, zu finden, wo dieses Kind heute ist. Es ist mir nicht gelungen.

Aber auch dieser Anstrich, der im Hotel Polessia in Prypjat langsam von den Wänden blättert, spricht für sich. Dabei sehen sie ganz ästhetisch aus, sie sehen fast aus wie Blütenblätter oder Reptilienhäute. Über diese Hinterlassenschaften der menschlichen Kultur kann man meiner Ansicht nach gut nachvollziehen, was Strahlung auslösen kann, wenn Menschen ihretwegen alles verlassen müssen.

Bei den Menschen in Fukushima war es anders. Dort gibt es keine verlassenen Gebäude, es sei denn, sie stehen direkt in der Sperrzone. Davon habe ich auch einige Bilder gemacht. Mir ging es hierbei aber darum, in jedem Bild mindestens einen Menschen vorzustellen, um zu dokumentieren, wie es ihnen heute geht. Sie werden nachher in meinem Vortrag einen traurigen Fischer sehen, dem wirklich die Tränen fast in die Augen getreten sind, als er sagt: "Seit fünf Generationen bin ich Fischer und darf nun nicht mehr rausfahren. Ich fühle mich nutzlos. Ich bin wie ein Fisch an Land, und ich weiß nicht, wann ich jemals wieder von Nutzen sein kann." Oder da sind Reisbauern, die erklären: "Wir leben jetzt seit über zwei Jahren in dieser Wellblechhütte oder in diesen Wohncontainern. Wir sind es gewohnt, draußen zu arbeiten. Wir sind es gewohnt, an der frischen Luft zu sein. Wir werden dick und dicker. Wir kriegen immer mehr Heimweh. Wir sind traurig und wissen immer weniger, welchen Wert wir eigentlich noch für die Gesellschaft haben."

Einheitlich-sterile Wohncontainer in Fukushima - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Manche Überlebende in den aktuell überschwemmten Katastrophengebieten mögen diese Notunterkünfte vielleicht sogar für luxuriös halten.
Die Bauern von Fukushima sehnen sich jedoch auf ihre eigene Scholle zurück.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Auch andere Bilder von den Gesichtern der Menschen zeigen schon, was die Strahlung nach wenigen Jahren mit den Menschen macht. Wir haben hier beispielsweise Bilder aus einem privaten Krankenhaus [4]. Dort wird gerade einem sechsjährigen Mädchen die Schilddrüse untersucht und es stellt sich heraus, daß dieses Mädchen eine Vorstufe von Schilddrüsenkrebs hat. Auch das Gesicht der Mutter, die gerade erfährt, daß ihre Tochter wahrscheinlich in wenigen Jahren Schilddrüsenkrebs bekommen wird, zeige ich. Dieses Gesicht ist ein Vehikel, um die grauenhafte Konsequenz der radioaktiven Strahlen zu zeigen. Das heißt, ich benutze entweder die verlassenen Kulturlandschaften oder die Geschichten und Gesichter der Menschen.

SB: Sie lassen die Bilder aber nicht nur für sich sprechen. Sie erklären in Ihren Vorträgen auch, wo Sie die Aufnahmen gemacht haben, unter welchen Umständen oder welche Geschichten und menschlichen Schicksale sich dahinter verbergen. Ganz ohne Sprache als Brücke der Vermittlung würde man sie nicht sogleich verstehen.

AN: Das stimmt. Im Vortrag wird natürlich der Bezug hergestellt, auch in diesem Buch wird das gemacht. Da werden immer kleine Geschichten zu den Bildern erzählt, erklärt, unter welchen Bedingungen die Bilder entstanden sind. Ich habe auch eine Fotoausstellung veröffentlicht, "Was wäre wenn?", zusammen mit der Anti-Atomorganisation ".ausgestrahlt" in Hamburg. Dort haben wir es genauso gemacht. Ein Bild ist nur so gut, wie die erklärenden Worte dazu.

Eine traurige, japanische Dame in ihrer Notunterkunft - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

'Mir ging es darum, in jedem Bild zu dokumentieren, wie es den Menschen vor Ort geht', Alexander Neureuter.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

SB: Wie nahe sind Sie an das Atomkraftwerk Fukushima selbst gekommen?

AN: Ich bin sieben Kilometer davon entfernt gewesen. Auf zwei Bildern sehen wir das. Einmal komme ich vierzehn Kilometer nahe heran. Von dem Bauernhof, der oben in den Hügeln liegt, kann man wunderbar die weißen Schornsteine des Atomkraftwerks sehen und die Kräne dort. Und später war ich an der Küste, nördlich von Fukushima in einer Stadt namens Ukedo. Ukedo ist natürlich ebenfalls evakuiert. Von dort aus sind es nur noch sieben Kilometer bis zu den havarierten Reaktoren. Natürlich ging das nur mit einer jeweiligen Erlaubnis der Behörden, die mir gestattet hatten, mich drei Tage in der Sperrzone aufzuhalten.

SB: Haben Sie die Strahlenbelastung dokumentieren können?

AN: Ja, ich habe bei einigen Aufnahmen, bei denen ich eine außergewöhnliche Strahlenbelastung gemessen habe, das Strahlenmeßgerät teilweise als Beweisstück ins Bild gebracht.

Das portable Strahlenmeßgerät von Alexander Neureuter zeigt hier sogar den doppelten Wert vor der offiziellen Meßstation an. - Foto: © by Alexander Neureuter

Die offiziellen Meßgeräte haben teilweise bis zu 30 Prozent weniger Strahlung angezeigt, als tatsächlich gemessen werden konnte. Hier sind es sogar 50 Prozent.
Foto: © by Alexander Neureuter

Am interessantesten war natürlich der direkte Vergleich bei offiziellen Meßgeräten, den sogenannten Measuring Posts [Meßstationen, Anm. d. SB-Red.]. Sie zeigten fast immer zehn Prozent, wenn nicht sogar zwanzig oder auch 30 Prozent zu wenig Strahlung an. Ich habe einige Bilder gemacht, auf denen man diese Diskrepanz wirklich ganz klar erkennen kann.

Mein Meßgerät, ebenfalls wie das offizielle auf Cäsium-137 geeicht, zeigt immer ungefähr das Doppelte an. Das entspricht auch den Greenpeace-Untersuchungen oder den Studien der japanischen Bürgernetzwerke, die diese Messungen dort selber durchführen.

SB: Waren die Bleiakkus von Ihren Meßgeräten also nicht um den Sensor gruppiert, wie an einigen Measuring Posts?

AN: Das ist eine der abenteuerlichen Geschichten, die Sie in meinem Vortrag noch hören werden.

SB: Haben Sie auch Strahlenwerte gemessen, so daß Sie lieber Ihre Ausrüstung geschnapppt haben und sich schleunigst aus dem Gebiet zurückgezogen haben?

AN: Ja, das gab es auch. Ganz ähnlich wie in Tschernobyl ist die erste Verhaltensregel für das Photographieren an solchen Orten: Stehenbleiben, das Meßgerät zücken und kurz überprüfen, ob ich im Moment auf sicherem Terrain stehe. Und da gab es wirklich Gebiete, beispielsweise eines, an dem ich auch später Proben genommen habe, die waren wirklich hochgradig belastet. [5]

Es gab Bereiche, in denen Strahlung teilweise 20 oder gar 30 Mikrosievert pro Stunde war, das entspricht dann etwa 160/170 Millisievert pro Jahr und ist dann das 160fache des hierzulande erlaubten Grenzwertes. Da heißt es dann wirklich, schnell ein Bild machen oder vielleicht sogar ein paar Meter zur Seite gehen, denn die Strahlung ist auch sehr unregelmäßig verteilt. Also, es kann sein, daß ein Gebiet sehr hoch verstrahlt ist, aber ein paar Meter weiter ist die Strahlung relativ normal. Wenn man eine Karte zeichnen würde, wäre das wirklich eine Art Flickenteppich. Es ist aber auch überhaupt nicht vorhersehbar, wie die Strahlung dort verteilt ist.

SB: Sind Sie bei Ihren Reisen durch die Provinz Fukushima auf viele abgesperrte Gebiete getroffen? Oder wie hat man sich das vorzustellen?

AN: Es gibt eine große Fallout-Fahne, die auch gleichzeitig das abgesperrte Gebiet markiert. Sie müssen sich das so vorstellen: Dieses 20 Kilometer Sperrgebiet, der kleine gelbe Kreis, ist vollkommen gesperrt für Menschen. Dann ist noch dieser rote Zipfel daran gehängt worden, der ungefähr bis 45 Kilometer in diesem Bereich fast in die Nähe von Fukushima-City hineingeht. Also, dieser Zipfel ist vollkommen dicht. Der nächste Ring, das 30 Kilometer-Gebiet, ist freiwillig evakuiert worden. Dort leben noch sehr viele Menschen. Denn es ist ihnen nur nahegelegt worden zu gehen. Für etwaige Verluste durch den Wohnungswechsel müssen sie selber aufkommen. Deshalb pulsiert auch in dieser großen Stadt Minamisoma immer noch das Leben.

SB: Gibt es außerhalb dieser offiziellen Sperrgebiete denn keine, in denen vor hoher Strahlung gewarnt wird, weil sich dort Radionuklide durch das Regenwasser akkumuliert haben oder etwas ähnlich Denkbares? Gibt es noch weitere, kleinere Sperrzonen innerhalb der vermeintlich sicheren Bereiche?

AN: Wir werden nachher Bilder sehen aus der Stadt Koriyama, die relativ wenig betroffen sein soll vom Fallout. Dort ist die Strahlung aber teilweise höher als in einigen Gebieten innerhalb der Sperrzone. Wir haben dort ein Gebiet untersucht, in dem Kinder zur Schule laufen. Ich habe Aufnahmen von Kindern, wie sie auf einem offiziell dekontaminierten Spielplatz Fußball spielen und die Strahlung beträgt dort 5,17 Mikrosievert pro Stunde. Hier in Deutschland ist sie normalerweise 0,072. Das zeigt also, daß die jungen Menschen dort das 80fache der Strahlung ertragen müssen, die wir hier haben.

Noch schlimmer war es auf einem Schulweg, dort haben wir sogar eine Belastung von 14,8 Mikrosievert gemessen und neben unserem Meßgerät laufen die Kinder in Turnschuhen, in kurzen Hosen und in T-Shirts die Straße entlang. Bei der gleichen Strahlenbelastung dürften Sie sich dort in Deutschland nur mit einem Schutzanzug unter Vollschutzatemausrüstung bewegen. Auch außerhalb der eigentlichen Sperrzone habe ich viele sogenannte Hot Spots ausmachen können, in denen sich teilweise sehr gefährliche Strahlendosen akkumuliert haben. Aber die waren offiziell nicht gesperrt.

SB: Wenn Sie Ihre Messungen und Aufzeichnungen mit der Karte von Fukushima abgleichen, hätten Sie die Evakuierungszonen dann größer gefaßt?

AN: Auf jeden Fall wesentlich größer. Und wenn man nicht alle Menschen aus einer 50 oder sogar 80 Kilometerzone evakuieren konnte, so hätte ich zumindest die Kinder und die Frauen dort herausgeholt. Die Männer lassen sich teilweise ja nicht eines Besseren belehren. Die sagen: "Wir müssen dort arbeiten, wir bleiben dort, wir sind stark." Aber die Frauen und die Kinder, die hätten vielleicht sogar aus der ganzen Präfektur Fukushima evakuiert werden müssen ...

Alexander Neureuter im Gespräch mit SB-Redakteur - Foto: © 2013 by Schattenblick

Erläuterungen anhand von Karten und Bilddokumenten
Foto: © 2013 by Schattenblick

Im zweiten Teil des Interviews beantwortet Alexander Neureuter Fragen zur neuen Lebenswirklichkeit der Menschen in Fukushima, welchen Problemen sie sich plötzlich gegenübersehen, wie sie damit fertig werden und warum er, um sich für diese Menschen einzusetzen, eine erfolgreiche Karriere mit einem risikoreichen Leben eingetauscht hat.

Anmerkungen:

[1] Den Bericht zum Fotovortrag "Fukushima 360 Grad" von Alexander Neureuter im Bürgerhaus am 7. November 2013 finden Sie hier:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0059.html

[2] Einen Einblick in die Arbeit von Alexander Neureuter erhält man auf seiner Webseite:
http://www.neureuters.de/

Einige Bücher zu den Reportagen sind bereits erschienen:
http://www.neureuters.de/bücher/
Ein Buch zum Thema Fukushima 360 Grad wird 2014 herausgebracht.

[3] siehe auch
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/brenn/ubge0001.html

[4] Näheres über die private Klinik, für die Alexander Neureuter in seinen Vorträgen wirbt, erfahren Sie im zweiten Teil des Interviews.

[5] In seinen Recherchen geht Alexander Neureuter auch dem schwarzen Staub nach, der in der freiwilligen Evakuierungszone gefunden wurde und hochgradig mit Uran und Plutonium kontaminiert war.

Eine weitere Berichterstattung des Schattenblicks zum Thema Fukushima finden Sie in den Rubriken:

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http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/brenn/ubge0001.html
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/brenn/ubge0002.html

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15. November 2013