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FORSCHUNG/281: Neues Informationssystem für den Hochwasserschutz in Bitterfeld (idw/UFZ)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - 15.01.2009

Neues Informationssystem für den Hochwasserschutz in Bitterfeld


Bitterfeld. Ein internetgestütztes Entscheidungshilfesystem ermöglicht jetzt bessere Vorhersagen, wo das Wasser nach einem Deichbruch wie hoch steht. Zusätzlich gibt das System Auskunft über mögliche Schadstoffbelastungen durch das Hochwasser. Entwickelt wurde das Schadstoffausbreitungsmodell von Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Magdeburg, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, dem Institut für Umweltsystemforschung der Universität Osnabrück und dem Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden.

Dazu nutzten sie ein verbessertes digitales Höhenmodell der Region und berechneten für verschiedene mögliche Hochwasser Strömungsgeschwindigkeiten, Wasserstände und Schadstoffkonzentrationen.

Beim Hochwasser 2002 musste über die Hälfte der 16.000 Einwohner Bitterfelds evakuiert werden. Die Schäden in Bitterfeld und Umgebung wurden auf ca. 70 Millionen Euro geschätzt. Die Flutung des Tagebaurestsees Goitzsche hatte damals Bitterfeld vor noch höheren Überschwemmungen bewahrt. Als problematisch hatte sich später ausgelaufenes Öl aus ungesicherten privaten Heizöltanks herausgestellt, das aus überfluteten Häusern ins Flusswasser gelangt war. Bei derartigen Überschwemmungen wird der Katastrophenschutz künftig schneller entscheiden können, welche Gebiete evakuiert werden müssen und welche Schutzmaßnahmen nötig sind.

Hochwasserschäden entstehen nicht nur durch die zerstörerische Kraft des Wassers selbst. Mitunter führen die Fluten auch noch einen gefährlichen Schadstoff-Cocktail mit sich, den sie in den überschwemmten Gebieten verteilen. Ein Teil dieser Substanzen stammt aus gefluteten Industriebetrieben, Kläranlagen, Öltanks und den oberhalb gelegenen Bergbaugebieten. Doch auch die Böden enthalten oft Belastungen von Dünge- und Pflanzenschutzmittel, Schwermetallen und anderen Kontaminanten, die von den Fluten mitgerissen und später anderenorts wieder abgelagert werden. Wer die Hochwasserrisiken umfassend managen will, muss auch das Schicksal dieser Schadstoffe berücksichtigen. Wo landet die giftige Fracht? Und welche Konsequenzen hat das für die spätere Nutzung der überfluteten Flächen? Mit diesen Fragen haben sich die Wissenschaftler in dem vom Bundesforschungsministerium geförderten Forschungsvorhaben SARISK beschäftigt. Untersuchungsgebiet ist ein besonders hochwassergefährdeter und schadstoffverdächtiger Abschnitt der Mulde. Dieser Nebenfluss der Elbe fließt durch die Industrieregion Bitterfeld-Wolfen, deren Bodenkontaminationen gut bekannt sind. Zudem sind Gewässer und Aue mit Schwermetallen belastet, die vom Haldenmaterial des Altbergbaus im Kupfer-, Zinn- und Uranbergbau des Erzgebirges herrühren.

Das August-Hochwasser des Jahres 2002 hat große Mengen dieser in Jahrzehnten abgelagerten Schadstoffe mitgerissen und umgelagert. Dabei ist ein Teil der giftigen Fracht auch in Siedlungen gelandet. So haben UFZ-Wissenschaftler nach der Flut in den Orten entlang der Mulde erhöhte Arsenkonzentrationen im Hochwasserschlamm gemessen. Um Gesundheitsgefahren zu vermeiden, haben die Behörden vorsorglich den Sand auf Spielplätzen austauschen und den Boden von Sportanlagen und Parks tief umgraben lassen.

Für künftige extreme Überschwemmungen sollen solche Risiken nun besser einschätzbar sein. Daher untersuchen die SARISK-Wissenschaftler, wie sich die Ausbreitung solcher Schadstoffe möglichst genau berechnen lässt. Dazu koppelten sie mehrere Computermodelle, um alle am Transport beteiligten Vorgänge erfassen zu können. Für dieses komplizierte Gesamtmodell brauchten sie nicht nur die üblichen Bausteine wie ein Modell der Geländeoberfläche und Informationen zu den Abflussverhältnisse. Zusätzlich muss der Computer auch ausrechnen können, wo die Strömung Sedimente mit Schadstoffen abträgt, wie weit sie das mitgerissene Material transportiert und wo sie es wieder ablagert.

So lässt sich auf dem Bildschirm durchspielen, wie sich Wasser- und Sedimentbewegungen bei unterschiedlich starken Hochwasser-Ereignissen verändern. Die Forscher haben dabei verschiedene Szenarien simuliert. Darunter sind auch solche, in denen das Muldegebiet noch deutlich größere Wassermassen zu verkraften hätte, als bei der Katastrophenflut im August 2002. Wären die großen Niederschläge damals etwas weiter westlich niedergegangen, dann hätten sich die Regenmassen nicht auf die Einzugsgebiete von Oberer Elbe und Mulde aufgeteilt, sondern wären komplett über dem Muldegebiet niedergegangen. Das hätte damals im Raum Bitterfeld zu noch deutlich höheren Pegelständen geführt. Umfassend durchgeführte Deicherhöhungen, -neubauten und -sanierungen in dieser Region nach dem Hochwasser 2002 haben dazu geführt, dass nach den Modellszenarien auch noch bei einem Hochwasser, das einmal in zweihundert Jahren zu erwarten ist, ein ausreichender Schutz besteht.

Erst bei noch extremeren Verhältnissen wie einem fünfhundertjährigen Hochwasser sähe es für Bitterfeld nicht gut aus. Die Berechnungen zeigen, dass die Stadt östlich der Leine innerhalb weniger Stunden komplett überschwemmt würde, wenn die Deiche oberhalb des Muldestausees nicht standhielten. Bis zur totalen Überflutung mit Wassertiefen von bis zu einem Meter blieben nach den Berechnungen der Forscher etwa 18 Stunden Vorwarnzeit. Unter der Annahme, dass die Bahnunterführungen südlich des Chemieparks geschlossen werden können, wie dies bereits 2002 erfolgte, und der Bahndamm den anstehenden Wassermassen standhält, käme es jedoch auch unter diesen extremen Bedingungen nicht zur Überschwemmung des Chemieparks.

Wie sich Schadstoffe bei einem Hochwasser im Gelände verteilen, hängt aber nicht nur vom Ausmaß der Überflutungen und von den Strömungsverhältnissen ab, sondern auch von den chemischen und physikalischen Eigenschaften der jeweiligen Substanzen. Deshalb haben die Wissenschaftler von SARISK auch einen Modellbaustein entwickelt, der die Freisetzung und Ausbreitung einzelner Schadstoffe simulieren kann. Für verschiedene Hochwasserszenarien lässt sich so abschätzen, auf welchen Flächen des Untersuchungsgebietes welche Mengen Arsen, Blei, Quecksilber, Zink oder Cadmium abgelagert werden. Auch die Wege der Pestizide Hexachlorcyclohexan (HCH) und DDT sowie des Heizöls aus leckgeschlagenen Tanks kann man auf dem Bildschirm verfolgen. Dabei liefern die Modelle plausible Ergebnisse. Die berechneten Werte für Blei- und Arsenbelastungen stimmen gut mit tatsächlich nach Hochwassern gemessenen Werten überein.

Die Ergebnisse solcher Simulationen bewerten die Wissenschaftler von SARISK dann mit speziellen Rechenverfahren. Sie wollen sich ein Bild davon machen, welche Risiken von den Schadstoffbelastungen der einzelnen Flächen tatsächlich ausgehen. Also analysierten sie beispielsweise, in welchem Umfang die einzelnen Schadstoffe aus dem Boden in Nutzpflanzen und Viehfutter aufgenommen werden und später auch im menschlichen Körper landen können. Die von den jeweiligen Substanzen ausgehenden Gesundheitsrisiken versuchen sie in Zahlen und Formeln zu fassen und räumlich zu verorten, um die Brennpunkte nach einem Hochwasser zu erkennen. Aus solchen Berechnungen lassen sich dann Risikokarten für die verschiedenen Bereiche des Untersuchungsgebietes entwickeln, die der Stadt und dem Landkreis Bitterfeld den Umgang mit stoffbezogenen Hochwasserrisiken erleichtern sollen. Damit die Mitarbeiter der Verwaltung nicht stapelweise Karten wälzen müssen, wurden alle Ergebnisse in ein internetbasiertes Informations- und Entscheidungshilfesystem eingespeist.


Ansprechpartner
Dr. Wolf von Tümpling
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Tel. 0391-810-9300
http://www.ufz.de/index.php?de=1947
und
Michael Böhme
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Tel. 0391-810-9449
http://www.ufz.de/index.php?de=2284
oder über
Tilo Arnhold (UFZ-Pressestelle)
Telefon: 0341-235-1635
E-mail: presse@ufz.de

Prof. Cornelia Gläßer,
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,
Institut für Geowissenschaften,
AG Geofernerkundung
0345-55-26020
cornelia.glaesser@geo.uni-halle.de

Prof. Dr. Michael Matthies,
Universität Osnabrück,
Institut für Umweltsystemforschung
0541-969-2576
matthies@uos.de

Dr. Jochen Schanze
Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR)
Tel. 0351-4679-228
http://www.ioer.de/index.php?id=420

Weiterführende Links:
Entwicklung eines Schadstoffausbreitungsmodells zur stoffbezogenen Risikoanalyse und -bewertung
extremer Hochwasserereignisse am Beispiel des Landkreises und der Stadt Bitterfeld - SARISK
http://www.ufz.de/btf/ BMBF-Förderaktivität "Risikomanagement extremer Hochwasserereignisse" (RIMAX)
http://www.rimax-hochwasser.de/


Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg 900 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert. Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit 25.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 15 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 2,3 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des großen Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).

Das Institut für Umweltsystemforschung (USF) der Universität Osnabrück wurde 1994 als interdisziplinäres Institut der Universität Osnabrück gegründet. Die Forschungsarbeiten des USF umfassen die integrierte Beschreibung und Analyse des Zustandes der Umwelt und deren Kompartimente, die Analyse ihrer stofflichen Umsetzungen und die Entwicklung von Problemlösungen. Hierfür werden mathematisch- naturwissenschaftliche Verfahren der Modellbildung eingesetzt, die zum Ziel haben, Umweltsysteme zu verstehen, ihre stofflichen Belastungen zu prognostizieren und deren Auswirkungen auf Mensch und Ökosysteme zu bewerten. Dazu werden Stoffbilanzen auf nationaler, regionaler und betrieblicher Ebene erstellt und Umweltmanagementsysteme entwickelt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beschreibung und Analyse von sozialen Systemen und Entscheidungsprozessen in Mensch-Technik-Umweltsystemen. Methoden der akteursbasierten Analyse und Modellierung werden mit partizipativen Verfahren verknüpft, um die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt besser zu verstehen und mit den beteiligten Akteuren Innovationsprozesse in Gang zu setzen.

Die Fachgruppe Geofernerkundung und Kartographie des Institutes für Geowissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entwickelt Methoden zur optimierten Auswertung und Nutzung von Flugzeug- und Satellitenbilddaten für vielfältigen thematische Fragestellungen aus den Bereichen der Geowissenschaften, der Umweltforschung und der Ressourcennutzung.

Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) erforscht die Anforderungen an eine dauerhaft-umweltgerechte Regional-, Stadt- und Landschaftsentwicklung. Es untersucht die Wirkungszusammenhänge zwischen Raumnutzungen und natürlicher Umwelt, bewertet Strategien und entwickelt Ansätze für eine nachhaltige Raumentwicklung im nationalen, europäischen und internationalen Kontext. Dabei spielen der Klimawandel und der demographische Wandel und ihre Auswirkungen auf die künftige Umwelt- und Raumentwicklung eine große Rolle. Forschungsschwerpunkte sind Umweltqualität in Städten und Regionen, Ressourceneffizienz von Siedlungsstrukturen, Umweltrisiken in der Stadt- und Regionalentwicklung (mit Fokus auf Hochwasserrisikomanagement) sowie das Monitoring der Siedlungs- und Freiraumentwicklung. Darüber hinaus setzt sich das IÖR mit Fragen der europäischen Raumentwicklung und ökologischen Belangen in der Entwicklung von Grenzräumen sowie mit Transformationsprozessen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa auseinander.


Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.ufz.de/btf/ - SARISK
http://www.rimax-hochwasser.de/ - RIMAX

Zu dieser Mitteilung finden Sie Bilder unter der WWW-Adresse:
http://idw-online.de/pages/de/image83053
Hochwasser August 2002: Überflutete Tankstelle bei Bitterfeld

http://idw-online.de/pages/de/image83054
Hochwasser August 2002: Der Goitzsche-See bei Bitterfeld

Die gesamte Pressemitteilung inkl. Bilder erhalten Sie unter:
http://idw-online.de/pages/de/news296435


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ, Tilo Arnhold, 15.01.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2009