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BERICHT/055: Ethnotourismus - Eine Reise zu den anderen (Agora/Uni Eichstätt-Ing.)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2006

Eine Reise zu den anderen

Von Oliver Hauswald


Die kulturelle Differenz von Gastgebern und Gästen macht Ethnotourismus attraktiv. Ethnizität jenseits folkloristischer Inszenierung bietet den indigene Gruppen Chiles Partizipationsmöglichkeiten auf dem globalen Tourismusmarkt.


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Nach einem kleinen Ausflug zur Insel Llepu im Budi-See kehren wir ins Haus der Familie Nahuel zurück. Rosaha hat bereits das Essen gekocht und die ganze Familie, nebst Großmutter und Kindern, versammelt sich am Tisch. Als europäischer Gast fühlt man sich anfangs fremd im Haus dieser Mapuche-Familie im Süden Chiles. Der Boden besteht aus gestampftem Lehm, die Ausstattung der Küche ist spartanisch und die bunten Trachten und Kleider, mit denen die Tourismusbroschüren die Ureinwohner Chiles bewerben, sucht man hier vergebens. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Im Gegenteil: bei einem gemeinsamen Mate-Tee kommt es zu einem intensiven Gespräch, bei dem beide Seiten sich für den jeweils anderen interessieren. Der Besucher erhält das Gefühl, einen authentischen Einblick in die räumliche und gedankliche Lebenswelt dieser indigenen Familie zu bekommen. Abseits der touristischen Massenströme sieht man sich selbst in der Erfüllung einer grundlegenden Reisemotivation: "Land und Leute kennen lernen".

Dieses Beispiel verdeutlicht wie Ethnotourismus funktionieren kann. Die Attraktivität dieser Begegnung entsteht vor allem aus der kulturellen Differenz zwischen Gästen und Gastgebern. Insbesondere indigene Gruppen, denen zumeist eine gewisse Exotik unterstellt wird, sind häufig Ziel einer solchen Reise. Die "Indianer" Nord- und Südamerikas beispielsweise, die Aborigines in Australien oder die Tuareg in der Sahara evozieren Vorstellungen von angepasster Lebensweise und einer Kosmologie, die scheinbar einen Gegenentwurf zur westlich-großen Hegemonialkultur darstellen. Aus touristischer Sicht werden Ethnizität und kulturelle Praxis damit zu einem Wirtschaftsgut, das (auch aktiv) in Wert gesetzt werden kann. Die Untersuchung touristischer Partizipationsmöglichkeiten lokaler indigener Gruppen im globalen Tourismusmarkt bildet den Fokus eines auf zwei Jahre angelegten DFG-Forschungsprojekts unter Leitung von Prof. Dr. Hans Hopfinger (Lehrstuhl für Kulturgeographie). Dabei geht es nicht um den Ausverkauf von angeblich "authentischer" Kultur oder deren folkloristischer Inszenierung. Im Blickpunkt steht vielmehr der tägliche Umgang mit Ethnizität, Identität und Tourismus und zwar aus der Perspektive der indigenen Gruppen selbst.

Chile bietet hervorragende Bedingungen für eine derartige Untersuchung. Der Tourismus hat sich in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Für die primär auf Exportprodukten (Kupfer, Früchte, Holz etc.) basierende Ökonomie bietet er eine wichtige wirtschaftliche Diversifikation. Zudem erkennt der chilenische Staat seit 1993 acht indigene Minderheiten als so genannte "pueblos originarios" an. Jahrzehntelang waren diese Gruppen einer "Chilenisierung" ausgesetzt - die kulturelle Vielfalt des Landes sollte in einer einheitlichen chilenischen Gesellschaft aufgehen. Die heute wieder einsetzende Betonung kultureller Eigenständigkeit führt zu einer auch politisch forcierten Re-Ethnisierung. Aus dem lange vorherrschenden Diktum "Somos Chilenos" ("Wir sind Chilenen") wird wieder ein vielstimmiges "Somos Aymaras" oder "Somos Mapuche". Ziel ist dabei nicht nur die Stärkung der eigenen Identität und der Abbau von Ressentiments, auch der Tourismus soll davon profitieren. So bietet beispielsweise die staatliche Indigenenbehörde CONADI eine zweimonatige Fortbildung an einer Universität in Kanada an. Diese soll primär dazu dienen, die indigene Identität touristisch zu kontextualisieren. Dabei dienen die "First Nations" in Kanada als anschauliches und vor allem erfolgreiches Beispiel ethnotouristischer Inwertsetzung.

Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass "indigen sein" nicht gleichzusetzen ist mit (technologischer) Rückständigkeit. Telefon, Fernsehen und zahlreiche Internetplattformen dienen zur globalen Kommunikation und zum Informationsaustausch mit anderen Gruppen. Im Haus der Familie Nahuel gibt es zwar keine Dusche, dafür aber ein Mobiltelefon.

Im bisher durch Natur- und Erlebnistourismus gekennzeichneten Angebotsspektrum Chiles werden nun kulturelle Akzente gesetzt. Insbesondere diese Initialphase ethnotouristischer Entwicklung ist für den Forschungskontext von Bedeutung. Die Aushandlungen von Partizipations- und Integrationsstrategien bilden die Basis einer vergleichenden Untersuchung, die im Spiegel einer kulturalistischen Humangeographie versucht, grundlegende Parameter eines solchen Prozesses aufzuzeigen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Übertragbarkeit sollen die Ergebnisse auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit reflektiert werden. Zunehmend unterstützten auch deutsche Organisationen, wie beispielsweise der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) oder die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) Projekte, die einen nachhaltigen Tourismus als Teil der regionalen Entwicklung sehen.

Die Komplexität der Problematik wird am Beispiel der Mapuche deutlich. Diese mit ca. 600.000 Mitgliedern größte indigene Gruppe in Chile hat eine schwierige Position innerhalb der chilenischen Gesellschaft. Die Mapuche werden als kulturelles Aushängeschild Chiles vermarktet, ihr Antlitz findet sich auf Broschüren und Geldstücken, und sie werden immer mehr zu einem Teil der nationalen Geschichtsschreibung und Identität. Gleichzeitig gibt es einen latent spürbaren Rassismus; die ökonomische und soziale Marginalität, Kennzeichen vieler indigener Gruppen, führt zu Konflikten mit der Staatsmacht und einige Mapuche wurden als "Terroristen" zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Insbesondere die jüngere Generation steht vor der schwierigen Wahl, sich entweder weiter in die chilenische Gesellschaft einzuordnen oder die häufig wenig bekannte, eigene indigene Identität anzunehmen und auszufüllen. Gerade auch vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund muss die touristische Entwicklung reflektiert werden, steht doch zu erwarten, dass die Folgen nicht nur die Touristen betreffen.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2006, Seite 26 + 27
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick am 6. November 2006