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INTERVIEW/061: Fukushima - Der unverstellte Blick, Umweltjournalist Alexander Neureuter im Gespräch - 2. Teil (SB)


Interview mit Alexander Neureuter am 7. November 2013 in Heide/Holstein

Über das Leben in Fukushima und wie die Menschen es meistern oder daran scheitern



Wenn man auf das Thema Fukushima hierzulande zu sprechen kommt, geht es meist um Fragen, inwieweit die radioaktive Strahlung, die in Japan freigesetzt wird, die Menschen hierzulande betreffen könnte. Werden wir keine Fische mehr essen können, wenn Fukushima täglich 300 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser in den Pazifik laufen läßt (und das seit über zwei Jahren) und wie weit wird sich der radioaktive Fallout ausbreiten, wenn bei der geplanten Bergung von Brennstäben im Reaktor 4 nur ein kleiner Fehler passiert, sind derzeit tatsächlich die brennendsten Fragen. Alexander Neureuter ist selbst in verstrahlten Gebieten gewesen. Er hat eine Vorstellung davon gewonnen, wie die radioaktive Wirklichkeit für die Menschen aussieht, in deren unmittelbarer Nähe das passiert ist, was Atomkraftgegner schon immer befürchten. Das könnte im Ernstfall auch unsere Zukunft sein.

Entzündete Lampions aus Papier, worauf die Menschen ihre Bitten, ihren Protest oder ihre Sorgen geschrieben haben. - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

So sieht Protest gegen Atomkraft in Tokio aus, Japan.
Das reicht nicht, um etwas an den Verhältnissen zu ändern.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Wie geht es den Kindern in Koriyama, den Menschen in Minamisoma? Alexander Neureuter zeigte dem Schattenblick-Team Bilder aus der freiwilligen Evakuierungszone im Umkreis von 30 Kilometern um die verstrahlte Atomkraftwerksruine. Besonders die Bilder, die das stagnierende kulturelle Leben dokumentieren, sagen etwas darüber aus, was die Radioaktivität mit den Menschen dieser Region macht. Die Stimmung dort hat er mit Bildern eingefangen, zum Beispiel das eines verwaisten McDonald's Restaurants - eines von drei McDonald's, die auf der ganzen Welt schließen mußten. Die jungen Familien, die noch flexibel gewesen seien, wären in eine andere Region umgezogen. Die älteren und alten Menschen, die geblieben sind, essen keine mit Brötchen belegten Fleischfrikadellen, sondern bevorzugen die traditionellen Reis-, Fisch- und Nudelsuppen. McDonald's Restaurant mußte bereits zwei Monate nach dem Fallout schließen. Wie ernähren sich die Menschen? Wie gehen sie mit der täglichen, potentiellen Bedrohung um und was macht das ständige Leben mit der Furcht mit ihnen? Der Schattenblick fragte Alexander Neureuter vor seinem Vortrag "Fukushima 360 Grad" im Heider Bürgerhaus [1] nach seinen Eindrücken.

Schattenblick (SB): Wir haben im August 2011 nach dem Beginn der Fukushima Katastrophe mit einem Studenten aus der Stadt Fukushima telefoniert, der sich an der Bürgerinitiative CRMS (Citizens' Radioactivity Measuring Station), das heißt am Aufstellen der Bürgermeßstellen beteiligt hatte. [2] Das war eine Aktion in Verbindung mit der IPPNW, also der Internationalen Organisation Ärzte gegen Atomkraft, in der Sie ebenfalls Mitglied sind. Gibt es diese Bürgermeßstellen noch? Und wie werden sie heute von der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Alexander Neureuter (AN): Die gibt es immer noch. Ich erzähle in meinem Vortrag auch über eine Meßstelle in Iwaki City [3], die privat finanzierte "Tarachine-Meßstation für radioaktive Strahlung in Lebensmitteln". Diese Bürgermeßstellen gibt es tatsächlich immer noch.

Dort kommen also Hobbybauern oder Verbraucher, die etwas eingekauft oder die etwas geschenkt bekommen haben, und geben ein Kilogramm dieses Lebensmittels ab. Das wird dann zerkleinert, kommt anschließend in einen Meßbehälter und wird im Gerät mit hochmodernen Detektoren 30 Minuten lang durchgemessen. Danach erhält man eine detaillierte Auflistung über alle darin enthaltenen Radionukleide wie Cäsium-137 und 134, Kalium-40 und so weiter und ihre jeweilige Menge. Ich habe zum Beispiel das Bild einer Bäuerin aufgenommen, die gerade erfahren hat, daß ihr Reis deutlich über dem gesetzlichen Wert von 100 Becquerel pro Kilo liegt, die maximal erlaubt sind. Etwa 10 Prozent aller geprüften Lebensmittel liegen über diesem Wert.

Diese Bürgermeßstellen gibt es inzwischen in allen größeren Städten, überwiegend in Einkaufszentren, Bioläden, aber auch in den ersten Supermärkten. Wie in ihrer Haltung zu dem Unfall spalten sich die Bürger bei der Nutzung der Bürgermeßstellen in zwei Lager. Es gibt die gebildeten, um ihre Gesundheit besorgten Bürger, die sich bewußt ernähren, die meist Englisch sprechen und sich in ausländischen Zeitungen wie New York Times Online oder Spiegel Online darüber informiert haben, daß die Strahlung - anders als die japanische Regierung offiziell verlautbaren ließ - wirklich deutlich über dem gesundheitlich vertretbaren Maß liegen kann, und die nehmen diese Meßstellen wahr. Es gibt aber auch eine breite Masse von einfachen Menschen aus ländlichen Gegenden, die keinen großartigen Internet-Anschluß haben, weniger Englisch sprechen und leider der Regierung vertrauen. Die essen weiterhin Gemüse aus ihrem Garten, ohne es vorher messen zu lassen, obwohl das eigentlich die Menschen sind, die ihre Lebensmittel überprüfen lassen sollten. Und Bürgermeßstellen gibt es inzwischen wirklich viele. [4]

Mutter und Tochter beim Einkaufen mit Mundschutz in Fukushima City - Ihre Gesichter spiegeln deutlich ein ungutes Gefühl wieder - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Unsicherheit - Im Supermarkt gibt es Lebensmittel aus der Region und wesentlich kostspieligere, unverstrahlte Nahrung.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

SB: Wie werden die Menschen in Fukushima denn eigentlich davor geschützt, radioaktiv kontaminierte Nahrung zu sich zu nehmen? Und was geschieht mit den Nahrungsmitteln, bei denen man eine zu hohe radioaktive Belastung festgestellt hat? Werden die Produkte vernichtet, gewissermaßen als Sondermüll entsorgt? Wie geht man damit um?

AN: Die Grenzwerte sind an sich relativ strikt. 100 Becquerel pro Kilogramm ist der aktuelle Grenzwert in Japan, der liegt noch unter dem momentan in der Europäischen Union gültigen Wert. Allerdings werden die Lebensmittel nur sehr stichprobenartig überprüft.

Ich war in Tokio auf dem Fischmarkt und habe mir die Thunfisch-Auktion angesehen. Nur ungefähr bei jedem fünfzigsten Fisch wurde die Strahlung gemessen. Auch in den Supermärkten wird die Nahrung teilweise gar nicht kontrolliert, ansonsten nur sehr stichprobenartig. Die Lücken für verseuchte oder für belastete Nahrung sind demnach sehr, sehr groß.

Ich befürchte auch nicht ganz unbegründet, daß zum Beispiel bei Schulspeisungen und Kindergartenspeisungen ganz wissentlich kontaminierte Lebensmittel aus Fukushima verwendet werden, alleine um die lokale Wirtschaft und die Bauern dort in der Region zu unterstützen. Einer der Bilder in meinem Vortrag zeigt das Tagesmenü auf einer Tafel in der Mensa der Medizinischen Hochschule von Fukushima. Dort steht: "Voller Stolz servieren wir Daikon-Rettich aus der Fukushima Region. Wir nehmen unsere Verantwortung für die Wirtschaft und die soziale Bauernschaft ernst - wir unterstützen sie." [3]

Das ist in meinen Augen vollkommener Quatsch. Man sollte soviel Strahlung wie nur irgend möglich zu vermeiden suchen. In den Supermärkten selbst gibt es inzwischen teilweise zwei getrennte Regale, eines mit Lebensmitteln aus der Region Fukushima und eines mit Lebensmitteln aus weiter entfernten Präfekturen, die im Regelfall zwei- bis dreimal so teuer sind. Ich habe eine halbe Stunde dort in diesem Supermarkt verbracht, habe fotografiert, Menschen beobachtet. Achtzig Prozent haben die Lebensmittel von außerhalb der Präfektur gekauft und nur zwanzig Prozent haben die Lebensmittel aus Fukushima selbst gekauft.

Normales japanisches Frühstück mit Misosuppe, Tofu, Fisch, Natto, eingelegtem Gemüse und Reis mit rohem Ei - Foto: via Wikimedia Commons CC0, public domain

In Japan ißt man bereits zum Frühstück Fisch - ungefähr jeder fünfzigste Fisch wird auf Radioaktivitiät überprüft.
Foto: via Wikimedia Commons CC0, public domain

SB: Macht sich dabei schon eine gewisse soziale Trennung in der Ernährung bemerkbar, so daß beispielsweise Menschen, die ökonomisch nicht so gut gestellt sind, tendenziell eher eine stärker kontaminierte Nahrung zu sich nehmen, während die reicheren das vermeiden können?

AN: Ganz genau. Wer es sich leisten kann, vermeidet kontaminierte Nahrung: Ich habe eine Kindergärtnerin interviewt, die im 8. Monat schwanger war, als der Unfall passierte. Das Kind ist zum Glück gesund geboren worden, aber sie spürt heute den Unfall immer noch. Ihr Vater ist ein sehr erfolgreicher Hobbybauer, hat wunderbare Dinge in seinem Garten, und der sagt ihr jeden Tag: "Nein, du bekommst meinen Brokkoli, meinen Porree, meinen Salat nicht. Wir wissen, der ist radioaktiv belastet. Du mußt für dich und dein Kind die Lebensmittel im Supermarkt aus den unbelasteten Regionen kaufen." Das heißt, es gibt auch solche Beispiele, in denen die Älteren zu ihren Kindern sagen, ihr bekommt unser verstrahltes Zeug nicht, auch wenn es nur geringfügig kontaminiert ist.

SB: Wie schätzen Sie die Lebensmittelversorgung überhaupt in Japan ein? Wenn die belasteten Produkte wegfallen, reicht der Rest denn überhaupt aus, um die gesamte Bevölkerung mit nicht kontaminierter Nahrung zu versorgen?

AN: Meiner Ansicht nach müßte eine mindestens dreißig, wenn nicht sogar fünfzig Kilometer breite Zone um den Reaktor für die landwirtschaftliche Erzeugung komplett aufgegeben werden.

Es gibt erste Überlegungen, daß Tepco zumindest die 20-Kilometer-Zone erst einmal aufkauft und diese Zone zunächst für unbestimmte Zeit als Brachland liegengelassen wird. Doch wie wir schon sagten, ist auch die Kontamination außerhalb dieser Zone beträchtlich. Da hilft wirklich nur ein ganz lückenloses Kontrollsystem. Das Bewußtsein der Bevölkerung müßte für diese Probleme dahingehend sensibilisiert werden, daß sie Druck auf die Politik ausübt, damit endlich ein lückenloses Kontrollsystem installiert wird.

Geordnet in Dreierreihen und ohne den Verkehr zu behindern marschieren die Menschen auf dem Fußweg einer Straße in Tokio. - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Protestmarsch auf japanisch. Die Bevölkerung müßte mehr Druck ausüben, um ein lückenloses Kontrollsystem zu erreichen.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Ich habe selber erlebt, daß in der 30-Kilometer-Zone, die freiwillig evakuiert werden konnte, aber zum großen Teil stark kontaminiert ist, bei den Reisbauern, die dort geblieben sind und nun ihren Reis nicht verkaufen dürfen, weil er zu stark kontaminiert ist, große japanische Lebensmittelkonzerne vorfahren und diesen kontaminierten Reis für ein Drittel des Marktwerts aufkaufen. Die sagen dann zu den Bauern: "Weißt du was, du kannst deinen Reis ohnehin nicht verkaufen. Bis du von Tepco Geld bekommst, dauert es sehr, sehr lange. Wir zahlen gleich." Und dann wird der Reis wirklich am nächsten Tag abgeholt. Er wird Richtung Süden gefahren und dort mit unkontaminiertem Reis solange gemischt, bis er nur noch knapp unter 100 Becquerel pro Kilo aufweist. Dann deklariert man ihn als Reis aus Südjapan, und rechtlich hat keiner etwas dagegen in der Hand. Natürlich liegt das, was dann weiter verkauft wird, unterhalb des Grenzwertes. Aber daß man jede Radioaktivität vermeiden sollte, daß jede Radioaktivität, egal, wie groß sie ist, zu Krebsschäden, zu Spätschäden führen kann, das begreifen die Menschen dort im Moment noch nicht.

SB: Also noch ein Beispiel für Lug und Trug, die unmittelbar mit der Nutzung von Kernenergie einhergehen. Ein einziges Radionuklid, das man einatmet und das sich zur falschen Zeit an einem neuralgischen Punkt spaltet, kann Krebs auslösen. [5]

AN: Genau.

SB: Hat Sie dieser Verrat an den Menschen dazu bewogen, sich an einer privaten Klinik auf ehrenamtlicher Basis zu beteiligen? Sie sprachen darüber, daß Sie den Erlös aus dem Verkauf Ihres Buches dem Projekt der unabhängigen Fukushima Collaborative Clinic zukommen lassen wollen und werben auch in Ihren Vorträgen um die Unterstützung dieses Krankenhauses.

AN: Genau. Das japanische Gesundheitssystem ist in gewisser Weise staatlich gelenkt. Die Ärzte sind zu über 80 Prozent in Ärztekammern organisiert. Und nun geschieht etwas ganz ähnliches wie auch damals in Tschernobyl, als den Ärzten einfach untersagt wurde, in den ersten fünf Jahren einen Bezug zwischen dem Reaktorunfall und den verstärkt auftretenden Fällen von Schilddrüsen- und Leukämieerkrankungen herzustellen. Fünf Jahre nach dem Unfall wurden dann die Krebsstatistiken veröffentlicht. Das gleiche passiert im Moment in Fukushima. Es gibt einen zentralen Gesundheitsberater, der hat auf den ersten Blick etwas Gutes gemacht. Er forderte für alle 360.000 Kinder unter 18 Jahren ein kostenloses Schilddrüsenscreening.

Das ist ein richtiger Schachzug. Das Schlechte daran ist, daß er die Ärzte in einem Brief angewiesen hat, keine dieser kostenlosen Untersuchungen dürfe länger als fünf Minuten dauern. Und eine Schilddrüsenuntersuchung mit Abtasten und Ultraschall kann man einfach nicht in fünf Minuten erledigen. Darüber hinaus hat er die Ärzte angewiesen, es dürften den Eltern keine Untersuchungsunterlagen mitgegeben werden, in denen die Befunde stehen. Statt dessen hat er den Ärzten vorgeschrieben zu sagen, die Größe der Knoten oder Zysten, die gefunden wurden, sei vertretbar und die Kinder müßten nach zwei Jahren das nächste Mal vorstellig werden. Das heißt, die nächste Untersuchung ist in zwei Jahren.

Das ist unverantwortlich. Es ist unverantwortlich, den Eltern nicht ganz offen zu sagen, dein Kind hat so und so viele Knoten und die haben diese Größe. Es ist unverantwortlich, keine Blutuntersuchung zu machen, wenn Knoten gefunden wurden, denn im Blut kann man schon die ersten Krebsmarker feststellen. Es ist unverantwortlich, nicht sofort eine Gewebeprobe zu entnehmen, also keine Biopsie zu machen, wenn der Knoten mehr als 5 Millimeter groß ist. Es ist unverantwortlich, den Eltern nicht den Untersuchungsbericht mitzuteilen, und es ist unverantwortlich, bei Kindern, die ja sehr schnell wachsen, erst in zwei Jahren die nächste Untersuchung anzuberaumen. Nach spätestens drei Monaten muß das passieren! Denn das Zellwachstum ist bei Kindern sehr viel schneller. Krebszellen wachsen da geradezu rasant. Das ist mit Erwachsenen nicht zu vergleichen.

Damit diese Kinder angemessene Hilfe bekommen, haben sich nun einige Ärzte unter Federführung des ehemaligen Direktors des japanischen Krebsforschungszentrums in Tokio, Herrn Dr. Hiroto Matsue, zusammengeschlossen und die Fukushima Collaborative Clinic gegründet, in der überwiegend Kinder kostenlos untersucht werden können. Die Untersuchungen werden gründlich durchgeführt, sie dauern bis zu fünfundzwanzig Minuten. Die Eltern sind dabei. Es werden anschließend die Befunde und die Bilder vom Ultraschall besprochen, und wenn Auffälligkeiten vorhanden sind, wird auch ein Gentest und ein Bluttest gemacht und das Kind wird dann spätestens nach drei Monaten erneut untersucht.

Ich war einen ganzen Tag dort, ich habe mir die Ärzte angesehen, die technische Ausstattung, die hervorragend, aber natürlich geleast ist. Alle Ärzte, alle Krankenpflegerinnen, Krankenschwestern, die teilweise aus tausend Kilometern Entfernung kommen, arbeiten ehrenamtlich, und diese Menschen verdienen einfach meine Unterstützung und auch die Unterstützung von den Menschen, denen ich davon erzähle. Und deswegen sammle ich eben Geld dafür, zusammen mit einigen anderen, die ebenfalls Vortragsreisen machen und dafür sammeln.

Ein japanischer Junge zeigt dem Fotografen das Dosimeter, das er an einem Halsband trägt - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Alltag in Fukushima - Kinder tragen ein Personendosimeter.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

SB: Welchen Eindruck haben Sie von der Stimmung in der Provinz Fukushima? Glauben die Menschen die offiziellen Darstellungen eigentlich noch und wie werden sie damit fertig, zusätzlich zu der Furcht vor atomarer Verstrahlung?

AN: Das ganze Land ist gespalten. Es ist genauso gespalten wie die Atome, die in Fukushima gespalten wurden, deswegen wird auch mein Buch den Untertitel haben: "Das atomgespaltene Leben der Opfer von Fukushima". Etwa fünfundzwanzig Prozent der Japaner gehören einer Schicht an, die Englisch spricht, besser informiert ist und die Gesamtsituation hinterfragt. Diese Menschen überlegen, die Region zu verlassen oder auch eventuell rechtliche Schritte gegen den Betreiber des Kernkraftwerks Fukushima, Tepco, einzuleiten. Aber es gibt eben auch diese breite Mehrheit, ungefähr 75 Prozent, die einfach blind der Regierung folgen. Das hat auch etwas mit der Mentalität zu tun. Der Japaner lernt sehr früh, sich einzugliedern, nicht aufzufallen, keine unangenehmen Fragen zu stellen und nicht aus einer Masse hervorzuragen. Und 75 Prozent auch der Menschen, die ich persönlich kennengelernt habe, versuchen eher, sich zu integrieren und halten das, was die Regierung verspricht, nach wie vor für wahr. Auch die Medien sagen nicht die ganze Wahrheit, weil sie finanziell von der Atomindustrie abhängig sind. Doch ganz gleich, ob die Menschen der Regierung trauen oder skeptisch sind, keiner kann in Fukushima noch ruhig schlafen. Letztlich haben alle dieses ungute Gefühl, daß irgendetwas nicht in Ordnung ist.

SB: Wie sehen Sie das im Vergleich zu Deutschland? Es gibt den Leukämiecluster in der Elbmarsch, es gibt eine Studie zu Kinderkrebs um Kernkraftwerke in Süddeutschland.

AN: Die KiKK-Studie?

SB: Die KiKK-Studie, genau. Angeblich haben die dort festgestellten Häufungen an Krebserkrankungen auch keinen Zusammenhang mit der Nutzung von Kernkraft. Würden Sie sagen, daß die Deutschen hier besser von der Regierung oder von der Wirtschaft behandelt werden als die Japaner von ihrer Regierung?

AN: Ich wage mal zu behaupten, daß bei einem Unfall wie in Fukushima die Probleme hier genau die gleichen wären. Die Hilflosigkeit der Behörden wäre mit Sicherheit vergleichbar. Schauen wir uns nur mal an, daß hierzulande momentan im Schadensfall Evakuierungsradien von nur fünf, zehn und zwanzig Kilometern um die Kernkraftwerke angedacht sind. Wir sehen sowohl in Tschernobyl als auch in Fukushima, daß das nicht reicht. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat im letzten Jahr eine Studie herausgebracht, daß die Menschen bis zu 170 Kilometern Entfernung um ein havariertes Kernkraftwerk herum evakuiert werden müßten, je nach Windrichtung, die bekanntlich unvorhersehbar ist. Das heißt, in Krisenzeiten würde in jedem Land der Welt, auch bei uns, eine vergleichbare Situation entstehen. Weil sich der Katastrophenschutz nicht vorstellen kann, wie die Menschen dann reagieren. Der Katastrophenschutz geht beispielsweise davon aus, daß alle Mitarbeiter im Ernstfall sofort in die Sperrzone gehen würden und dort ihre Arbeit machen. Sie rechnen nicht damit, daß auch hier genauso wie in Japan Menschen in dem entstehenden Chaos einfach versuchen werden, ihre Familien zu retten und zu fliehen. Das ist bei Tepco in Japan passiert, aber auch beim dortigen Katastrophenschutz. Und das würde hier auch passieren. Das ist eine ganz natürliche, menschliche Reaktion.

Wir haben es also nicht allein mit einem japanischen Problem zu tun, sondern mit einer weltweiten, potentiellen Gefahr. Atomkraft ist nicht sauber, sicher und erschwinglich, wie man uns weismachen wollte. Sowohl Tschernobyl als auch Fukushima zeigen genau das Gegenteil. Der Mensch und die Atomkraft passen nicht zusammen. Ranga Yogeshwar hat einmal gesagt: "Die Atomkraft verzeiht keine Fehler". Eine Millisekunde, eine Nanosekunde fällt irgendwo, irgendwas aus, und dann ist die Katastrophe da. Dann kann man den Reaktor nicht mehr einfangen. Die Atomkraft verzeiht keine Fehler und ist nicht beherrschbar. Das ist der entscheidende Punkt, an dem spätestens auch so ein Land wie Deutschland kapitulieren und sagen muß: "Wir wußten nicht, wie schlimm so ein Katastrophenszenario sein wird."

Ein Sicherheitsbeamter vor der Straßensperre. Er hat seinen Mundschutz nicht vorschriftsmäßig vor Nase und Mund, trotz Kontaminationsgefahr - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Beginn der Sperrzone in Ukedo, Fukushima
In Krisenzeiten würde in jedem Land der Welt, auch bei uns, eine vergleichbare Situation entstehen.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

SB: Gab es einmal eine Situation, in der Sie die Kamera am liebsten weggelegt hätten, weil Ihnen das Geschehen vor der Linse zu nahe ging?

AN: Ja, die gab es. Es gab eine Situation, die mich während der Aufnahmen der Schilddrüsen-Untersuchung des sechsjährigen Mädchens, das vorher noch nie untersucht worden war, nahe an den Rand der Tränen gebracht hat. Ich habe die Mutter photographiert, die dabei war und die Krebsspezialistin am Ultraschallgerät, wie sie dann 13 kleine Knoten in der Schilddrüse von diesem sechsjährigen Mädchen gefunden hat. Ich habe mit meiner Kamera den Moment festgehalten, in dem der Chefarzt das Ultraschallbild der Mutter zeigt und sie erfährt, daß Ihre Tochter aller Wahrscheinlichkeit nach Krebs haben wird. Das war wirklich die Situation, in der ich mich für das Bild geschämt habe, weil ich das Gefühl hatte, unangemessen in die privateste Privatsphäre dieser Dame eingedrungen zu sein. Aber sie hatte mir ausdrücklich erlaubt, darüber zu berichten, weil sie wollte, daß ich auf diese Klinik, auf das Schicksal der Kinder in Fukushima und auch letztendlich ihrer Tochter aufmerksam mache. Aber dieses Bild, das geht mir immer noch sehr sehr nah. Ich kenne den Namen des Mädchens natürlich, und ich stehe in Kontakt mit der Familie und werde weiter verfolgen, was mit diesem Mädchen geschieht, und das Buch [6] wird hoffentlich fortgesetzt werden.

SB: Wollen Sie uns noch verraten, was Ihre nächsten Projekte sind?

AN: Ja. Ich arbeite mit dem ZDF zusammen zum Thema "Altlasten in der Altmark". Das ist um das Gebiet Salzwedel herum. Dort hat es während der DDR-Zeit Europas größte Erdgasförderung gegeben. Und im Rahmen dieser Erdgasförderung sind sehr viele sogenannte Nebenkomponenten mitgefördert worden. Das waren Begleitstoffe wie Quecksilber, Blei und auch Radium, also teilweise ebenfalls radioaktive Produkte. Es gibt über hundert Fälle von Quecksilbervergiftungen unter den Erdgasarbeitern. Darüber werde ich mit dem ZDF zusammen im Dezember eine Folge des Umweltmagazins "Planet E" drehen, das immer sonntags gesendet wird. Das zweite große Projekt betrifft den Braunkohletagebau in der Lausitz. Dabei wird es um das Thema Heimat gehen. Denn dort werden ganze Dörfer und eine wunderschöne Kirche von 1492 in Atterwasch den Braunkohlebaggern zum Opfer fallen. Das ist eine atemberaubende Geschichte.

SB: Da bleibt uns nur, Ihnen weiterhin viel Erfolg zu wünschen und daß Sie die Zeit in Fukushima gesundheitlich gut überstanden haben. Vielen Dank für das Gespräch.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Menschen in Fukushima verdienen meine Unterstützung und auch die Unterstützung von den Menschen, denen ich davon erzähle.
Alexander Neureuter beim Vortrag im Heider Bürgerhaus.
Foto: © 2013 by Schattenblick


Anmerkungen:

[1] Den Bericht des Schattenblick zum Fotovortrag "Fukushima 360 Grad" von Alexander Neureuter im Bürgerhaus am 7. November 2013 finden Sie hier:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0059.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/urdi0003.html

[3] Einen Einblick in die Arbeit von Alexander Neureuter erhält man auf seiner Webseite:
http://www.neureuters.de/
weitere Bilder (wie das der Bürgermeßstation in Iwaki City) aus Fukushima siehe:
http://www.neureuters.de/umwelt/fukushima/

[4] Aktuelle Informationen zu den Bürgermeßstellen aus dem "Strahlentelex":
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/internat/uika0064.html

[5] Darüber sprach Alexander Neureuter mit dem SB-Team im ersten Teil des Interviews:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0060.html

[6] Einige Bücher zu den Reportagen sind bereits erschienen:
http://www.neureuters.de/bücher/
Ein Buch zum Thema Fukushima 360 Grad wird 2014 herausgebracht.


Eine weitere Berichterstattung des Schattenblicks zum Thema Fukushima finden Sie in den Rubriken:

Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → BRENNPUNKT → GEFAHR
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/brenn/ubge0001.html
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/brenn/ubge0002.html

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17. November 2013